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David Wengrow: Was ist Zivilisation?

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 19.10.2023

Cover David Wengrow: Was ist Zivilisation? ISBN 978-3-608-98661-7

David Wengrow: Was ist Zivilisation? Die Zukunft des Westens und der Alte Orient. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2023. 240 Seiten. ISBN 978-3-608-98661-7. D: 25,00 EUR, A: 25,70 EUR.

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Frühe und spätere, aktuelle, globale Zivilisationen

Das Schicksal Europas ist untrennbar mit dem Nahen Osten verbunden. Es sind die positiven und negativen politischen Entwicklungen, die Errungenschaften, Krisen und Kriege, die Weltanschauungen, Kultur- und Handelsbeziehungen, die semantisch und zivilisatorisch sogar von der Einheit „Eurasien“ sprechen lassen. Historisch und anthropologisch bewirkten die sich über Jahrtausende hinziehenden, staatenbildenden und ökonomischen Entwicklungen Wirklichkeiten, die besondere, zivilisatorische Formen schufen, wie kapitalistische und sozialistische Verfasstheiten und Abhängigkeiten. Die Frage – „What Makes Civilization?“ – ist nur seriös und wirklich zu beantworten, wenn wir uns historisch und reflexiv auf die „Anfänge“ besinnen (David Graeber <+>/David Wengrow, Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit, 2022, www.socialnet.de/rezensionen/​29159.php). Deutlich und nachweisbar wird dabei, dass die hierarchischen Kräfte sowohl im „Alten Orient“, als auch im „Alten Europa“ nicht friedlichen Zusammenhalt förderten, sondern machtvolle Inbesitznahme, Ausbeutung von Naturschätzen und Unterwerfung vollzogen.

Der Autor

Der Archäologe, Anthropologe und Vertreter der „World Archaelogy“, David Wengrow, lehrt und forscht an der Universität London. 2023 hat er die Albertus-Magnus-Professur an der Universität Köln inne. In dem bereits 2010 im Verlag Oxford University Press erschienem Buch „What Makes Civilization?“ zeigt der Autor die historischen, gesellschaftspolitischen, zivilisatorischen Missverständnisse und Miss-Entwicklungen auf, beginnend im mesopotamischen „Kessel der Zivilisation“, bis hin zu den „zivilisatorischen Krisen“ in Europa.

Aufbau und Inhalt

Die aktualisierte Fassung in deutscher Sprache beginnt der Autor mit der Einleitung, indem er die gesellschaftspolitischen Entwicklungen in der globalisierten Neuzeit in vorderasiatischen Raum thematisiert: Vom „Asiatischen Frühling“ bis hin zum „organisierten Fundamentalismus“ und der „ISIS-Kämpfer“. Der Blick zurück auf das Alte Reich Ägyptens und auf das frühdynastische Mesopotamien lässt „die Anfänge eines Prozesses erkennen, der letztendlich zu den massiven Versorgungsketten und schwerfälligen Infrastrukturen der modernen Zivilisation führt, zusammen mit den krassen Ungleichheiten“. Wengrow gliedert seine Analyse in zwei Teile und mehrere Kapitel: Im ersten Teil informiert er über den „Kessel der Zivilisation“, indem er die hierarchischen und kulturellen Entwicklungen darstellt – mit der Erfindung der (Keil-)Schrift, bis hin zu den agrarwirtschaftlichen Zucht- und Anbaumethoden auf den fruchtbaren Schwemmlandböden und Handelsstraßen: der „fruchtbare Halbmond“ als Kreuzung von Afrika und Eurasien. Zivilisatorisch entstanden neue Weltsichten und Geschmacksrichtungen, die den ökonomischen Konsum befeuerten. Das rurale Leben der Menschen entwickelte sich zum urbanen, städtischen. Der Bronzeguss und das Schmiedehandwerk beförderten Götter- und Ahnenkulte, Mythen, Mythologien und Hierarchien. Den zweiten Teil titelt der Autor als „Das Vergessen des Ancien Régime“. Seine Feststellung – „Antike und Moderne sind aus demselben Holz geschnitzt“ – führt hin zum Vergleich zwischen dem „Alten Orient“ und dem „modernen Westen“. Dabei gerät er nicht ins utopistische oder fantasierende Spekulieren, sondern zeigt auf, dass die europäischen Forscher und „Entdecker“ überwiegend mit „politisch subversiven Absichten“ unterwegs waren. Die mit dem amerikanischen Unabhängigkeitskrieg beginnenden und der Französischen Revolution vollzogenen zivilisatorischen Veränderungsprozesse vom Ende der „dynastischen Reiche“, hin zu demokratischen Volksherrschaften, ist nicht vollendet, wie die aktuellen Konflikte, Gewaltherrschaften und Kriege zeigen.

Diskussion

Die Studie „Was ist Zivilisation?“, 2023 als deutsche Erstausgabe erschienen, richtet den Blick zurück in die Vergangenheit des eurasischen Raumes, im Bewusstsein, das vergangenes Zivilisatorisches nur wahrhaftig thematisiert und erforscht werden kann, wenn die Zeitachsen des Gegenwärtigen und Zukünftigen bestimmend bleiben. Gegenwart und Zukunft denken, das sind intellektuelle Herausforderungen. Von Ken Follett stammt die Erkenntnis, dass jede Zeit eine Zeit des Wandels ist. Und der Philosoph von der Universität in Oxford, William MacAskill, plädiert dafür, langfristig zu denken, um ein humanes Überleben der Menschheit möglich zu machen (William MacAskill, Was wir der Zukunft schulden. Warum wir jetzt darüber entscheiden, ob wir die nächsten Million-Jahre positiv beeinflussen, Siedler-Verlag, München 2023, 445 S.).

Auf 16 Seiten werden zahlreiche Farbabbildungen eingefügt. Im Anhang wird ein chronologischer Überblick über die Menschheitsgeschichte vermittelt. Auf 20 Seiten wird für die einzelnen Kapitel weiterführende Literatur aufgeführt, die intensive und weiterführende Studien ermöglichen. Das alphabetische Register bietet die Chance, die wissenschaftliche Arbeit auch als Handbuch heranzuziehen.

Fazit

Die meisten, globalen Gesellschaften prägen Leitprinzipien wie menschenwürdig, gut, in Frieden, gleichberechtigt und in einer humanen Weltordnung zu leben. Dass dies bisher nicht gelungen ist, macht weiterhin zivilisatorische Anstrengungen notwendig.

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 19.10.2023 zu: David Wengrow: Was ist Zivilisation? Die Zukunft des Westens und der Alte Orient. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2023. ISBN 978-3-608-98661-7. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30551.php, Datum des Zugriffs 18.01.2025.


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