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Boris Cyrulnik: Die mit den Wölfen heulen

Rezensiert von Dr. Hans-Adolf Hildebrandt, 07.06.2023

Cover Boris Cyrulnik: Die mit den Wölfen heulen ISBN 978-3-426-27900-7

Boris Cyrulnik: Die mit den Wölfen heulen. Warum Menschen der totalitären Versuchung so schwer widerstehen können | Der Bestseller des international anerkannten Neuropsychiaters. Droemer Knaur (München) 2023. 240 Seiten. ISBN 978-3-426-27900-7. D: 24,00 EUR, A: 24,70 EUR.

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Thema

Das Thema des Buches ist brandaktuell in einer Zeit, in der rechtsradikale, demokratiefeindliche Gruppierungen in Deutschland Zulauf haben und autoritäre, lebensfeindliche Staatensysteme das Weltgeschehen bestimmen. Cyrulnik beschäftigt sich in seinem Buch mit der Pathologie der Normalität und zeigt auf, dass die Mehrheit der Mörder unter psychologischen Gesichtspunkten keine krankhaften Persönlichkeitsstrukturen aufweisen, also nicht geisteskrank sondern normal sind. Er geht in seinen Ausführungen ausführlich darauf ein, wie durch die Indoktrination diktatorischer Regime bereits die Seelen junger Kinder beeinflußt und die Identität der Menschen geprägt wird. Cyrulnik, dessen Eltern in den Vernichtungslagern der Nazis starben und der selbst in jungen Jahren nur mit Glück seiner Ermordung entging, läßt den Gedanken zu, dass unter dem Verdikt der Pathologie der Normalität auch er selbst ein fühlloser Henker oder Schreibtischtäter hätte sein können.

Autor

Der Autor ist ein französischer Neurologe, Psychiater, Studiendirektor der Fakultät der Humanwissenschaften der Universität Toulin, Inhaber des Lehrstuhls für Ethologie. Cyrulnik ist vor allem für seine Arbeiten zum psychologischen Konzept der Resilienz bekannt geworden. Er versucht zu verstehen, welche Erfahrungen den Menschen in die Lage versetzen, Hass und Hetze zu widerstehen.

Entstehungshintergrund

Cyrulniks Kindheit war geprägt von der Gewaltherrschaft der Nationalsozialisten, aber auch von der Erfahrung, dass Mensch sich diesem Haß offen entgegenstellten, manchmal auch einfach nur wegsahen, um ihr Leben zu retten. Als Heranwachsender erlebte er, dass die Mehrheit der Menschen die Gräueltaten der Nazis verschwiegen und verleugneten und niemand von den Erlebnissen des kleinen Jungen wissen wollte. Daher begann er erst mit 46 Jahren über diese Zeit zu sprechen und zu schreiben.

Aufbau und Inhalt

Das Buch ist in drei Dutzend Kapitel mit zum Teil prosaisch anmutenden Titeln gegliedert, die ein breites und auf den ersten Blick unsystematisch erscheinendes Themenspektrum abdecken. Sucht man nach einem roten Faden, so ist er vor allem darin zu erkennen, dass der Autor an verschiedenen historischen Beispielen die äußeren Einflüsse und subjektiven Voraussetzungen darstellt, die zu einer unreflektierten Anerkennung gesellschaftlicher Machtverhältnisse führen in dem Bemühen der Individuen um Anpassung und im Bestreben, zur vermeintlichen Mehrheit dazu zu gehören. In zahlreichen Episoden mit mehr oder weniger bekannten Persönlichkeiten der Geschichte zeichnet er den Verlauf des erstarkenden Antisemitismus ebenso wie die Ausprägungen der Resistancen nach. Dabei analysiert er auf unkonventionelle Weise die psychischen, meist unbewußten Prozesse eines auf dem Wunsch nach Unterordnung basierenden Zugehörigkeitsgefühls, das Menschen zu Komplizen von Tyrannen werden läßt, um ihre Persönlichkeit zu stützten. Zugleich verbindet er seine theoretischen Überlegungen mit eigenen Erfahrungen aus der Nazizeit und läßt den Leser daran teilhaben, wie er versucht den Schrecken des Hasses zu verstehen, um auf diese Weise den Aggressor besser beherrschen zu können. „Ich musste Wissenschaftler werden, um den Nazismus zu bekämpfen“ (S. 21). Cyrulnik lässt den Leser daran Anteil nehmen, wie er zu der Überzeugung kommt, dass auch schwerste Traumatisierungen überwunden werden können und dass „auch ein von der Gesellschaft ausgeschlossenes Kind das Abenteuer des Menschseins wagen kann, wenn auch notgedrungen als Außenseiter“ (S. 24). An zahlreichen Beispielen zeigt er auf, dass die von der wahrnehmbaren Realität gelöste Sprache unser Denken beeinflußt und mit technischen Termini eine Entpersönlichung erzeugt wird, die eine Verrohung erleichtert.

Diskussion

Der Titel des Buches bringt Cyrulniks Kernthese pointiert zum Ausdruck: „Wer keine innere Freiheit erwerben konnte, ist froh, wenn er sich einem Beschützer unterwerfen kann, der einem die Wahrheit sagt und einem Hoffnung gibt, vorausgesetzt, man gehorcht ihm…“ (S. 103). Der Autor erkennt zwar im Versagen des Bildungssystems und der Kultur die wesentliche Bedingungen der Verrohung, bleibt jedoch bei der Suche nach den Ursachen dieses Phänomens bedauerlicherweise zu sehr auf der Oberfläche der Psychodynamik. Denn es stellt sich die Frage, ob der Drang nach Konformismus, nach Unterwerfung tatsächlich ein so mächtiges Movens zur Erklärung von Haß und Gewalt ist, wie vom Autor dargestellt. Ob das Innenleben also tatsächlich immer abhängig ist von der Außenwelt. Hier ist an Freuds innerhalb der Psychoanalyse heute noch umstrittenes Konzept des Todestriebs zu denken. In „Jenseits des Lustprinzips“ stellt Freud bekanntlich dem Lebenstrieb eine fundamental entgegengesetzte Kategorie, den Todestrieb gegenüber, der den Menschen in einen anorganischen Zustand zurückführt. Dieser Destruktionstrieb, Bemächtigungstrieb, Wille zur Macht schien Freud so mächtig im Wesen des Menschen angelegt zu sein, dass er durch die dünne Schicht der Kulturleistung nur mühsam in Schach zu halten sei. Um bei der Titel-Metapher von Cyrulnik zu bleiben ließe sich Freuds Konzeption des Todestriebs als unentrinnbares menschliches Schicksal mit „Homo homini lupus est“ – Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf formulieren. Der Antagonist zu Anpassung und Unterwerfung, so führt Cyrulnik aus, ist die Entwicklung innerer Freiheit, die Förderung differenzierten Denkens, Mut zur Eigenverantwortung und die Schaffung von Entwicklungsfreiräumen: „Eine ebenso klare wie schmerzhafte Entscheidung: Wer den Weg der inneren Freiheit einschlägt, wird vielleicht seine Freunde verlieren. Wird von seinen Lieben gehasst werden, so wie Hannah Arendt. Selbstständiges Denken bedeutet Vereinzelung.“ (S. 219). Eine Voraussetzung für diese Entwicklung sind Schutzräume, die Zweifel zulassen, aber auch sichere Bindungen in jungen Jahren, denn nur Selbstsichere stellen Befehle kritisch in Frage.

Abschließend bleibt nur ein Einwand gegen Cyrulniks Ausführungen. Die Auswirkungen der Auflehnung der 1968er Generation gegen die Unterwerfung und Anpassung verlangenden Autoritäten war aus meiner Sicht nicht ein größeres Maß an Freiheit, sondern ein Wandel der autoritären Strukturen. Sie wurden undifferenzierter, anonymer, ihre Auswirkungen schwerer zu erkennen und damit entzogen sie sich der bewußten Wahrnehmung. So hoch Cyrulnik die Macht des Konformismus einschätzt, so wenig Beachtung schenkt er gesellschaftlichen Entfremdungsprozessen und ihren Auswirkungen auf autoritäre Strukturen.

Fazit

Cyrulnik propagiert mit seinem Buch eine Wahrheit, die heute genauso unbequem ist wie in der Nazizeit. Um Tucholski zu zitieren: „Denn nichts ist schwerer und nichts erfordert mehr Charakter, als sich in offenem Gegensatz zu seiner Zeit zu befinden und laut zu sagen: Nein.“ (Die Verteidigung des Vaterlandes, in: Die Weltbühne, 6. Oktober 1921, S. 338f)

Rezension von
Dr. Hans-Adolf Hildebrandt
Diplom-Pädagoge, M.A., Kinder- und Jugendpsychotherapeut ­(bkj, DFT), Gruppenanalytischer Organisationsberater, und Diplom-Supervisor (D3G, DGSv), Gruppenpsychotherapeut (D3G), Forensischer Sachverständiger Familienrecht (IQfSV)
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Es gibt 11 Rezensionen von Hans-Adolf Hildebrandt.

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Zitiervorschlag
Hans-Adolf Hildebrandt. Rezension vom 07.06.2023 zu: Boris Cyrulnik: Die mit den Wölfen heulen. Warum Menschen der totalitären Versuchung so schwer widerstehen können | Der Bestseller des international anerkannten Neuropsychiaters. Droemer Knaur (München) 2023. ISBN 978-3-426-27900-7. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30585.php, Datum des Zugriffs 08.09.2024.


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