Faruk Ajeti: Die Kosovopolitik Österreichs in den Jahren 1986-1999
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 20.03.2023

Faruk Ajeti: Die Kosovopolitik Österreichs in den Jahren 1986-1999.
Georg Olms-Verlag
(Hildesheim) 2022.
427 Seiten.
ISBN 978-3-487-16208-9.
68,00 EUR.
Reihe: Historische Europa-Studien - Band 26.
Republik Kosovo – Souverän oder Teil-Republik?
Mit der am 17. Februar 2008 proklamierten Unabhängigkeitserklärung entstand die Republik Kosovo. Der völkerrechtliche Status wird jedoch bis heute nicht allgemein anerkannt. Insbesondere die Republik Serbien beansprucht das Land mit historischen und kulturellen Begründungen als „Autonome Provinz“. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Autonome Region „Kosovo und Metochien“ in die Sozialistische Republik Serbien im Rahmen der Sozialistischen Bundesrepublik Jugoslawien eingegliedert. Freiheits- und Unabhängigkeitsbestrebungen der Kosovaren auf der einen Seite sowie eine nationalistische, serbische Politik und Machtstreben Belgrads auf der anderen Seite führten Ende der 1990er Jahre zu gewaltsamen Auseinandersetzungen und zum Kosovokrieg, bis hin zu pogromartigen Kämpfen im März 2004. Friedenstruppen der Vereinten Nationen und Polizeitruppen der Europäischen Union (EULEX Kosovo) wachen seitdem über den brüchigen Frieden in der Region. Deutschland, Österreich, die Schweiz und mehrere andere Länder haben in der Hauptstadt des Kosovo, Prishtina, Botschaften eröffnet. 22 der 27 Mitgliedstaaten der EU haben den Kosovo als unabhängigen Staat anerkannt. Neben Widerständen Serbiens, der Russischen Föderation und der Volksrepublik China, die verhindert haben, den Kosovo in die Vereinten Nationen aufzunehmen, sind auch die EU-Mitglieder Spanien, Griechenland, Zypern, die Slowakei und Rumänien gegen eine Anerkennung. Bemerkenswert ist der Umstand, dass in diesen europäischen Ländern Minderheitenkonflikte bestehen. Die multiethnische Zusammensetzung der Bevölkerung des Kosovo bedingt in besonderem Maße eine sensible interkulturelle Politik. Dr. Faruk Ajeti, seit Dezember 2021 Botschafter der Republik Kosovo in der Bundesrepublik Deutschland, drückt das so aus: „Jede Tendenz, das multiethnische Leben zu beeinträchtigen, ist eine Gefahr.“
Entstehungshintergrund und Autor
Kriege, so lesen wir in der Verfassung der UNESCO (16. November 1945), entstehen in den Köpfen der Menschen; deshalb muss auch der Frieden in ihre Köpfe und ihr Bewusstsein gebracht werden. Analysen, Dokumentationen und Forschungen darüber, wer die Welt regiert, warum Staaten entstehen und verschwinden, wer Macht ausübt und verhindert, gibt es zahlreiche, reale und Fake News. Der Historiker und Archäologe Ian Morris kommt zu dem Ergebnis: „Die Geschichte, auf die es wirklich ankommt, ist nicht die des Westens, nicht die des Ostens. Die bedeutsame Geschichte ist global, ist eine der Evolution“ (Wer regiert die Welt. Warum Zivilisationen herrschen oder beherrscht werden, 2011, www.socialnet.de/rezensionen/12186.php).
Der jetzige Botschafter der Republik Kosovo in Berlin hat sich in vielen Jahren mit der Bedeutung und dem diplomatischen und politischen Wirken Österreichs sowie den staatlichen Entwicklungen der Balkanländer, insbesondere in seinem Heimatland Kosovo, auseinandergesetzt. Daraus ist die Dissertation „Die Kosovopolitik Österreichs in den Jahren 1986 – 1999“ entstanden. Der Hildesheimer Historiker Michael Gehler betont, dass es dem Autor gelingt nachzuweisen, „dass die österreichische Kosovopolitik primär von stabilitätspolitischen Beweggründen getragen wurde“. Es war und ist die „aktive Neutralitätspolitik“, die bei den äußerst schwierigen, gefährlichen, kriegerischen Auseinandersetzungen ansatzweise Konfliktlösungen in Aussicht stellte.
Aufbau und Inhalt
Die wissenschaftliche Studie wird neben der Einleitung in folgenden Kapitel gegliedert: „Historische Bezüge zwischen der Habsburgermonarchie und dem Kosovo 1689 – 1918“ – „Die österreichische Außenpolitik der Zweiten Republik 1945 – 1999“ – „Die österreichische Kosovopolitik der Jahre 1986 – 1994“ – „Die österreichische Kosovopolitik in den Jahren 1995 – 1999“ – „Die Entwicklungen in den österreichischen-kosovarischen Beziehungen bis 2010“. Der Blick auf die österreichischen, diplomatischen, inter- und transnationalen Aktivitäten zum europäischen und Weltgeschehen zeigt insbesondere, dass das Land aus traditionellen und historischen Gründen den südosteuropäischen Ländern und Regionen eine spezifische Aufmerksamkeit widmet; und zwar nicht nur wegen der möglicherweise dadurch erleichterten ökonomischen, außenwirtschaftlichen Präferenzen und der kulturellen Parallelen; es sind auch Verstehens- und Sympathieprozesse bei der Staatenbildung auf dem so genannten Balkan, die Österreich einen außergewöhnlichen Vertrauensvorschuss und Sympathie-Status zuweisen. So konnte und kann die Alpenrepublik bei internationalen Fragen und Konflikten als Vermittler und Interpretator auftreten: „Österreichische Politiker waren in vielen Balkan-Fragen Schlüsselfiguren und haben besondere Kompetenz erwiesen“. Das wirkt sich auch heute und morgen auf den europäischen Einigungsprozess aus.
In seiner qualitativen Analyse zur legitimierten rechtlichen und politischen Staatenbildung des Kosovo weist Ajeti Österreich eine Schlüsselrolle zu, und zwar sowohl wegen der oben angeführten historischen und nachbarschaftlichen Nähe, als auch aufgrund der Quellenlage zur Dokumentierung der Entwicklung. Dabei konzentriert sich der Autor wesentlich auf zwei zeitliche, politische Ereignisse: 1986, als sich der Vielvölkerstaat Jugoslawien aufzulösen begann und die Teilrepubliken ihre Unabhängigkeit anstrebten – und 1999, als der Kosovo-Krieg die serbische Alleinherrschaft in der Region beendete. Unter den kriegsverbrecherischen Taten von Serben in dieser Konfliktsituation ist vor allem ein Mann zu nennen: Der serbische KP-Parteiführer, Präsident der Sozialistischen Republik Serbien (1989–1991), Präsident der Republik Serbien (1991–1997) und Präsident der Bundesrepublik Jugoslawien (1997–2000) Slobodan Milošević stand vor dem UN-Gerichtshof in Den Haag. Er starb, bevor es zu einem Urteil gegen seine Taten kam, dort am 11. 3. 2006.
Historisch waren in der neueren Zeit, bis hin zu heutigen Bezügen und Imponderabilien, die Einflüsse und Entwicklungen der beiden Großreiche im 17. Jahrhundert – die Habsburgermonarchie und das Osmanische Reich – prägend für die traditionellen Kontakte Österreichs zu den südosteuropäischen Regionen. Es war die forcierte, machtvolle, europäische Albanien-Politik, die den Ländern Österreich und Ungarn Richtungs- und Zeigefinger-Kompetenzen zuwiesen und Machtansprüche legitimierten; z.B. in den beiden „Balkankriegen“ (1912/1913). Zuvor war Bosnien-Herzegowina 1908 Österreich-Ungarn zugeschlagen worden, was insbesondere die serbischen Großmachtgelüste störte und schließlich am 28. Juni 1914 zur Ermordung des österreichisch-ungarischen Thronfolgers Franz Ferdinand durch einen serbischen Nationalisten und letztlich zum Ersten Weltkrieg führte.
Die österreichische Außenpolitik nach dem Zweiten Weltkrieg, mit dem verfassten Neutralitätsstatus – und der Last der Relativierung der Zugehörigkeit zum deutschen, nationalsozialistischen Regime – war gekennzeichnet von dem Bemühen, die Zugehörigkeit des Landes zum Westen zu stabilisieren und die europäische Integration zu stärken. Die österreichische Politik lavierte während der unruhigen Zeiten des Ost-West-Konflikts und den Unabhängigkeitserklärungen der Balkan-Staaten zwischen nachbarschaftlichen Instabilitätsbefürchtungen, Freihaltung der traditionellen Kontakte und Verbindungen sowie ökonomischen, fiskalischen und politischen Einflussnahmen. Es waren vor allem diplomatische Aktivitäten, die eine „Internationalisierung“ der Balkan-Krisen vorantrieben. Mit dem Dayton-Friedensabkommen von 1995 wurde der Krieg in Bosnien und Herzegowina beendet. Die dabei entstandene Bundesrepublik Jugoslawien mit den Ländern Serbien und Montenegro wurde durch die Ausrufung der Republiken Serbien und Montenegro (2006) aufgelöst. Territoriale und politische Ansprüche vor allem der serbischen Politiker verschärften die „Kosovo-Krise“. Die 1994 entstandene „Befreiungsarmee des Kosovo“ (UÇK) wollte ursprünglich mit militärischen Mitteln einen Staat für ethnische Albaner gründen, die in Serbien, Mazedonien, Montenegro und Griechenland lebten. Ihre teils verbrecherischen Aktivitäten, teils gezielten Attentate wurden durch (allzu) behutsames und zögerliches Eingreifen der internationalen (NATO) und europäischen (EU) Kräfte 1999 beendet, anfangs als „Kosovo-Schutzkorps“ und später als Teile der Kosovarischen Sicherheitskräfte. Auf den steinigen Wegen und Stoppstraßen mit Fallgruben bis hin zur Eröffnung der EU-Vertretung in Prishtina im Juli 1998 haben österreichische Diplomaten und Politiker Orientierung und Richtung gewiesen. Sie konnten jedoch nicht verhindern, dass die serbischen Nationalisten im Kosovo Verbrechen gegen die Menschlichkeit begingen, etwa als im Dorf Račak im Januar 1999 45 Leichen aufgefunden wurden, die durch Kopfschüsse getötet worden waren.
An der vielfältigen humanitären und Flüchtlingshilfe, wie z.B. der Aktion „Nachbar in Not“, aber auch personell, sachlich und fachlich beteiligen sich österreichische Institutionen und Initiativen, wie etwa an der von der NATO geführten „Kosovo-Truppe“ (KFOR) und der „United Nations Mission“ (UNMIK): „Österreich gilt als einer der größten und wichtigen Unterstützer der jungen Republik bezüglich der Mitgliedschaft bei den regionalen, europäischen und internationalen Organisationen“, konstatiert Ajeti.
Neben der 11-seitigen Chronologie der politischen Ereignisse und Entwicklungen im südosteuropäischen Raum, besonders im Kosovo, werden vom Autor geführte Interviews mit österreichischen Persönlichkeiten zur Kosovopolitik abgedruckt: Mit Erhard Busek (+), Werner Fasslabend, Heinz Fischer, Friedhelm Frischenschlager, Christian Gollubits, Marijana Grandits, Gerhard Hafner, Josef Höchl, Sigurd Höllinger, Gerhard Jandl, Peter Jankowitsch, Heinz Kasparovsky, Andreas Khol, Clemens Koja, Johannes Kyrle (+), Paul Leifer, Edith Mock, Heinrich Neisser, Eva Nowotny, Wolfgang Petritsch, Madeleine Petrovic, Alois Puntigam, Christoph Ramoser, Albert Rohan (+), Christian Segur-Cabanac, Walter Siegl, Rainer Stepan, Michael Spindelegger, Michael Weninger, Barbara Weitgruber, Alexis Wintoniak und Klaus Wölfer. Um Zeitgeschichte fach- und sachgerecht erzählen zu können, braucht es Dokumentationen und Oral History. Das 31seitige Quellen- und Literaturverzeichnis kündet von der umfangreichen und dezidierten wissenschaftlichen Forschungsarbeit.
Diskussion
Ohne die Bemühungen und Verdienste von Personen, internationalen Institutionen und anderen Staaten schmälern zu wollen, den Kosovaren bei der Bildung und Entwicklung eines eigenen Staates hilfreich zur Seite zu stehen, nationalistische, territoriale und politische Begehrlichkeiten sowie Besitznahmen abzuwehren, wird in der Studie von Faruk Ajeti, dem aktuellen Botschafter des Kosovo in Berlin, deutlich: Österreich nimmt in der Kosovopolitik eine besondere, herausragende und friedensfördernde Stellung ein. Der Kosovo-Konflikt wäre, nach den heutigen lokalen und globalen Erkenntnissen, nicht mit der Unabhängigkeit des Landes gelöst worden, hätten nicht österreichische Politiker, Diplomaten und Friedens- und Stabilitätsförderer – behutsam, konsequent und ausdauernd – mit dazu beigetragen.
Es sei angezeigt, dass aus der „Hildesheimer Europa-Schmiede“ vielfältige, perspektivische Studien, Dokumentationen und Berichte kommen, die auch die mittel- und südosteuropäischen Entwicklungen im Blick haben und im Internet-Rezensionsdienst vorgestellt werden, z.B.: Michael Gehler/​Ibolya Murber, Von der Volksrepublik zum Volksaufstand in Ungarn 1949 – 1957, Wien 2023, 930 S.; Michael Gehler/​Andrea Brait, Von den Umbrüchen in Mittel- und Osteuropa bis zum Zerfall der Sowjetunion 1985–1991. Eine Dokumentation aus der Perspektive der Ballhausplatzdiplomatie, 2 Bde, Hildesheim – Zürich – New York 2023; Michael Gehler, Modellfall für Deutschland? Die Österreichlösung mit Staatsvertrag und Neutralität, Innsbruck – Wien 2015, www.socialnet.de/rezensionen/19032.php: Andrea Brait/Michael Gehler, Hrsg., Grenzöffnung 1989. Innen- und Außenperspektiven und die Folgen für Österreich, Wien 2014, www.socialnet.de/rezensionen/19033.php.
Fazit
Wenn es darum geht, beim internationalen Diskurs Ausschau zu halten, welche Personen, Institutionen, Organisationen, Initiativen und Staaten dazu – wie – beitragen, dass Frieden und Humanität die Welt beherrschen, und nicht Unfrieden, Gewalt, Kriege und Unmenschlichkeit, gelangt man – bei intensivem, gewissenhaftem, wahrheitsgemäßem Suchen und Bemühen – auch zu Antworten. Faruk Ajeti kommt bei seinen wissenschaftlichen Recherchen zu dem Ergebnis, dass Österreichs Außenpolitik bei der Einhegung und Bewältigung der bewaffneten und ethnischen Konflikte in Südosteuropa, insbesondere bei der Lösung des Kosovo-Konflikts, eine Themenführerschaft und Kompetenz gezeigt hat. Das ist verdienstvoll und vielleicht sogar – mit Blick auf die aktuellen gewaltsamen und kriegerischen Auseinandersetzungen in Europa und in der Welt – beispielhaft!
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 20.03.2023 zu:
Faruk Ajeti: Die Kosovopolitik Österreichs in den Jahren 1986-1999. Georg Olms-Verlag
(Hildesheim) 2022.
ISBN 978-3-487-16208-9.
Reihe: Historische Europa-Studien - Band 26.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30565.php, Datum des Zugriffs 09.06.2023.
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