Jan Gysi: Diagnostik von Traumafolgestörungen
Rezensiert von Dr. Lorenz Grolig, 19.09.2023

Jan Gysi: Diagnostik von Traumafolgestörungen. Multiaxiales Trauma-Dissoziations-Modell nach ICD-11. Hogrefe AGHogrefe AG (Bern) 2022. 2., korrigierte Auflage. 327 Seiten. ISBN 978-3-456-86227-9. D: 59,95 EUR, A: 61,70 EUR, CH: 81,00 sFr.
Thema
Belastende Lebensereignisse und insbesondere traumatisierende Ereignisse können schwerwiegende und teilweise langanhaltende, negative Auswirkungen auf die psychische Gesundheit haben und zur Entwicklung von psychischen Störungen wie zum Beispiel Depressionen und Angststörungen führen. Zu Traumata im engeren Sinn zählen Gewalttaten (psychische Gewalt, körperliche und psychische Vernachlässigung, körperliche Gewalt, sexuelle und sexualisierte Gewalt, Folter), aber auch schwerwiegende körperliche Erkrankungen und Naturkatastrophen. So unterschiedlich diese Traumata sind, so unterschiedlich können auch die Folgen für die Betroffenen sein.
Während ein beachtlicher Anteil der Betroffenen zwar eine kurzfristige Belastungsreaktion zeigt, aber in der Folge keine psychische Störung entwickelt, führen gerade schwerwiegende, länger anhaltende und menschengemachte Traumata mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Traumafolgestörungen. Durch intensive Forschungsaktivitäten konnten in den letzten 20 Jahren zahlreiche Fortschritte in der Diagnostik von Traumafolgestörungen erzielt werden, die in dem vorliegenden Band systematisch und praxisnah dargestellt werden. In Ergänzung zu einer Rezension der Erstauflage von 2020 sollen hier ausgewählte Inhalte der 2., korrigierten Auflage vorgestellt werden.
Autor
Dr. Jan Gysi ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. Spezialisierung in der Diagnostik und Therapie von Traumafolgestörungen (Persönlichkeitsstörungen, verschiedene Formen posttraumatischer und dissoziativer Störungen, anhaltende Trauerstörung, komorbide stressbedingte Erkrankungen). Er ist in eigener Praxis in einem interdisziplinären Praxiszentrum, zudem Arbeit als Supervisor und Referent in Medizin, Psychotherapie, Psychosomatik, Polizei und Justiz tätig.
Aufbau und Inhalt
Das Buch umfasst 8 Kapitel und ein Sachwortverzeichnis.
Im ersten Kapitel werden zunächst diagnostische Grundlagen zu Traumata vermittelt, wobei der Autor auf neuere Entwicklungen etwas ausführlicher eingeht (z.B. organisierte und rituelle Gewalt als Typ-III-Traumatisierungen; Rolle des Darknet für die vermutete Zunahme von pädosexuellen Taten). Anschließend stellt er in fünf ausführlichen Kapiteln sein 5-Achsen-Modell zur Diagnostik von Traumafolgestörungen nach ICD-11 vor. Dieses umfasst:
- Achse I: Bindungsstörungen und Persönlichkeitsstörungen (z.B. Borderline-Muster)
- Achse II: Spezifische belastungsbezogene Störungen (z.B. posttraumatische Belastungsstörung, PTBS)
- Achse III: Strukturelle Dissoziation (z.B. dissoziative Identitätsstörung)
- Ache IV: Dissoziative Symptome (z.B. Depersonalisations-Derealisationsstörung)
- Achse V: Komorbide Störungen (z.B. Suchtstörungen)
Kapitel 7 widmet sich den Themen „Glaubhaftigkeitsprobleme von Opfern von Sexualstraftaten“ und „Richtige und falsche Erinnerungen bei traumatisierten Menschen“ im Kontext der Strafverfolgung. Abschließend werden in Kapitel 8 bezogen auf das 5-Achsen-Modell die wichtigsten diagnostischen Fragen zur Abklärung von Traumafolgestörungen aufgeführt.
Ein besonderes Augenmerk legt Jan Gysi auf die Diagnostik von dissoziativen Symptomen und dissoziativen Identitätsstörungen. Früher wurde für letztere teilweise der irreführende Begriff „multiple Persönlichkeitsstörung“ verwendet. Tatsächlich leiden Menschen mit einer dissoziativen Identitätsstörung jedoch darunter, dass (mindestens zwei) verschiedene Persönlichkeitszustände „in der Lage sind, die exekutive Kontrolle über das Handeln zu übernehmen“ (S. 101). Bei volldissoziiertem Handeln fehlt zudem jede Erinnerung an das Handeln des anderen Persönlichkeitsanteils, was als Kontrollverlust erlebt wird und sehr oft starke Scham verursacht.
Diese Störungen wurden bislang relativ wenig erforscht und ihre Existenz wurde in Fachkreisen angezweifelt. Entsprechend werden diese Störungsbilder bislang kaum in den fachärztlichen und psychotherapeutischen Weiterbildungen vermittelt, was vermutlich dazu führt, dass sie häufig erst nach vielen Behandlungsjahren oder gar nicht diagnostiziert werden. Die Diagnostik dissoziativer Identitätsstörungen gestaltet sich oft zeitaufwändig und verlangt besondere Umsicht und psychotraumatologisches Fachwissen. Erschwerende Faktoren sind beispielsweise die „dissoziative Anosognosie“ (Unfähigkeit von Patient*innen, Symptome dieser Störung als Symptome zu erkennen), Scham mit selbstdestruktiven Impulsen (z.B. angesichts eines selbst vermuteten Charaktermangels) und internalisierte Botschaften von Tätern, die den Betroffenen verbieten, über das Erlebte zu sprechen. Der Autor gibt im Weiteren ausführliche, praktische Hinweise für die Abklärung und geht unter anderem auf die Abgrenzung von Persönlichkeitszuständen von Ego-States bzw. Modi (Schematherapie) und auch die begleitende Diagnostik in verschiedenen Therapiephasen ein.
Diskussion
Dem Autor gelingt eine exzellent strukturierte Übersicht mit praxisnahen Anleitungen, inklusive der wichtigsten diagnostischen Kriterien, Beispielformulierungen für diagnostische Fragen und herausgehobenen Punkte, die aus Sicht von Praxis oder Forschung bei der Diagnostik von Traumafolgestörungen besonders zu beachten sind. Kurze Fallvignetten, die sich durch die Kapitel ziehen, stellen einen direkten Bezug zur klinischen Praxis her.
Angesichts der Vielzahl von Störungsbildern, die im Zusammenhang mit traumatischen Ereignissen abgeklärt werden können, liefern tabellarische Übersichten auf den ersten Seiten wertvolle Orientierungshilfen für das praktische diagnostische Vorgehen. Wünschenswert für eine spätere Auflage wäre auch eine epidemiologische Übersicht zu Auftretenshäufigkeiten der Störungsbilder in der Allgemeinbevölkerung und auch speziell in Gruppen von Menschen, die (mindestens) ein Trauma erlebt haben, sobald diese Zahlen auch für neu in den ICD aufgenommene Störungen wie die komplexe PTBS vorliegen. Diese könnte als Orientierungshilfe für die Priorisierung in der diagnostischen Abklärung dienen – denn auch um Patient*innen nicht zu überfordern, ist eine vollumfängliche Diagnostik aller möglichen Traumafolgestörungen in den meisten Fällen nicht sinnvoll.
Fazit
Der Band ist sehr hilfreich für die Planung und Durchführung der Eingangsdiagnostik – insbesondere aber auch zur Steuerung des therapiebegleitenden Diagnostikprozesses, da einige Symptome von Patient*innen gerade zu Beginn einer Therapie noch nicht ausreichend beschrieben werden können (Beispiel: dissoziative Zustände) oder ein Vertrauensverhältnis voraussetzen, das zu Beginn einer Therapie noch nicht besteht.
Rezension von
Dr. Lorenz Grolig
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Zitiervorschlag
Lorenz Grolig. Rezension vom 19.09.2023 zu:
Jan Gysi: Diagnostik von Traumafolgestörungen. Multiaxiales Trauma-Dissoziations-Modell nach ICD-11. Hogrefe AGHogrefe AG
(Bern) 2022. 2., korrigierte Auflage.
ISBN 978-3-456-86227-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30575.php, Datum des Zugriffs 23.09.2023.
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