Klaus Obermeyer: Arbeitsgeschichten
Rezensiert von Prof. Dr. Christian Philipp Nixdorf, 04.09.2023

Klaus Obermeyer: Arbeitsgeschichten. Narrative Zugänge in Beratung, Coaching und Supervision.
Vandenhoeck & Ruprecht
(Göttingen) 2023.
ISBN 978-3-525-40812-4.
D: 15,00 EUR,
A: 16,00 EUR.
Reihe: Beraten in der Arbeitswelt.
Autor
Klaus Obermeyer ist Diplompsychologe, Psychotherapeut, Supervisor, Coach (DGSv), systemischer Berater (DGSF) und Mediator (BMWA). Er ist tätig als selbstständiger Berater, Supervisor und Coach.
Thema
Sprache wirkt. Sie kann uns inspirieren, fesseln und Mut machen. Sprache kann aber auch Angst machen, manipulativ eingesetzt werden und Fehlkommunikation bewirken. Was Sprache leistet, wie ihre Wirkung durch narratives Vorgehen verstärkt werden kann, wie Botschaften in narrative Erzählungen „verpackt“ werden können und warum das eine nachhaltige Wirkmacht entfalten kann, ist Thema des Buches »Arbeitsgeschichten«. Der Fokus liegt dabei auf der Frage, wie und warum Geschichten sich nutzen lassen, um die Arbeit in Beratung, Coaching und Supervision gelingend zu gestalten. Das Werk richtet sich an erfahrene Berater:innen.
Aufbau und Inhalt
Das 2023 bei Vandenhoeck & Ruprecht erschienene Werk hat 132 Seiten und ist in 4 Kapitel unterteilt. Es ist in der Reihe „Beraten in der Arbeitswelt“ erschienen und richtet sich laut Verlagsangaben an „an erfahrene Berater*innen, die Lust haben, scheinbar vertraute Positionen neu zu entdecken, neue Positionen kennenzulernen, und die auch angeregt werden wollen, eigene zu beziehen“ (S. 9).
Im ersten Kapitel nimmt sich der Autor der Bedeutung des Narrativen an. Er postuliert, dass an der Quelle von Beratungsprozessen stets Erzählungen stünden. „Klient*innen erzählen ihren Berater*innen ihre Sicht der Dinge. Und auch im Ausklang der Beratungsprozesse wird erzählt. Dann oft die Geschichte des Beratungsprozesses selbst. Gegenstand dieser bilanzierenden Erzählungen ist dann meist, welche Verwandlung die ursprüngliche Problemerzählung im Verlauf der Zusammenarbeit in der Beratung erfahren hat“, schreibt Obermeyer (S. 11). Oft geschehe es, dass Ratsuchende ihre Erfahrungen unstrukturiert schilderten, ohne über eine Erzählung zu verfügen. Der fragmentierte Bericht korrespondiere oft mit einer Unterbrechung des Handlungsflusses. Aber sobald „eine Erzählung über die krisenhafte, unaufgelöste Situation entsteht, die einen stimmigen Ausgang verheißt, steigen die Chancen für neue Handlungsfähigkeit“, reflektiert Obermeyer (S. 12), der das Erzählen wie auch das Beraten als genuin kommunikatives Handeln hervorhebt.
Er wolle, so schreibt der Autor, mit seinem Werk vor allem Appetit machen. „Appetit auf die reichhaltigen Ressourcen, die sich in Erzählungen über Arbeitserfahrungen für die Beratung offenbaren können“ (S. 13). Er will sensibilisieren für die Bedeutung von Inhalt, Form und Kontext von Erzählungen, da dies in der Beratung ganz neue Verstehens- und Interventionszugänge eröffne. Es gehe ihm indes nicht darum, einen ganz neuen Beratungsansatz zu propagieren, es sei lediglich sein Anliegen, zu eruieren, „wie die in den erzählten Geschichten aufscheinenden Informationen als diagnostische Ressourcen und zur Gestaltung von Interventionen genutzt werden können“ (S. 13). Beratung komme kurzum nie ohne eine wie auch immer geartete Erzählungen aus. Welch unterschiedliche Traditionen in der Beratung diesbezüglich existieren, zeigt Obermeyer in seinem Text auf, indem er Konstitutionsmodi der Psychoanalyse und Narration, das Narrative in der systemischen Beratung sowie auf narrative Zugänge in der Gestaltpsychologie eingeht.
Im zweiten Kapitel beschreibt Obermeyer, welche „Zutaten“ Erzählungen zugrunde liegen, was also deren „Baustoffe“ sind (S. 22 ff.). Erzählungen überbrückten Zeiträume, schildert er. „Gleichzeitig unterteilen sie den breiten langen Fluss der Erfahrung in abgegrenzte, ausgestanzte Episoden und Sequenzen. Sie handeln meist von Vergangenem, gelegentlich auch von Zukünftigem“ (ebd.). Es sei zu fragen, „welche Geschichte erzählt wird, als auch, wie und auf welche Weise dies geschieht“. Dabei lebe jede Erzählung, die sich durch zeitliche und gestalterische Transformation ergebe, von der Aura der konkreten sozialen Situation (ebd.). Narrative beruhten auf Werten und seien mit Stimmungen verbunden, ist Obermeyer überzeugt. Beispielsweise zeige sich dies im Reden „vom »amerikanischen Traum«, vom »nachhaltigen Wirtschaften« oder auch [in] wirkmächtige[n] Stereotypien“ wie der »Subjektivierung der Arbeit«, der »Ökonomisierung des Sozialwesens« oder der Legende vom »tatenlosen Jugendamt« (S. 24).
Immer fände ein bestimmtes »Priming« statt, wobei Narrative komplexen Wirklichkeiten nicht gerecht würden. Sie könnten vielmehr, wie alle Lösungen, selbst zu Problemen werden. Daher gehe es u.a. in Supervision und Coaching „oft darum, solche problemstabilisierenden Narrative in ihrer Wirkmacht zu dekonstruieren und dafür andere ins Bild zu holen, die eine Spur zu neuer Handlungsfähigkeit legen“ (ebd.). Kurzum seien Erzählungen machtvolle Interventionen. Wer erzählt, suche Macht und Einfluss, schreibt Obermeyer bezugnehmend auf Pierre Bourdieu. Dabei könne jeder sprachliche Ausdruck auch als Handlung in der Welt verstanden werden. Die performativen Aspekte des Erzählen verfolgten die Intention, in der Welt einen Effekt zu bewirken, und könnten in dieser Absicht gelingen oder misslingen. Wir könnten fragen, welche musikalische Anmutung eine Erzählung in der Beratung habe und welche Atmosphäre sie schaffe. „Aber auch die von Klient*innen oder Berater*innen gewählten Worte und die in den Erzählungen vermittelten Stimmungen machen einen maßgeblichen Unterschied“, schreibt Obermeyer (S. 29).
Er betont, dass sich narratives Wissen in jedem Fall vom wissenschaftlichen Wissen der Moderne unterscheide. Narrationen (Geschichten) hätten bestimmte Strukturmerkmale wie einen Anfang und ein Ende, sie spielten in bestimmten geografischen Räumen, griffen bestimmte episodische Ausschnitte aus Zeit und Raum auf, rankten um Veränderung und seien am Ende der Geschichte nicht mehr das, was sie am Anfang waren. Der Prozess der Veränderung entfalte sich um Ereignisse herum. Auch „das Assoziieren und fiktionale Weitererzählen erschließen einen Kosmos von Bedeutungen und Entwicklungen. Der Interpretation steht das assoziative Spiel mit den Worten [… als Brücke zum nächsten Einfall gegenüber“ (S. 33). Da narratives Potenzial immer mit Macht verknüpft sei, verpflichte das in besonderem Maß zu verantwortlichen Entscheidungen. Der Anspruch, die eigene sinnlich-ästhetische Berührung für eine kritisch-distanzierte Metareflexion offen zu halten, dürfe nie aufgegeben werden, mahnt Obermeyer (S. 36).
Im dritten Kapitel befasst dieser sich dann mit der Bedeutung von Metaphern. Diese beleuchtet er, so schreibt Obermeyer, „da die Erzählungen der Ratsuchenden und unsere Interventionen als Beratende von Metaphern nur so strotzen. Diese Perspektive lässt sich durchaus bis zu dem Punkt »keine Aussage ohne Metapher« überspitzen“ (S. 42). Metaphern hätten stets komplexitätsreduzierenden Charakter und das Potenzial, sowohl Wahrheit zu offenbaren als auch Wahrheit aus der Welt zu schaffen. „Sie stülpt eine alte, abgenutzte Sprachkonserve aus dem Da und Dort einer einzigartigen und spezifischen Situation im Hier und Jetzt über, um diese dann möglicherweise zugleich treffend zu beschreiben oder aber auch zu verfehlen“ (S. 43). Eine Aussage wie »Ich war vollkommen hilflos« habe es metaphorisch in sich, zumal der Satz impliziere, „dass die Person der Hilfe bedürftig war und zu einhundert Prozent nicht in der Lage schien, bei sich oder anderen Hilfe zu finden“ (S. 45).
Da meist aber doch irgendwelche Handlungsmöglichkeiten existierten, werde deutlich, dass der Satz den Aspekt der Lähmung hervorhebe und den Aspekt der weiterhin denkbaren Handlungsoptionen verberge. Das Wort Lähmung schlage eine Brücke zur metaphorischen Mikroebene, auf der dann jedes Wort als Metapher untersucht werden könne. Eben aufgrund der hohen Wirk- und Gestaltungskraft metaphorischer Sprache verwundere es nicht, dass sie im Alltag von Organisationen als Ressource genutzt werden könnten, schildert Obermeyer. Auch im Rahmen von Fallsupervision werde nichts gesagt, was nicht auch metaphorische Qualität hätte, legt der Autor dar. Es werde hier z.B. auf bildliche Vergleiche Bezug genommen, „wenn wir z.B. sagen, die Beratung »stagniere« (metaphorisches Konzept »Bewegung «) oder wir seien »nicht abgegrenzt« (metaphorisches Konzept »Grenzziehung«)“ (S. 49).
Im vierten Kapitel erklärt der Autor bezugnehmend auf die Theorien des »Embodiments«, wie auch rekurrierend auf Framing-Konzepte, dass Sprache und Körper in einem triangulären Verhältnis zur Welt stünden. Worte brächten, so Obermeyer, „in uns vielschichtige Konstellationen abgespeicherter Erfahrungen, Informationen und von Handlungsimpulsen ins Schwingen. »Um Worte zu begreifen, aktiviert unser Gehirn ganze Vorratslager abgespeicherten Wissens – zum Beispiel Bewegungsabläufe, Gefühle, Gerüche, visuelle Erinnerungen – und simuliert diese Dinge gedanklich« (Wehling, 2016, S. 20)“ (S. 52.). Sämtlichen Worten wohne eine Bewegungs- und Handlungssuggestion inne.
„Wenn wir von Temperaturen, Gewichten, Farben oder rauen bzw. glatten Oberflächentexturen sprechen (z.B. »leichte, reibungslose Verhandlungen«), so sind damit weite Erlebniswelten angesprochen, die dann unwillkürlich und unmittelbar als komplexe Lebensgefühle bei den Sprecher*innen und Empfänger*innen anklingen (vgl. Lobel, 2015)“, gibt der Autor zu bedenken (S. 54). Er schildert, dass das Konsequenzen für die Beratung insofern habe, als Sprache nicht nur in ihrer leiblichen Grundlegung ernst genommen werden müsse, sondern „auch in ihrem leibbezogenen und physiologischen Stimulierungspotenzial“ (S. 55). Die Worte erwüchsen aus der Physiologie des Leibes, d.h. der jeweilige körperliche Status führe „zu spezifischen sprachlichen Dispositionen“, meint Obermeyer (S. 56), der zudem ergänzt: „Wenn wir nicht gerade an Wortfindungsstörungen leiden, erwächst unser Redefluss in der Regel ohne angestrengte Überlegung spontan aus den Nährböden unserer leiblichen Anmutungen“ (ebd.). Kein Wort könne „ohne die Physis des Leibes und ohne Verbindung zum Kosmos der verkörperten Erfahrung gesprochen werden“ (S. 56 f.).
Bezugnehmend auf Niklas Luhmann, Karl Weick, Gareth Morgan u.a. (vor allem Organisationssoziolog:innen) befasst Obermeyer sich im fünften Kapitel dann mit narrativen Organisationstheorien. Er beginnt das Kapitel mit der – von ihm selbst als überspitzt bewerteten – These, dass Organisationen aus Geschichten bestünden. Bei der Beratung von und in Organisationen gehe es „weniger um spitzfindige Tricksereien als um geduldiges Werben um Kooperation und gemeinsame Welterzeugung“ (S. 61), erklärt der Autor. Vieles spreche dafür, „dass sich die mikropolitischen, machtregulierenden Prozesse in Organisationen auch auf Erzählungen stützen“ (S. 62). Mythen, Witze, Klatsch, Gerüchte, Verschwörungstheorien und Intrigen seien relevante Größen auf der Hinterbühne der Organisationen. Sie könnten in der Beratung aufgegriffen werden.
Denn: „Menschen in Organisationen speichern und gestalten ihre Erfahrungen durch Erzählungen. Diese bilden ein Geflecht an Bedeutungen, das – wenn auch nicht zu jeder Zeit sichtbar – doch sehr nachhaltig eingrenzt, was in Organisationen als wirklich und wahrhaftig gelten kann“, beschreibt Obermeyer (S. 62). Vor allem Erzählungen, die sich um die Gründung einer Organisation rankten, seien oft langlebig. Auch existierten in Organisationen Narrative in Form von Geschichten über die Zukunft. Diese hätten „besondere Kraft, wenn es um Sinnerleben und Motivation oder die Attraktivität der Produkte geht. So liegt es nahe, dass die Erfindung und die Verbreitung von Zukunftsgeschichten in Form von »Mission Statements«, »Leitbildern«, »Leuchtturmszenarien« zu einer Kardinaltugend von Organisationsentwicklung und Management gezählt werden“ (S. 63).
Zudem prägten Geschichten über Erfolg und Misserfolg, Geschichten über Macht und Status, Geschichten über Sicherheit und Verunsicherung und Geschichten über Arbeit die Kommunikation und Kultur in Organisationen. Sie hätten Bedeutung für die Beratung, erläutert der Autor. Alle Menschen hätten divergierende Vorstellungen darüber, was Organisationen im Kern ausmachten. All diese Vorstellungen seien narrativ strukturiert, ist Obermeyer überzeugt. Menschen in Organisationen seien umgeben von bedeutungsstiftenden Erzählungen, die ihr Fühlen, Handeln und Denken prägten. „Die Erzählungen der einzelnen Organisationsmitglieder werden also entweder eher im Einklang mit den organisationstypischen Erzählungen oder in einer spannungsreichen Dissonanz zu diesen stehen. Diese Spannungsverhältnisse sind in der Beratung spürbar und zu beachten“ (S. 69). Archetypische Erzählmuster über Arbeitserfahrungen fokussiert der Autor im sechsten Kapitel. Die Literaturwissenschaften hätten „verschiedene grundlegende oder archetypische Erzählmuster identifiziert, die immer wieder auftauchen und in gewisser Weise einen unwiderstehlichen Reiz entfalten“ (S. 72).
Dazu zählten die bereits in der Antike verbreitete dreiaktige Erzählstruktur von Initiation, Konfrontation und Resolution ebenso wie die die „Heldenreise“, die schon in mittelalterlichen Epen nachvollzogen werden könne und bis heute Grundlage vieler Erzählungen sei. Arbeitserzählungen und deren Transformation in Supervision und Coaching trügen „viele Züge des Heldenreiseplots“, ist Obermeyer überzeugt (S. 74). Supervision und Coaching würden „von Fall zu Fall an jeweils unterschiedlichen Passagen der kleinen oder größeren Heldenreisen anknüpfen, um die jeweiligen spontanen Varianten der Erzählung zu überschreiben“ (S. ebd.). Kurzum folge das narrative Material in Supervision und Coaching oftmals wiederkehrenden Plotstrukturen. Ihm selbst begegneten in seiner Arbeit besonders häufig solche in Form von Anklageschriften, Erzählungen von Schuld und Scham, Revolten, Stagnationsfiguren, Abenteuergeschichten, Passionswege, Romanzen, Entdeckungs-, Grusel-, Trauer- und Erlösungsgeschickten, Eulenspiegeleien sowie Heldenerzählungen und Sowohl-als-auch-Geschichten. Was darunter jeweils zu verstehen sei, beschreibt Obermeyer im Text.
Warum Ästhetik ein Gütekriterium von Beratung ist, reflektiert der Autor dann im siebten Kapitel. Er gibt zu bedenken, dass es zunächst skurril erscheinen könne, „aber viele Sequenzen in der Beratung beziehen ihre Wirkmacht aus einer ästhetischen Dimension“ (S. 83). Wir versuchten, so schreibt Obermeyer in Anlehnung an den Ethnologen Stephen Tyler, „eine »ästhetische Integration von therapeutischer Wirkung zu erzielen« (1991, S. 194). »Therapeutisch« wäre hier wohl in dem Sinn zu verstehen, dass wir Darstellungsformen suchen, die in einer Weise als stimmig und evident erlebt werden, dass ihnen kathartisches Potenzial zuwächst“ (S. 86). Ästhetische Erfahrungen erfüllten dabei psychische und soziale Funktionen. Sie könnten „als rituell wiederkehrendes Erleben“ fungieren, „sei es nun in Theatern, bei Kirchgängen oder dem sonntäglichen »Tatort«-Fernsehritual“ (ebd.). Dabei könnten sie dazu beitragen, „Gesellschaften oder auch die seelische Verfassung Einzelner zusammenzuhalten“ (ebd.). Gleichzeitig könnten ästhetische Erfahrungen aber auch verunsichern und Angst machen. „Sie könnten außer Kontrolle geraten“, was ein Grund mehr sei, „ästhetische Erfahrungen mit einem sicheren Rahmen auszustatten“ (ebd.).
Er selbst mache die Erfahrung, schreibt der Autor, dass Beratende „mit ihrem je eigenen individuellen professionellen Habitus auch einen gewissen – zum Teil unverwechselbaren – ästhetischen Stil entwickeln“ (S. 87). Die Beratungssituationen würden durch den ästhetischen Stil der Beratenden „eher optimistisch oder pessimistisch, eher in hellen oder dunkleren Farben, eher strukturiert oder bewegt bis chaotisch, gegenständlich-bildhaft oder abstrakt gestaltet sein“ (ebd.). Beratende seien mit „ihrer individuellen Ästhetik in bestimmten Kontexten erfolgreich. Anderswo verfehlt ihr Habitus die Passung und es stehen sich Stile und Erfahrungswelten gegenüber, die nur schwer miteinander kreativ werden können“, erklärt Obermeyer (ebd.). Daher sei es, statt nach »exzellenten« Beratenden zu suchen, ggf. angemessener, über Passung nachzudenken, meint der Autor. Wenn sich Klient:innen „systemische, agile, psychodynamische, psychodramatische oder anders grundierte Berater*innen wünschen“, sei damit in der Regel „auch ein bestimmter ästhetischer Erwartungshorizont verbunden“ (S. 88).
Die ästhetische Wirkung einer Erzählung habe mitunter eine gnädige, „oft aber eher tragische und riskante Charakteristik, sich weitgehend autonom vom transportierten Inhalt und von den Absichten der Sprecher*innen entfalten zu können“, führt Obermeyer aus. Die ästhetische Erfahrung sei somit janusköpfig, denn sie erhelle und verblende oftmals gleichermaßen. Er selbst ertappe sich dabei, bestimmte Denkfiguren, die er möge, immer wieder zu bemühen, meint der Autor. Das aber könne auch ins Auge gehen und kraftlos bleiben, schreibt er selbstkritisch. Auch die eine oder andere Methode – z.B. aus dem Kanon der Aufstellungen – „kann kurzfristigen ästhetischen Reiz entfalten und gleichzeitig jedwede transformative Kraft außerhalb des Beratungssettings verfehlen“ (S. 89).
Im achten Kapitel befasst Obermeyer sich dann mit der Vielstimmigkeit der Erzählsituation. Er beginnt das Kapitel mit einem Verweis darauf, dass Erzählungen in Beratungskontexten soziale Ereignisse seien. Diese wüchsen metaphorisch gesagt „auf dem Acker einer konkreten sozialen Situation und sind nur in diesem Kontext gut zu verstehen“ (S. 93). Hinzu komme, dass die Sprache selbst, ein soziales Gebilde sei. „Jeder Ort hat seine Sprachen und die Sprache selbst ist lebendig und einem fortgesetzten Wandel unterworfen“, schreibt Obermeyer, bevor er auf das Konzept der Vielstimmigkeit zu sprechen kommt, das ursprünglich in der Musik beheimatet und vom Linguisten Michail Bachtin in eine Theorie der sprachlichen Polyphonie importiert worden sei. Zentrale These dieser Theorie sei „die Annahme, dass die Urheberschaft einer Äußerung uneinheitlich sein kann und deren Bedeutung oftmals durch die Fragmentierung von Sprechperspektiven geprägt“ ist.
Das Wesen der Polyphonie bestehe darin, dass die Stimmen selbstständig blieben und als solche in eine Einheit höherer Ordnung aufgingen. Sowohl die intersubjektive als auch die intrasubjektive Vielstimmigkeit seien „konstituierender Baustoff jedweden Gesprächs“ (S. 94). Äußerungen seien „nie für sich allein zu verstehen, sondern Teil einer Kette von Äußerungen, in der jedes Glied der Kette auf vorhergehende und zukünftige Äußerungen bezogen ist“ (S. 95). Jede Rede greife mittels tradierter Worten „scheinbar stabile Bedeutungen auf, die schon lange kursieren, und fügt diesen in der Einmaligkeit der konkreten dialogischen Situation doch etwas Neues hinzu“ meint Obermeyer (ebd.).
Die Adressat:innen der Sprache seien es, die dem Gehörten ihre eigene Prägung geben. Im Kern gehe es bei narrativer Beratung um das von Statik und Veränderung in der Sprache. Jede Äußerung sei angeregt durch das im sozialen Kontexten vorhergehend Gesagte und wirke ein auf nachfolgenden Äußerungen. Der Sinn von Worten ändere sich im intersubjektiven Austausch des Gesprächs. Auch Fall- und Problemerzählungen in Beratungssituationen seien als komplexe soziale Kreationen zu verstehen. „Sprecher*innen knüpfen in ihrer Rede feine Fäden zu ihren Zuhörer*innen und sind im Verfertigen ihrer Rede auch schon immer durch diese feinen Fäden gelenkt“, schreibt Obermeyer (S. 98).
Im letzten Kapitel bezeichnet der Autor das Beratungssystem metaphorisch als poetische Werkstatt, in der es um die Erzeugung narrativer Kompetenz gehe, die benötigt werde, um das Gehörte in Erzählungen umzusetzen. Erkenntnisleitend ist hier die Fragestellung, wie wir Worte finden und eine Qualität des Dialogs sicherstellen können, „um unsere Probleme und Lösungsversuche in einer Weise zu beschreiben, in der sich alle Beteiligten aufgehoben fühlen“ (S. 104). Gute Beratung trage dazu bei, „den erzählerischen Möglichkeitsraum so weit wie möglich aufzuspannen und eine gedeihliche Neuerzählung zu ermöglichen“, schreibt Obermeyer (S. 106), der sich dann der Frage widmet, welche konkreten Optionen Beratende hätten, um den Prozess der Neuerzählung zu befördern. Der Autor geht u.a. auf Aspekte wie Evidenz, Achtsamkeit, Anschlussfähigkeit, Vielsinnigkeit, Vernetzung, Ausgleich, Tapferkeit, Ambivalenz, Konkretisierung und Gelassenheit im Umgang mit Unsicherheit und Ambiguität ein. Was darunter jeweils zu verstehen sei und welche Bedeutung dem in der Beratung zukomme, wird erläutert.
Diskussion
Was ist von dem Buch nun zu halten? Der Rezensent hat dazu den folgenden Eindruck gewonnen:
Das Werk ist enorm informativ. Auf gerade einmal 120 Seiten Text bringt der Autor eine enorme Fülle an Informationen und Verweisen auf weitere Fachliteratur unter, sodass die Lektüre eine potenziell hohe Erkenntnisdichte verspricht. Erkenntnisse aus der Sprachwissenschaft, Psychologie, Philosophie und Soziologie werden seitens des Autors vorgestellt und vor dem Hintergrund ihrer Bedeutung für das Narrative in Beratungs-, Supervisions- und Coaching-Settings thematisiert. Die Brücke zur beraterischen Praxis wird dadurch geschlagen, dass der Autor am Ende jedes Kapitels die Relevanz des Dargelegten am Beispiel einer Supervisionssitzung erläutert, in welcher die Sozialarbeiterin Frau Mahn von ihrer Sorge um die Kinder einer Familie berichtet, für die sie eine sozialpädagogische Familienhilfe durchführt.
Der Nutzen eines narrativen Vorgehens wird mittels Rekurs auf das Fallbeispiel der Frau Mahn gut deutlich. Was genau sich aus den Schilderungen des Autors jeweils konkret für die Praxis ziehen lässt, wird anhand dieser Beispielsupervision dargelegt. Dadurch wird deutlich, wie und warum narrative Zugänge behilflich sein können, Beratungsprozesse – und ganz generell jedwede Kommunikation – gelingend zu gestalten. Diese Bezugnahme auf die Praxis am Ende der Kapitel ist essenziell und didaktisch geschickt, um Transferwissen zu erzeugen. Hätte es diesen in jedem Kapitelteil vorkommenden Schwenk hin zur Praxis nicht gegeben, wäre das Buch für viele Leser:innen mit Sicherheit eine Überforderung, da viele der Schilderungen eher theorielastig sind und der Autor sich inhaltlich wie sprachlich auf einem hohen akademischen Niveau bewegt.
Das Werk liest sich denn auch eher wie ein zwar knapp gehaltenes, aber dennoch wissenschaftlich fundiertes Fachbuch als wie einen Praxisratgeber. Das bringt es mit sich, dass das Werk trotz der Bezugnahme auf das Fallbeispiel der Frau Mahn für beratungsunerfahrene Leser:innen herausfordernd sein kann. Um die Darlegungen aus dem Buch ins eigene Beratungshandeln integrieren zu können, ist ein gewisses Maß an Vorerfahrung und Beratungsroutine nötig. Das Buch ist daher trotz seiner Kürze aus Sicht des Rezensenten kein Einführungswerk. Novizen der Beratung, die das Buch mit der Intention erwerben, daraus praktische Hinweise für die Nutzung narrativer Zugänge in Beratung und Supervision zu ziehen, könnten mit der Lektüre schlichtweg überfordert sein. Erfahrenen Beratenden dagegen erschließt sich ein Strauß an potenziell nützlichen sprachlichen „Tools“, um die sie ihr methodisches Repertoire ergänzen können.
Der Eindruck des Rezensenten ist, dass der Autor die Frage, wie und warum Geschichten im Beratungsprozess geeignet sind, die Interaktion zu befördern, stärker aus wissenschaftlicher als aus beratungspraktischer Perspektive heraus beleuchtet. Der Transfer des Geschriebenen hin zur Praxis erfolgt zwar beispielhaft, die theoretische Reflexion bildet aber den Schwerpunkt des Werkes. Der Theoriefokus zeigt sich auch darin, dass das Literaturverzeichnis 7 ½ Seiten umfasst, was in Anbetracht der Kürze des Buches sehr umfangreich ist. Es geht im Text oft darum, warum ein narratives Vorgehen in Beratung, Coaching und Supervision Zugänge erschließen kann und welche Personen aus Soziologie, Philosophie, Sprachwissenschaft und Psychologie sich mit den jeweiligen Themenkomplexen befasst haben, die dem zugrunde liegen.
Die Fokussierung auf die Praxis des Geschichtenerzählens im Sinne dessen, wie Beratende es konkret zur Anwendung bringen (können), ist zwar vorhanden, aber insgesamt wenig stark ausgeprägt. In der Gesamtschau ist zu sagen, dass der Rezensent die Lektüre als anregend empfand und einige interessante Erkenntnisse daraus mitnehmen konnte. Für ihn war das Buch klar lesenswert. Beratungserfahrene Leser:innen, die ein Faible für die Macht der Sprache haben, dürften an dem anspruchsvollen Werk in Folge der dichten Beschreibungen über Sprachnutzung, -wirkung, -metaphorik und -framing ihre Freude haben. Für Beratungsanfänger:innen, die eine klare(re) Handlungsanleitung für die eigene Beratungspraxis benötigen, finden sich im Programm des Verlages Vandenhoeck & Ruprecht indes einige Titel, die diesem Bedürfnis besser Rechnung tragen.
Fazit
Klaus Obermeyer hat ein informatives, dichtes Werk auf hohem sprachlichen und inhaltlichen Niveau vorgelegt. Erfahrene Berater:innen, Coaches und Supervisor:innen, die an einer reflexiven Auseinandersetzung mit narrativen Zugängen zu beraterischen Interaktionskontexten interessiert sind, können von der Lektüre profitieren.
Rezension von
Prof. Dr. Christian Philipp Nixdorf
Sozialwissenschaftler, Diplom-Sozialarbeiter/-pädagoge (FH), Sozial- und Organisationspädagoge M. A., Case Management-Ausbilder (DGCC), Systemischer Berater (DGSF), zertifizierter Mediator, lehrt Soziale Arbeit und Integrationsmanagement an der Hochschule der Wirtschaft für Management (HdWM) in Mannheim.
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Zitiervorschlag
Christian Philipp Nixdorf. Rezension vom 04.09.2023 zu:
Klaus Obermeyer: Arbeitsgeschichten. Narrative Zugänge in Beratung, Coaching und Supervision. Vandenhoeck & Ruprecht
(Göttingen) 2023.
ISBN 978-3-525-40812-4.
Reihe: Beraten in der Arbeitswelt.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30547.php, Datum des Zugriffs 30.09.2023.
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