Kerstin Söderblom: Queersensible Seelsorge
Rezensiert von Prof. Dr. Thomas Hanstein, 08.09.2023
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Kerstin Söderblom: Queersensible Seelsorge. Vandenhoeck & Ruprecht (Göttingen) 2023. 163 Seiten. ISBN 978-3-525-60013-9. D: 25,00 EUR, A: 26,00 EUR.
Thema
Während das Textverarbeitungsprogramm beim Schreiben dieser Rezension „queer“ nicht mehr als unbekannt markierte, war das händische Hinzufügen des Wortes „queersensibel“ (bei einem neuen Rechner) noch nötig. Diese Beobachtung kann als bezeichnende Metapher dafür stehen, wie sehr sich unsere Gesellschaft – und damit auch und vor allem die Kirche(n) -hinsichtlich der Geschlechtssensibilität noch auf einem „Lernweg“ befinden.
Das Buch (eBook, PDF, broschiert) versteht sich explizit als Unterstützung eines solchen – ist die Bezeichnung Lernweg bereits auf der ersten Textseite zu finden. Es steht im Kontext Seelsorge, mit dem (persönlichen) Schwerpunkt der Autorin auf der evangelischen Kirche, wobei aktuelle Entwicklungen anderer Kirchen aufgegriffen werden.
Autor
Dr. Kerstin Söderblom, ist Pfarrerin der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau. Sie arbeitet mit dem Schwerpunkt Hochschulseelsorge in Mainz und verfügt über Zusatzausbildungen als Supervisorin, Mediatorin und Coach. Seit vielen Jahren setzt sie sich, nach eigenen Angaben, für die Gleichberechtigung queerer Menschen in der Kirche ein.
Entstehungshintergrund
Die Autorin, die sich gleich im Vorwort des Buches als „offen lesbisch lebende Pfarrerin“ outet, hat zahlreiche queere Menschen in der Seelsorgearbeit begleitet. Im Rahmen einer dreimonatigen Studienzeit hat sie ihre Erfahrungen in Buchform aufbereitet. In „Queersensible Seelsorge“ leistet die Autorin den – nicht einfachen – Brückenschlag zwischen der Exegese, der Pastoral und queeren Perspektiven.
Aufbau und Inhalt
Das Buch besteht, nach einem persönlichen Vorwort der Autorin, aus einem „Fünf-Schritt“: dem „Einordnen“ (Kap. I), „Wahrnehmen“ (Kap. II-III), „Verstehen“ (Kap. IV-V), „Umsetzen“ (Kap. VI-VII) und „Deuten“ (Kap. VIII). Mit einem Glossar – bei dem die verwendeten queersensiblen Begriffe mit Definitionen des LSVD (Lesben- und Schwulenverband Deutschlands) verständlich erläutert werden –, Selbstreflexionsfragen sowie einer Checkliste für „Safe(r) Spaces“ in der Seelsorge und einigen größtenteils aktuellen Büchern und Fachartikeln kommt das Buch zu seinem Fazit. Eine persönliche Danksagung der Autorin bildet den Schluss.
Das Buch verfügt über eine klare und nachvollziehbare Gliederung, durch das vorzeitige Klären von Begrifflichkeiten gewinnt das Buch deutlich an Lesbarkeit. Der Autorin gelingt es, „Clobber Passages“ (Totschlagpassagen) überzeugend zu entkräften. Dies scheint für queere Menschen besonders wichtig zu sein, um andere Menschen und auch Mitglieder in Kirchengemeinden zur Übernahme ihrer Perspektive einzuladen, wie beispielsweise im ersten Fallbeispiel zu sehen ist. Schließlich werden diese Passagen oft als Legitimation für die Queerfeindlichkeit in der Kirche und unter Gläubigen verwendet.
Womöglich stolpern die Leser:innen über die Schreibweise „G:tt“. Doch darin besteht ein niederschwellig-sprachsensibler Weg, Gott als nicht binäres Wesen auszudrücken, den die Autorin im Buch konsequent geht. Mit dieser sprachlichen Intervention werden gewohnte und eingeprägte Denkmuster irritiert. Besonders eindrücklich sind die Fallbeispiele, die sich als verbindende praktische Linie durch das Buch ziehen. Diese wurden aus Erinnerungsprotokollen der Autorin anonymisiert verschriftlicht. Anhand dieser konkreten Erfahrungen, persönlichen Herausforderungen und Gedanken wird eindrucksvoll deutlich, wie belastend es sein kann, im kirchlichen Umfeld queer zu sein – bzw. es zu leben. Durch die unterschiedlichsten Personen und Perspektiven wird zusätzlich deutlich, wie viele (verschiedene) Menschen unter traditionellen Denkmustern leiden.
Insbesondere die Predigten der Autorin sind – weil erkennbar nicht am Reißbrett verfasst – leidenschaftlich, authentisch und zum großen Teil mitreißend. Söderblom geht selbstbewusst hartnäckig, aber nicht hart vor. Ihr gelingt eine sehr lesenswerte Mischung auch Sachlichkeit und Emotion – denn nur eine solche, fein abgestimmte Mischung wird dem Thema gerecht.
Diskussion
Der induktive Zugang, sowohl durch die eigene, persönliche Standortbestimmung der Autorin wie auch durch die authentischen Fallbeispiele queerer Menschen, macht das Buch zu einer besonderen Basisliteratur hinsichtlich des Themas. Ein fruchtbares Aufgreifen und Fortschreiben wären wünschenswert, vorrangig auf der pastoralen Ebene. Denn nur wenn sich viele authentisch zu Wort melden, wird – so der Wunsch der Autorin – eine „queersensible Pastoraltheologie der Vielfalt“ (S. 149) eine transformative Kraft – biblisch dynamis – entfalten können.
Die Transformation von Systemen, vor allem aber von Werthaltungen und Glaubenssätzen, geht nicht über Nacht. Der lange Atem dazu wird immer zunächst den Betroffenen abverlangt. Diese sollten sich aber nicht mit PR-Kampagnen oder reaktiven Maßnahmen zufriedengeben. Der entsprechende Seitenblick auf die katholische Kirche in Deutschland (S. 26 ff.) klingt hier etwas euphemistisch. Denn aus den – wie hier mit Verweis auf #OutInChurch – angeführten Reaktionen der Bistümer, wohlgemerkt unter Druck der Öffentlichkeit entstanden, arbeitsrechtliche Konsequenzen für queere Mitarbeitende auszusetzen, lässt sich noch keine Änderung der kirchlichen Sexualmoral und des Kirchenrechts antizipieren. Vielmehr müsste gefragt werden, weshalb eine Körperschaft öffentlichen Rechts überhaupt ein eigenes Arbeitsrecht unterhält, das – zumindest bis zu der wichtigen Aktion im Frühjahr 2021 - innerhalb der rechtsstaatlichen Verfasstheit unseres demokratischen Staates Mitarbeitende diskriminieren durfte/darf.
In mehreren Passagen (z.B. S. 27) wird auf queerfeindliche Haltungen, Äußerungen oder auch subtile Anfeindungen in Gemeinden hingewiesen. Ohne diese wichtige Beobachtung und damit den Erfahrungsschatz der Autorin in Frage zu stellen, könnte diese – wiederholte – Erwähnung bei Leser:innen suggerieren, dass Gemeindemitglieder die Ursache von Queerfeindlichkeit sind. Zu dieser Wahrnehmung gehört auch die Wahrheit, dass über Jahrhunderte hinweg lebensfeindliche, am Evangelium eines Jesus von Nazareth vorbeigehende, mehr noch: sich am Gott des Lebens und der Liebe sich versündigende Menschenbilder von den Kanzeln der Kirchen dieser Welt in die Mindsets und Seelen der Christ:innen gepredigt wurden. Diese alte Last von Glaubenssätzen sitzt womöglich zu tief, als dass sie in wenigen Jahren oder auch nur einer Generation nicht mehr wirkmächtig wäre. Auch an diesem – systemischen und heiklen – Punkt ist (und bleibt) insofern viel Sensibilität vonnöten; jedoch nicht nur gegenüber Queeren.
Queersensible Seelsorge ist kein Konzept, sondern eine Notwendigkeit. Darauf macht dieses – gleichnamige – Buch in aller Deutlichkeit aufmerksam. Man kann verschiedener Meinung darüber sein, inwiefern „Betroffenheitspädagogik“ heute noch „funktioniert“ – die zitierten Fallbeispiele machen betroffen, und nicht nur diese. „Queersensible Seelsorge“ ist eine fundierte, wenngleich persönliche – was in diesem Zusammenhang aber der Qualität nicht abträglich ist –, leidenschaftliche und zugleich sachliche Reflexion dieser Notwendigkeit.
Das Buch zeigt auf, wie queersensible Seelsorge – als: „Sprachschule für Selbstwert und gesellschaftliches Handeln“ (S. 146) – möglich ist und wie sie sprach- und geschlechtssensibel ablaufen kann.
Fazit
Insgesamt handelt es sich bei „Queersensible Seelsorge“ um ein äußerst vielseitiges Buch: Die Thematik des Queer-seins wird selbstbewusst und selbstverständlich entfaltet – noch wichtiger: wie man damit im kirchlichen Rahmen umgeht, wird mithilfe vieler verschiedener Erzählungen und einer guten Mischung aus Praxis und Reflexion dargelegt. So werden Predigten queer erzählt, Seelsorgegespräche nacherzählt oder beispielsweise auch vom Todesfall eines heimlich Schwulen berichtet.
Rezension von
Prof. Dr. Thomas Hanstein
Theologe und Pädagoge; Diakon und Berufsschul- sowie Hochschullehrer; wissenschaftlicher Leiter am Lehrerseminar; Studiengangsleiter; Business-, Team und Lehrcoach; Buchautor
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Es gibt 5 Rezensionen von Thomas Hanstein.
Zitiervorschlag
Thomas Hanstein. Rezension vom 08.09.2023 zu:
Kerstin Söderblom: Queersensible Seelsorge. Vandenhoeck & Ruprecht
(Göttingen) 2023.
ISBN 978-3-525-60013-9.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30577.php, Datum des Zugriffs 19.01.2025.
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