Daniel Vitecek: Der Wiener Narrenturm
Rezensiert von Vienna Schepperle, 09.08.2023

Daniel Vitecek: Der Wiener Narrenturm. Die Geschichte der niederösterreichischen Psychiatrie von 1784 bis 1870.
Springer
(Berlin) 2023.
446 Seiten.
ISBN 978-3-658-39049-5.
D: 65,41 EUR,
A: 71,95 EUR,
CH: 77,50 sFr.
Reihe: Medizin, Kultur, Gesellschaft.
Thema
Im vorliegenden Buch wird die Geschichte der Niederösterreichischen Psychiatrie detailliert und anschaulich erzählt. Insbesondere beschäftigt sich das Buch mit dem Wiener Narrenturm. Das Buch beleuchtet die Entstehung des Narrenturms, die Zustände und Entwicklungen während des Betriebs im Narrenturm und das Ende der Versorgung der Patient:innen im Narrenturm und die damit einhergehende Reformierung der niederösterreichischen Psychiatrie.
Entstehungshintergrund
Vor dem Hintergrund, dass der Wiener Narrenturm vor allem mystifiziert und mit Legenden in Verbindung gebracht wird, ist es Daniel Vitecek ein Anliegen ein Bild des Wiener Narrenturms zu zeichnen, welches von geschichtswissenschaftlichen Erkenntnissen geleitet ist. Vitecek wolle dem unerforschten Turm die Chance geben sich in einem neuen Licht zu präsentieren, gleichzeitig lässt Vitecek zu Beginn offen, ob dieses neue Licht überhaupt existiert, oder ob die dunklen Vorannahmen zum Narrenturm, durch wissenschaftliche Erkenntnisse gestützt werden.
Aufbau
Das Buch gliedert sich in 15 Kapitel und 6 Anhänge. Zudem umfasst das Buch ein Namensverzeichnis. Jedes Kapitel wird durch Unterkapitel strukturiert und am Ende eines jeden Kapitels finden sich die Literaturangaben für das jeweilige Kapitel.
Inhalt
Im ersten Kapitel werden die Leser:innen thematisch zum Wiener Narrenturm hingeführt. Es wird grundlegend geklärt, dass sich das Buch mit allen öffentlichen Gesundheitseinrichtungen für Menschen mit psychischen Störungen im damaligen Erzherzogturm Österreich unter Enns, also den heutigen Bundesländern Wien und Niederösterreich, beschäftigt. Die Zeitspannen, in der sich die Erforschung der Einrichtungen bewegt, entspricht dem Betriebszeitraum des Wiener Narrenturms. In der Einleitung beschreibt der Autor in Kürze die Grundzüge der Entwicklung der Psychiatrien in Niederösterreich. Der Autor erklärt in der Einleitung zudem, weshalb er im Buch den Begriff des ‚Irreseins‘ verwendet. Der Begriff sei ein Sammelbegriff und sei nicht gleichbedeutend mit modernen Begrifflichkeiten wie ‚psychische Störung‘. In der vorliegenden Rezension wird der Begriff des ‚Irreseins‘ ebenfalls verwendet, um eine unreflektierte Reproduktion zu vermeiden, wird der Begriff in Anführungszeichen gesetzt. Vitecek geht in der Einleitung zudem auf die Ausgestaltung der Wiener ‚Irrenanstalt‘ ein und verweist auf eine Strukturierte Darstellung der Entwicklung anhand eines Zeitstrahls, welcher sich im Anhang des Buchs befindet.
Das zweite Kapitel thematisiert die Entwicklung der Versorgung von als ‚Irre‘ etikettierten Personen, vor der Zeit des Wiener Narrenturms. Vitecek verfolgt in diesem Kapitel die Frage, ob der Wiener Narrenturm tatsächlich als ‚Morgendämmerung der psychiatrischen Heilkunde‘ angesehen werden kann. Um dieser Frage nachgehen zu können schildet Vitecek zunächst die Entwicklung des Kranken- und Armenwesens im 18. Und 19. Jahrhundert, worunter auch die Versorgung der ‚Irren‘ fiel. Es werden verschiedene Einrichtungen aufgezeigt und voneinander abgegrenzt. An dieser Stelle wird deutlich, dass ‚Irre‘ auch bereits vor dem Wiener Narrenturm in Einrichtungen unterkommen konnten. Beispielsweise stellte das Wiener Bürgerspital, damals noch sogenannte, Zellen für betroffene Personen bereit. In den Versorgungshäusern wurden betroffene Personen auch aufgenommen, jedoch mussten hierfür bestimmte Voraussetzungen erfüllt werden. Auch soll es private Einrichtung zur Verwahrung von ‚Irren‘ gegeben haben. Heutzutage ist über diese privaten Einrichtungen nur wenig bekannt. Eine der privat geführten Einrichtungen soll von einem Arzt geleitet worden sein, welcher betroffene Personen einsperrte und nicht selten auch folterte und tötete. Es soll auch passiert sein, dass Personen durch eine List ihres Umfelds in die Einrichtung gezwungen wurden, und die unliebsame Person so einfach aus dem eigenen Leben verbannt werden konnte. Einer Erzählung nach soll dies einem Angehörigen des Adels auch passiert sein, dieser konnte aus dem ‚Todeshaus‘ jedoch entkommen.
Nach seiner Flucht soll sich die Person an Kaiser Joseph II gewandt haben, welcher daraufhin eine Reformation der Wiener Psychiatrie iniziierte. Auch vor dem Wiener Narrenturm soll es bereits Ärzte gegeben haben, die der Überzeugung waren, dass Menschen mit psychischen Störungen behandelt werden können und nicht als unheilbar gelten. Vitecek erläutert den Krankenhausentwurf von dem Arzt Johann Peter Fauken. Auf Grundlage dieser Ereignisse und Gegebenheiten und dem Wunsch nach einer möglichst gesunden Bevölkerung, gab Joseph II sogenannte ‚Direktiv- Regeln‘ heraus. Diese sollten fortan die Wiener Wohlfahrt neu regeln. Die Versorgung der Armen und Irren wurden in diesen Anordnungen stark vernachlässigt und so sollte zunächst ein Allgemeinkrankenhaus erbaut werden. Die Zentralisierung der Krankenversorgung sei von angesehenen Medizinern durchaus kritisch beäugt worden. Joseph II hielt an dieser Idee jedoch fest. Er zählte ‚Irre‘ zur Gruppe der ‚ekelhaften Personen‘ und hatte große Angst, dass sich der Kontakt zwischen ‚Irren‘ und schwangeren Frauen auf das Ungeborene negativ, z.B. in Form von Missbildungen oder Fehlgeburten, auswirken. Hier zeigte sich also die Ambivalenz Josephs II: Zum einen wollte er ein Ort für ‚Irre‘ schaffen, an dem sie nicht gefoltert und getötet werden. Zum anderen sollten Sie keine Gefahr für den Rest der Bevölkerung darstellen.
Als Grundlage der Gesundheitsreform wurden alle Personen, die nicht krankt waren aber in Wiener Spitälern untergebracht waren vor die Wahl gestellt, ob sie aus den Spitälern ausziehen und dann weiterhin finanzielle Unterstützung zum Lebensunterhalt bekommen oder, ob sie in ein Versorgungshaus, welches fortan nur noch für arme und alte Personen zuständig war, umgesiedelt werden. 1784 eröffnete schließlich das Allgemeine Krankenhaus, welches ursprünglich aus fünf verschiedenen Anstaltsteilen bestand:
- Krankenabteilung für Frauen und Männer
- Geburtsklinik
- Irrenanstalt im Narrenturm
- Siechenhaus Am Almersbach (Armenversorgung)
- Waisen- und Findelanstalt
Zwar konnte ein kleiner Anteil des neuen Zentralkrankenhauses die Armenversorgung vertreten, dies reiche jedoch nicht für die Versorgung aller hilfsbedürftigen Personen in Wien aus. Zudem wurde das Ziel Josephs II die Gesundheit der Bevölkerung zu fördern, verfehlt. Das Zentralkrankenhaus verzeichnete einen massiven Anstieg in der Sterblichkeitsrate der Patient:innen. Die Zustände waren untragbar und so schrumpfte der fünfteilige Aufbau auf drei Kernbereiche zusammen. Schließlich konzentrierte sich das Allgemeinkrankenhaus auf die Versorgung von Kranken, ‚Irren‘ und Gebärenden. In den ersten Jahren war das Allgemeinkrankenhaus geprägt von Seuchen und mangelnde Sorgfalt in der Versorgung der Kranken. Dies kann in Teilen auf den Personalmangel zurückgeführt werden, welcher aus ökonomischen Interessen bewusst herbeigeführt wurde. Das alles führte zu einem eher schlechten Ruf des Allgemeinkrankenhauses. Hier schließt sich auch die Argumentationskette Viteceks und die anfängliche Frage kann differenziert beantwortet werden. Denn erst nachdem sich das Allgemeinkrankenhaus ärztliche Expertise auf einen Ort konzentrierte und sich mit der Universität zusammenschloss, kam es zu einem Wechsel in der Qualität und der öffentlichen Wahrnehmung des Wiener Allgemeinkrankenhauses und somit auch des Narrenturms.
Das dritte Kapitel ist ein Bildteil. Es werden Bilder gezeigt und erklärt, die das vorherige Kapitel auch visuell abrunden. So wird den LeserInnen beispielsweise anhand von Lageplänen veranschaulicht, wie die Krankenversorgung in Wien räumlich aufgeteilt war. Auch wird der Narrenturm an sich vertieft dargestellt, mittels eines Grundrisses. Unter jedem Bild findet sich eine ausführliche Erklärung und vertiefende Informationen zum jeweiligen Bild. Es werden bauliche Merkmale des Narrenturms in diesem Kapitel näher beschrieben.
Nach einer visuellen Hinführung im dritten Kapitel, widmet sich das vierte Kapitel des Werks der Gestaltung des Narrenturms. Der Narrenturm ist ein fünfstöckiger, kreisrunder Turm, welcher im Inneren verwinkelt gestaltet wurde. Weshalb die Versorgung der ‚Irren‘ in einem Turm und nicht in einem eckigen Gebäude geplant wurde, ist bis heute nicht bekannt. Der Turm soll eher kurzerhand entstanden sein. Vitecek stellt vier gängige Antworten auf die Frage, weshalb ein Turm gebaut wurde und nicht einfach ein eckiger Anbau an das Allgemeinkrankenhaus für die Versorgung der ‚Irren‘ vorgesehen war, vor. So könnte der Narrenturm ähnlich wie ein Gefängnis dazu dienen, die PatientInnen aus der Gesellschaft zu entfernen und abzuschotten. Eine Verbindung zum Allgemeinkrankenhaus wäre in dieser Denkweise nicht sinnvoll gewesen und hätte eine zu enge Verbindung zwischen Gesellschaft und ‚Irren‘ ermöglicht. Ein weiterer Erklärungsversuch nimmt an, dass im Turm auf engstem Raum viele Personen Platz fanden. Vitecek stellt in Frage, dass ein solcher Grund tatsächlich verantwortlich für die Bauart war, denn auch in eckigen Gebäuden könnten viele Personen Platz finden. Manche Erklärungsversuche gehen davon aus, dass die Architektur des Turmes auf okkulte Zahlenkombinationen schließen lasse und der Turm durch seine spezielle Ausrichtung kosmische Kräfte sammeln könnte, anhand derer die ‚Irren‘ geheilt werden sollten. Diese Erklärung basiert auf der Vorliebe Josephs II für alchemistische Geheimwissenschaften. Vitecek ordnet diesen Erklärungsversuch als unwahrscheinlichsten ein. Die wahrscheinlichste Annahme sei die, dass der Narrenturm unter Mitbestimmung von Joseph II als Kunstbauwerk erstellt wurde. Die runde Form sollte auf die verdrehten, schwindeligen Sinne der ‚Irren‘ anspielen. Außerdem könnte interpretiert werden, dass ein seltsames Gebäude für seltsame Personen erbaut werden sollte. Die Verbindung Joseph II zum Wiener Narrenturm soll sehr eng gewesen sein und er solle mehrmals die Woche vor Ort gewesen sein. Letztendlich kommt Vitecek zu dem Fazit, dass es nicht relevant sein sollte, wie ein Gebäude aussieht, ausschlaggebend sollte sein, was darin vorgeht. Und damit führt Vitecek auch zu den folgenden Kapiteln hin, in denen er ergründen wolle, welche Art der Psychiatrie im Narrenturm betrieben wurde.
In den ersten Jahren soll der Wiener Narrenturm nicht fortschrittlicher als die bisher bekannte ‚Irrenversorgung‘ gewesen sein. Joseph II habe selbst eine Hausordnung und die konzeptionelle Ausgestaltung des Turms übernommen. Was dazu führte, dass die unterstützungsbedürftigen Personen im Turm eher verwahrt wurden als behandelt. Nach dem Tod Josephs II übergab sein Nachfolger und Bruder Leopold II die Leitung der Anstalt in ärztliche Hände. Somit konnte um 1800 eine menschenfreundlichere und fachlich kompetentere Behandlung erzielt werden. Diese Zeit beschreibt Vitecek als Hochblüte des Wiener Narrenturms. Nach 1800 entwickelten sich die Ansprüche an eine Psychiatrie jedoch rasant weiter, dieser Entwicklung konnte der Narrenturm nicht Stand halten.
Im folgenden Kapitel wird Reiseliteratur verschiedener Zeitzeugen, die den Turm auf irgendeine Weise besichtigt bzw. besucht haben, vorgestellt und von Vitecek eingeordnet. In den Reiseberichten werden sowohl sehr kritische Punkte beleuchtet, beispielsweise, dass der Turm für viele Personen der Öffentlichkeit zugänglich war und somit viele fremde Personen durch den Turm geführt wurden oder, dass die ‚Irren‘ kaum Anregungen zur Beschäftigung erhielten. Andere Reiseberichte berichten eher positiv darüber, dass für ausreichend Beschäftigung gesorgt werde und, dass Zwangsmaßnahmen wie das Anketten der ‚Irren‘ nur dann angewandt werden, wenn es wirklich notwendig sei. Darauf folgt ein weiterer Bildteil in dem bedeutende Standorte der niederösterreichischen ‚Irrenversorgung‘ zwischen 1792 und 1853 dargestellt werden. Es wird vertieft auf das Wiener Lazarett, die Beobachtungszimmer im Allgemeinkrankenhaus und die Einrichtung in Ybbs an der Donau eingegangen.
In Kapitel 8 geht Vitecek auf die Zeit ein, in der die Wiener ‚Irrenversorgung‘ veraltete und wie dies zustande kam. Es handle sich um den Zeitraum zwischen 1800 und 1830. Um der Rückständigkeit entgegenzuwirken, wurden einige Reformen beschlossen, die zu einer Dezentralisierung der ‚Irrenversorgung‘ führte und damit die Qualität der Versorgung steigern wollte. Parallel entwickelten sich private Einrichtungen, in denen finanzielle besser gestellte Personen behandelt werden konnten und, die den staatlichen Einrichtungen deutlich ihre Mängel aufzeigte. Um 1820 herum sollte in Wien eine neue staatliche Einrichtung erbaut werden, dies scheiterte jedoch an ökonomischen Mitteln. Beeindruckend scheint die damalige Unterteilung der Behandlung der ‚Irren‘. Als Aufnahmestation diente das allgemeine Krankenhaus, sobald eine psychische Störung durch ein Gutachten bestätigt wurde, wurden die Patient*innen in den Narrenturm verlegt und sollte die Störung nicht behandelbar sein, so wurden die Patienten weiter verlegt in die Pflegeanstalt in Ybbs an der Donau. Trotz dieses Verfahrens wies die Wiener ‚Irrenversorgung‘ Zeichen der Verwahrlosung auf und war überladen von unheilbar erkrankten Personen.
Im neunten Kapitel werden Beobachtungen, die der Mediziner bei seinem Forschungsaufenthalt in Wien machte, beschrieben. Das darauffolgende Kapitel beschreibt einen Neuanfang der Wiener Psychiatrie. Das Kapitel beschäftigt sich mit dem Wirken des leitenden Arztes Michael Viszánik. Viszánik habe das Innere der Wiener Psychiatrie ab 1840 detailliert beschrieben und sei unter anderem mitverantwortlich für ‚die Befreiung der Irren‘ gewesen sein. Die Befreiung meint hier das Abschaffen von Ketten und vergitterten Zellen. Vitecek stellt aber in diesem Kapitel auch klar, dass die Verwendung der Ketten im Narrenturm nicht an einem bestimmten Stichtag erfolgte, sondern ein schleichender Prozess war. Das Abschaffen der Ketten meinte nicht die Abschaffung aller Zwangsmaßnahmen, sondern eher den Umstieg auf Zwangsjacken. Das Kapitel geht in seiner zweiten Hälfte detailliert auf den Ablauf und Strukturen des Wiener Narrenturms um 1840 ein. So werden damalige gesetzliche Grundlagen der Aufnahme von Patient:innen betrachtet, sowie der Tagesablauf der Patient*innen vorgestellt. Auch um 1840 schoss die Presse gegen die Wiener Irrenversorgung. Dem Narrenturm wurde unmenschliche Zustände im Inneren vorgeworfen.
Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit der Sicht der Presse auf den Narrenturm und der Medienkampagne, die den Ruf des Narrenturms retten hätte sollen, jedoch scheiterte und somit dazu führte, dass sich ein negatives Bild über den Narrenturm im öffentlichen Bewusstsein manifestierte. Auch die Versorgung im Versorgungshaus in Ybbs an der Donau sei eher schlecht gewesen. Das änderte sich ab 1842, als die ärztliche Leitung wechselte und es zu einigen Reformen kam. 1862 konnte das Versorgungshaus als zweite große und eigenständige Irrenanstalt in Niederösterreich ausgebaut werden. Diesen gesamten Prozess beschreibt Vitecek in Kapitel 12 des Buches.
In Kapitel 13 folgt erneut ein Bildteil. Der Bildteil startet mit einem Lageplan der Wiener Irrenversorgung um 1860, auf dem die 1853 neueröffnete Heilanstalt im Neubau am Bründlfeld, der Narrenturm, das Versorgungshaus am Alserbach und weitere Gebäude zu sehen sind. Auch in diesem Kapitel werden die dargestellten Bilder und Lagepläne ausführlich erläutert. Außerdem wird die Irren- und Pflegeanstalt Prag genauer vorgestellt, die als vorbildlichste Psychiatrie im damaligen deutschsprachigen Raum fungierte. Die Irreneinrichtung der Heilanstalt Bründlfeld wird genauer mittels historischer Gemälde und Lageplänen skizziert. Schließlich widmet sich das Kapitel Artikeln, die im 19. Jahrhundert in der Presse über den Narrenturm und die Einrichtung Bründlfeld erschienen.
Im darauffolgenden Kapitel wird genauer auf die Entstehung der Einrichtung am Bründlfeld und die Schließung der Irrenversorgung im Narrenturm 1869 eingegangen. Außerdem wird genau auf den Entwicklungsprozess weg von gemischten Anstalten, über absolut getrennten Anstalten, hin zu relativ verbunden Heilanstalten in der Zeit zwischen 1800 und 1850 eingegangen.
Das 15. Kapitel widmet sich verschiedensten Statistiken der Wiener Irrenversorgung zwischen 1784 bis 1870. Es wird beispielsweise auf Geschlechterverhältnisse, die Herkunft der Patient*innen, vergebene Diagnosen und den sozioökonomischen Status der Patient*innen eingegangen. Mit dem 15. Kapitel schließt der Hauptteil des Buches ab. Anschließend folgen diverse Anhänge. Anhang A zeigt nochmals anhand von Lageplänen die Standorte der Irrenversorgung in Niederösterreich zwischen 1784 und 1907. Anhang B umfasst eine Zeittafel der Wiener ‚Irrenversorgung‘, in der unter Anderem bauliche Ereignisse, aber auch Wechsel der ärztlichen Leitung berücksichtigt werden. In Anhang C finden LeserInnen eine Auflistung von Patient:innenschädel im Rolletmuseum Baden. In Anhang D wurden Anweisungen und Grundsätze für die leitenden Ärzte der Wiener Irrenanstalt dokumentiert. In Anhang E wird die Wiener Psychiatrie im 19. Jahrhundert diskutiert. Und schließlich folgt in Anhang F ein Glossar und zuletzt umfasst das Buch ein Namensverzeichnis.
Diskussion
Das vorliegende Werk beschreibt detailliert geschichtliche und politische Ereignisse der Wiener Psychiatrie des 18. und 19. Jahrhunderts. Kritisch angemerkt werden kann, dass im gesamten Werk die Sprache von der ‚Irrenversorgung‘ und des ‚Irrenwesens‘ ist. Es wird zu Beginn des Buches erläutert, weshalb der Autor sich dafür entschied den Terminus ‚Irresein‘ zu verwenden und nicht über ‚psychische Störungen‘ zu schreiben. Beide Begriffe ließen sich geschichtlich betrachtet nicht gleichsetzen. Eben deswegen bediente sich die Autorin der Rezension auch dem Begriff der ‚Irren‘, obwohl in aktuellen Diskussionen zur politischen Korrektheit und Entstigmatisierung der Psychiatrie bzw. von psychischen Störungen ein Beigeschmack bleiben mag. Positiv hervorzuheben ist, dass im gesamten Werk, vor allem aber in der Diskussion im Anhang, nicht ausschließlich auf eine medizinisch- psychologische Psychiatrie eingegangen wird, sondern immer wieder ein gesellschaftlicher Blickwinkel miteinbezogen wird. Es werden stets unterschiedliche Perspektiven auf die historischen Ereignisse ermöglich und auch durch Bildmaterial untermauert. Auch LeserInnen, die sich zuvor nicht mit der niederösterreichischen Psychiatrie beschäftigt haben, werden mitgenommen und bekommen detaillierte Einblicke. Hervorzuheben gilt die Recherchearbeit, die hinter dem Werk steht. Es werden Quellen verschiedenster Art einbezogen und anhand von Zeittafeln, Bildbänden oder Statistiken anschaulich in das Werk eingebaut.
Fazit
Das Buch lässt sich allen Personen empfehlen, die Interesse an Psychiatriegeschichte haben. Das Werk kann als Übersichtsarbeit der niederösterreichischen Psychiatrie des 18. und 19. Jahrhunderts verstanden werden. LeserInnen bekommen einen tiefen Einblick in die niederösterreichische Psychiatrie aber auch Einblicke in die gesellschaftlichen und politischen Gegebenheiten in Österreich und Europa zur besagten Zeit. Das Werk zeichnet aus, dass es stets unterschiedliche Blickwinkel einbezieht und diese kritisch hinterfragt und diskutiert werden.
Rezension von
Vienna Schepperle
B.A. Soziale Arbeit, M.A. Psychosoziale Beratung in Sozialer Arbeit, Praktische Tätigkeiten als Sozialarbeiterin in u.a. sozialpsychiatrischen Settings und nebenberufliche Dozentin an der Dualen Hochschule Baden-Württemberg.
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Es gibt 2 Rezensionen von Vienna Schepperle.
Zitiervorschlag
Vienna Schepperle. Rezension vom 09.08.2023 zu:
Daniel Vitecek: Der Wiener Narrenturm. Die Geschichte der niederösterreichischen Psychiatrie von 1784 bis 1870. Springer
(Berlin) 2023.
ISBN 978-3-658-39049-5.
Reihe: Medizin, Kultur, Gesellschaft.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30561.php, Datum des Zugriffs 09.12.2023.
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