Alexandra Schauer: Mensch ohne Welt
Rezensiert von Prof. Dr. Jens Wurtzbacher, 29.09.2023

Alexandra Schauer: Mensch ohne Welt. Eine Soziologie spätmoderner Vergesellschaftung.
Suhrkamp Verlag
(Berlin) 2023.
704 Seiten.
ISBN 978-3-518-29973-9.
D: 34,00 EUR,
A: 35,00 EUR,
CH: 45,90 sFr.
Reihe: Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft - 2373.
Thema
Bei der vorliegenden Studie handelt es sich nicht im eigentlichen Sinn um eine soziologische Zeitdiagnose, die aus einzelnen zugespitzten sozialen Sachverhalten einen grundlegenden Wesenszug der Gesellschaft ableitet. Ihr Anliegen ist es vielmehr, aus dem Blickwinkel der historischen Soziologie, die Entwicklung(en) des Verhältnisses zwischen Mensch und Welt, zwischen dem Individuellen und dem Sozialen, dem Privaten und dem Öffentlichen näher zu untersuchen. Dabei liegt ihr die These eines doppelten Verlustes zugrunde; dem Menschen der Spätmoderne ist nicht nur die Welt als politischer und über diskursive Verständigung gestaltbarer Raum abhandengekommen, sondern er hat sich über diesen Verlust auch von sich selbst entfernt, da er nicht mehr verstehen kann, wie er mit Anderen in Beziehung steht und in welcher Weise er in seiner Individualität von Anderen abhängig bleibt. Aus Sicht der Autorin ist dies das Ergebnis eines ‚doppelten Epochenbruches‘, in dem der Prozess der Weltaneignung im Wechsel von der Vormodernen zur Moderne in einem darauffolgenden erneuten Weltverlust im Zuge der Spät- bzw. Hochmoderne rückabgewickelt wurde.
Die Autorin
Alexandra Schauer arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main. Nach dem Studium der Soziologie und der Philosophie in Jena und Paris war sie an unterschiedlichen Universitäten, u.a. an der New School of Social Research New York, der LMU München sowie der Justus-Liebig-Universität Gießen tätig.
Aufbau und Inhalt
Den Weltverlust des spätmodernen Menschen in Gestalt eines verlorengegangenen Bewusstseins der Gestaltbarkeit der Gesellschaft einerseits und einem damit einhergehenden Unverständnis des Sozialen andererseits, zeichnet die Autorin in drei Dimensionen nach: im Wandel der Zeitbegriffe, durch eine Umwälzung des Verständnisses von Öffentlichkeit und der Transformation von Stadt als Schauplatz und Bühne der Öffentlichkeit. Jedem dieser drei Bewegungen widmet sie einen umfangreichen ‚Akt‘ ihrer überaus material- und detailreichen Studie.
Im ersten Akt ‚Zeit und Geschichte‘ (S. 42-262 ff.) beschreibt Schauer die sich im Zuge der gesellschaftlichen Modernisierung wandelnden Zeitverständnisse als Voraussetzung dafür, dass uns die Welt als form- und gestaltbar gegenübertritt. Auf die festgefügten und größtenteils jahreszeitlich vorgegebenen Rhythmen und religiös induzierten Erwartungshorizonte folgte eine im Zuge der sich in der Neuzeit etablierenden kapitalistischen Wirtschaftsweise und der Verlängerung der Zweck-Mittel-Ketten notwendige vorausschauende und langfristige Planung. Mehr und mehr wird der Alltag durch die aufkommende Uhrzeit gestaltet, die man durch die Erfindung der Taschenuhr bequem am Körper tragen kann. Mit Beginn der industriellen Revolution und einer damit einhergehenden Beschleunigung entfernen sich Erfahrungen und Erwartungen endgültig weit voneinander. Die bürgerlichen Revolutionen in Amerika (1776) und Frankreich (1789) sorgen schließlich für den Durchbruch der Politik als Gestaltungsmechanismus. Der Wandel hin zur Spätmoderne geht sodann mit einer Erschütterung der starren Abläufe der Industrieproduktion einher. Diese werden abgelöst durch die flexiblen Zeitstrukturen der Dienstleistungsökonomien, in denen die Autorin ein neues Zeitregime erkennt, in dem „nur noch von Augenblick zu Augenblick entschieden werden kann“ (S. 41). Dies führt zu einem Zukunftserleben, das sich nicht mehr durch klare Perspektiven auszeichnet, sondern durch eine Vervielfältigung von Möglichkeiten bei gleichzeitiger Unmöglichkeit, daraus eine sinnvolle Kombination zu selektieren; statt der Zukunft wenden wir uns verklärend der Vergangenheit zu: „Während die Zukunft zusehends als dunkel und bedrohlich erscheint, wird die Vergangenheit zu einem nostalgischen Sehnsuchtsort aufgewertet; […] „die Möglichkeit einer ganz anderen Welt gerät aus dem Blick“ (ebd.).
Parallel zur Zeit tritt im zweiten Akt die ‚Öffentlichkeit‘ (S. 265 ff.) als Ort ins Rampenlicht der Argumentation, an dem sich die Welt „als gemeinsamer Handlungsraum erschließt“ (ebd.) und in welchem unterschiedliche Interessen und Standpunkte zur Geltung kommen können und auf diese Weise mit anderen Haltungen in Kontakt treten um in der diskursiven Vermittlung zu etwas Gemeinsamen zusammenzufließen. Die im Zuge der Modernisierung gelösten stabilen Sozialverhältnisse des Feudalismus und die daraus erwachsende Individualisierung mündete in die Entstehung eines Bewusstseins der Zugehörigkeit zu einer übergreifenden ‚Menschheit‘, jenseits der traditionellen gemeinschaftlichen Institutionen. In der (zunächst überaus selektiven) Öffentlichkeit der bürgerlichen Moderne entstand das Gemeinsame in einem Prozess der Reibung unterschiedlicher Interessen und Individualitäten. Dagegen hat die Spätmoderne die privaten Weltverhältnisse insofern entgrenzt, als nur noch die Individuen adressiert werden und nicht mehr als miteinander verbundene Teile eines durch die Öffentlichkeit vermittelten Ganzen begriffen werden. Das auf das Ideal der Selbstverwirklichung hin gedrängte Selbst (S. 386 ff.) verliert die Fähigkeit, „sich selbst in der Gesellschaft zu verorten“ (S. 416).
Im dritten Akt zeigt sich die ‚Stadt‘ als Schauplatz des Aufstiegs der Moderne, zunächst als Zentren der Geldwirtschaft im Gegensatz zur ländlichen Feudalordnung (S. 475). In der Geschichte der Stadt spiegeln sich für Schauer die „Kämpfe um die Zeit und die Ausweitung der Öffentlichkeit“ (S. 476), auch die Geburt der modernen Sozialpolitik lässt sich ausgehend von Hygienefragen als städtisches Phänomen beobachten. Gleichwohl transformieren sich die Städte in der Spätmoderne zu Orten eines fragmentierten und polarisierten Lebens, in denen die sozialen Aufstiegsversprechen verblassen und „an die Stelle der Hoffnung auf eine geteilte bessere Zukunft ein sich verhärtender Kampf alles gegen alle getreten ist“ (S. 476 f). Die Sozialpolitik verliert in Andrea Schauers Perspektive ihren emanzipativen Gehalt und bedient sich wieder der Mittel der Bestrafung der Armen angesichts gescheiterter Wahrnehmung von Selbstverantwortung.
Diskussion
Unter den momentan nicht knappen Krisendiagnosen nimmt die von Alexandra Schauer in Anlehnung an den Buchtitel des deutsch-österreichischen Philosophen und Schriftstellers Günther Andres formulierte These vom Menschen ohne Welt, dem die Gestaltungsmöglichkeiten und die politische Phantasie abhandenkommen sind, schon aufgrund ihres Detailreichtums eine Sonderstellung ein. Darüber hinaus verzichtet sie in angenehmer Weise am Schluss ihrer Betrachtung auf normative Veränderungshinweise in Richtung Gesellschaft und Politik. So nachvollziehbar und elegant sich der ernüchterte Blick auf die verblichenen politischen Gestaltungsmöglichkeiten auch liest, an einigen Stellen bleibt ein wenig fraglich, ob er grundsätzlich und ohne Ansicht einzelner Politikfelder oder nationaler und internationaler Unterschiede übergreifend tragfähig ist. So zeigen sich bei der Ausweitung von Bürgerrechten im letzten Jahrzehnt durchaus genutzte Gestaltungsräume und auch die These der Bestrafung der Armen trifft im US-amerikanischen Kontext sicherlich weit stärker zu als im westeuropäischen Zusammenhang. Fraglich wäre auch, ob nicht der Aufstieg rechtspopulistischer bzw. rechtsextremistischer Bewegungen Gestaltungsräume erschließt, jedoch in eine beängstigende autoritäre und illiberale Zukunft.
Fazit
Frau Schauer entfaltet mit beeindruckendem Detailreichtum und großer Sorgfalt ihre These vom dreifachen Weltverlustes: vom Verlust der positiven Bezüge des Individuums zu sich selbst, des Politischen im Sinn einer Gestaltbarkeit des Sozialen sowie Verlust der Möglichkeit zur Kritik (S. 632). Eine beeindruckende, wenn auch keine beruhigende Lektüre. Dennoch hat die Politik zumindest in der Covid-19 Pandemie gezeigt, dass noch Gestaltungskraft in ihr steckt. Offen bleibt, ob dies Licht auf einen generellen Revitalisierungsweg wirft.
Rezension von
Prof. Dr. Jens Wurtzbacher
Professor für Sozialpolitik, Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin
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