Nancy Fraser: Der Allesfresser
Rezensiert von Prof. Dr. Jens Wurtzbacher, 20.04.2023

Nancy Fraser: Der Allesfresser. Wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt.
Suhrkamp Verlag
(Berlin) 2023.
282 Seiten.
ISBN 978-3-518-02983-1.
D: 20,00 EUR,
A: 20,60 EUR,
CH: 28,90 sFr.
Reihe: edition suhrkamp.
Thema
Die essayistische Studie zeichnet ein düsteres Bild des Kapitalismus, wobei sie darunter nicht einfach unsere Art zu wirtschaften versteht, sondern alle Facetten unseres Zusammenlebens. Innerhalb dessen ist der profitorientierten Wirtschaft die Erlaubnis erteilt, die sozialen und ökologischen Grundlagen unserer Gesellschaft auszubeuten und in einer „institutionalisierten Fressorgie“ (S. 11) vollständig aufzuzehren. Der ‚kannibalische Kapitalismus‘ hat eine „allgemeine Krise der Gesellschaftsordnung“ heraufbeschworen, die die Autorin in vier Regionen und den zwischen diesen stattfindenden ‚Grenzkämpfen‘ ausführlich entfaltet: in einer hierarchischen und rassistischen Sozialordnung, in der Sphäre der Reproduktion (Care), der Ökologie sowie der Demokratie. Rosig sieht es, das legt der Titel schon nahe, in keiner dieser Regionen aus, weshalb die Kritik abschließend in Überlegungen zum Sozialismus im 21. Jahrhundert mündet.
Die Autorin
Nancy Fraser (*1947) lehrt Philosophie und Politikwissenschaften an der New School of Social Research in New York. Sie zählt zu den zentralen Autorinnen der feministischen Theorie sowie der Kapitalismuskritik in den letzten Jahrzehnten. Für kontroverse Diskussionen gesorgt hat sie nicht zuletzt durch ihre Auseinandersetzung mit der von ihr kritisierten Verbindung zwischen Feminismus und dereguliertem Kapitalismus.
Aufbau und Inhalt
Ausgangspunkt der Studie sind verschiedene krisenhafte Entwicklungen innerhalb kapitalistischer Gesellschaften, die sich gegenseitig befeuern und für Fraser die Frage aufwerfen, ob wir in der Lage sind, die sich verstärkende Niedergangsspirale zu durchbrechen und unser soziales System vor der Auslöschung zu bewahren. Den Kapitalismus als Gesellschaftsordnung, der seine außerökonomischen Funktionsbedingungen aufzehrt führt sie uns in sechs Kapiteln vor:
Zunächst betritt der Kapitalismus als ‚Allesfresser‘ (S. 17 ff.) die Bühne, der weit darüber hinausreicht, nur eine Form des Wirtschaftens zu sein. In der von Fraser vorgeschlagenen, erweiterten Perspektive auf den Kapitalismus als Gesellschaftsordnung, greift dieser weit über die von Marx als kapitalistischer Urgrund betrachtete Sphäre der Produktion auf Basis des Privateigentums hinaus in die soziale Reproduktion, die ökologischen Grundlagen, in die Sphäre des Politischen sowie in die Praktiken rassistischer Unterdrückung und Ausbeutung ein. Dies bedeutet jedoch nicht ein schlichtes Eindringen verdinglichter Logiken im Sinne einer Landnahme, sondern die jeweiligen Sphären (die nicht festgefügt nebeneinander existieren, sondern sich über Grenzkämpfe gegeneinander abgrenzen) erweisen sich als konstitutiv für kapitalistische Produktion. Diese verzehrt deren jeweilige Substanz verzehrt ohne Möglichkeiten einer Regeneration zu eröffnen.
Als ‚nimmersatten Bestrafer‘ (S. 57 ff.) sieht Fraser den Kapitalismus nicht nur verantwortlich, sondern bis heute angewiesen auf Ausbeutung und Enteignung. Der Kapitalismus ebnet rassistischer Unterdrückung den Boden, indem er auf Enteignung und ausbeuterische Praktiken setzt. Diese Beziehung hat historisch unterschiedliche Gestalten angenommen und zeigt sich bis heute in der Ausbeutung von Rohstoffen im globalen Süden, in der geographisch unterschiedlichen Betroffenheit von Folgen des Klimawandels, in rassistischen Praktiken sozialer Sicherung sowie rigider Zuwanderungs- und Flüchtlingspolitik wohlhabender Staaten. Zwar seien die Aussichten für eine ‚post-rassistische Gesellschaft‘ (S. 93) nicht rosig, Hoffnung setzt Fraser jedoch in ‚rassenübergreifende Allianzen‘ (S. 95), die Formen der Ausbeutung und Enteignung entgegenwirken können.
Ausgebeutet und enteignet werden nicht nur Ländereien und Ressourcen, sondern auch die Bedingungen der sozialen Reproduktion; hier geriert sich der Kapitalismus als Care-Verschlinger(S. 97 ff.), der in der Sphäre der Produktion die emotionalen und materiellen Ressourcen verzehrt, die Einzelne und Familien für die Regeneration brauchen. Für Fraser betätigt sich der Kapitalismus als ‚Trittbrettfahrer‘ (S. 100), in dem er einerseits von gemeinschaftlichen Verbindungen und regenerativen Tätigkeiten lebt, andererseits der Fürsorge und dem zwischenmenschlichen Bereich keinen ökonomischen Wert beimisst bzw. allenfalls einen unzureichend vergüteten und durch Subordination von Frauen ausgefüllten Status. Ursache hierfür ist ein Grundwiderspruch und normativer Konflikt zwischen unterschiedlichen Handlungslogiken und normativen Grammatiken.
Diese Diagnose trifft auch auf die Natur zu, dieebenfalls im Rachen des Kapitalismus (S. 129 ff.) verschwindet. Dabei teilt Fraser nicht die (technik-)optimistische Position, dass eine Versöhnung kapitalistischen Wachstums mit Klima- und Artenschutz über technische Innovationen möglich ist, vielmehr ist der Klimawandel aus ihrer Sicht kein schlichter ungewollter Nebeneffekt, der sich beseitigen ließe, sondern produktive Fortschritte sind nur unter der Bedingung der monetär kaum zu Buche schlagenden Ausbeutung ökologischer Ressourcen und Ablagerung von Rückständen möglich, weshalb eine ‚Ökopolitik‘ auch weit über das ‚bloß Ökologische‘ hinausreichen muss (S. 135) in Richtung einer alternativen Gesellschaftspolitik.
Während bis dahin die Argumentation zum kannibalischen Kapitalismus eher gewohnte Bahnen beschreitet, gewinnt sie beim Nachdenken über das Ausweiden der Demokratie (S. 189) an Fahrt. Die Krise der Demokratie wird ebenfalls nicht unabhängig, sondern mit anderen Krisen verbunden gesehen und ihre Ursachen nicht allein im politischen Bereich verortet. Fraser sieht hier die Gefahr des ‚Politizismus‘ (S. 189), wenn versucht wird, durch Reformen der politischen Verfahren, Misstrauen und Enttäuschungen zu begegnen, die auf den Einfluss außerpolitischer Faktoren zurückgehen. Sie sieht insgesamt den Kapitalismus als krisenanfällig und schädlich für die Demokratie (S. 192); deren Bedrängnisse als inhärenten Teil der Verknüpfung von öffentlicher Macht und Kapitalakkumulation.
Angesichts der Unausweichlichkeit der vom Kapitalismus als Gesellschaftsform induzierten Krisen liegt es nahe, dass Nancy Fraser abschließend über Alternativen nachdenkt, darüber, was Sozialismus im 21. Jahrhundert bedeuten sollte? (S. 225) Die Tendenzen des Kapitalismus, ökologische und reproduktive Krisen zu verursachen sowie auf Enteignung von Ressourcen aufzuruhen setzt Fraser die Forderung nach einer radikalen Ausweitung von Entscheidungsfindung und Demokratisierung entgegen (S. 240), über die Sphäre des Politischen hinaus. Es geht ihr um die Ausweitung der demokratischen Gestaltungsmacht über den gesetzten Rahmen hinaus, sodass eine völlige Neukonstitution der umkämpften Grenzlinien zwischen „Produktion und Reproduktion, Gesellschaft und Natur, dem Ökonomischen und dem Politischen“ genauso möglich würde wie eine „Überwindung von Ungerechtigkeit und Unfreiheit“ (S. 242).
Diskussion
Nancy Fraser führt uns durchaus anschaulich und eindrücklich (wenn auch bisweilen von Wiederholungen gekennzeichnet) ihre marxistisch gefärbte Argumentation vom Hang des Kapitalismus zur Selbstzerstörung, von den systemisch miteinander verwobenen aktuellen Krisenmomenten und der Bedeutung des Kapitalismus als Gesellschaftssystem für ausbeuterische Praktiken und Enteignungsprozesse vor Augen. Hinter dem verblassten Glanz des Neoliberalismus werden die desaströsen Folgen des entfesselten Marktgeschehens auf das Verhältnis der Länder zueinander, auf die zwischenmenschlichen Beziehungen, die natürlichen Grundlagen sowie unser demokratisches Zusammenleben sichtbar. Die Autorin reiht sich hier ein in eine Vielzahl kapitalismuskritischer Stimmen in den vergangenen Jahren, bleibt jedoch nicht bei der Kritik stehen, sondern entwirft mit ihren Überlegungen zum Sozialismus im 21. Jahrhundert ein Reformperspektive. Schmallippig allerdings bleibt der Band bei der Frage, wie wir dorthin kommen könnten; aus welchen politischen Kraftquellen diese reformerischen Kräfte ‚zum Durchbruch dringen‘ könnten.
Fazit
Der Essay stellt einen profilierten Beitrag innerhalb der kapitalismuskritischen Diagnosen der vergangenen Jahre dar. Gleichwohl entkommt er nicht dem Risiko allzu großer Verallgemeinerung, denn ein genauerer Blick auf die Situation der einzelnen Felder in unterschiedlichen (Wohlfahrts-)staaten hätte ans Licht bringen können, dass die politische Einhegung des kapitalistischen Wirtschaftens durchaus noch eine Rolle spielen kann.
Rezension von
Prof. Dr. Jens Wurtzbacher
Professor für Sozialpolitik, Katholische Hochschule für Sozialwesen Berlin
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Es gibt 4 Rezensionen von Jens Wurtzbacher.
Zitiervorschlag
Jens Wurtzbacher. Rezension vom 20.04.2023 zu:
Nancy Fraser: Der Allesfresser. Wie der Kapitalismus seine eigenen Grundlagen verschlingt. Suhrkamp Verlag
(Berlin) 2023.
ISBN 978-3-518-02983-1.
Reihe: edition suhrkamp.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30564.php, Datum des Zugriffs 11.06.2023.
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