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Johanna Wessels, Andreas Langer et al. (Hrsg.): Desorganisiertes Leben im interdisziplinären Kontext

Rezensiert von Mandy Kretzschmar, 12.07.2023

Cover Johanna Wessels, Andreas Langer et al. (Hrsg.): Desorganisiertes Leben im interdisziplinären Kontext ISBN 978-3-7799-6515-2

Johanna Wessels, Andreas Langer, Lea Acker (Hrsg.): Desorganisiertes Leben im interdisziplinären Kontext. Bedarfe, Konzepte, Versorgungslücken und soziale Arbeit. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2022. 249 Seiten. ISBN 978-3-7799-6515-2. D: 29,95 EUR, A: 30,80 EUR.

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Thema

In diesem Buch ermöglichen die Autor:innen einen interdisziplinären Blick auf desorganisierte Wohnverhältnisse von Menschen, besser bekannt als Messie-Syndrom. Unter einem desorganisierten Leben versteht man das Ansammeln von Dingen in einem Maß, in einem Umfang oder in einer Art und Weise innerhalb einer Wohnung, dass dies als ein persönliches oder öffentliches Gesundheits- und Sicherheitsproblem angesehen wird. Das Leben der Betroffenen, gesteuert durch das Sammeln und Horten von Gegenständen, wird begleitet von hochkomplexen Problemlagen, die weit über die Wohnsituation hinausgehen.

Herausgeber:in

Johanna Wessels, M.A. Soziale Arbeit, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin für Angewandte Wissenschaften Hamburg und Projektleitung des Projektes Dele: Unterstützung für desorganisiertes lebende Menschen in Hamburg. Johanna Wessels hat von 2017 bis 2020 hat im HAW-Forschungsprojekt „adele – SIL – QUAFH 2016 (Wieder-)Eingliederung alter, desorganisierter lebender Menschen in das Hilfe- und Unterstützungssystem“ als wissenschaftliche Mitarbeiterin und Projektkoordinatorin gearbeitet.

Prof. Dr. Andreas Langer, Professor für Sozialwissenschaften an der HAW Hamburg und hat das HAW-Forschungsprojekt „adele – SIL – QUAFH 2016 (Wieder-)Eingliederung alter, desorganisierter lebender Menschen in das Hilfe- und Unterstützungssystem“ geleitet.

Lea Acker, B.A. Soziale Arbeit, stellvertretende Leitung des Projektes Dele: Unterstützung für desorganisiertes lebende Menschen in Hamburg. Lea Acker hat von 2018 bis 2020 im HAW-Forschungsprojekt „adele – SIL – QUAFH 2016 (Wieder-)Eingliederung alter, desorganisierter lebender Menschen in das Hilfe- und Unterstützungssystem“ als studentische Hilfskraft gearbeitet.

Entstehungshintergrund

Die Intention dieses Buches ermöglicht einen Perspektivwechsel auf ein Problem, das zum einen medial stigmatisiert wird und andererseits geringfügig in den Fokus der Hilfelandschaft genommen wird. Beruhend auf dem anwendungsbezogenen HAW-Forschungsprojekt adele „(Wieder-)Eingliederung alter, desorganisierter lebender Menschen in das Hilfe- und Unterstützungssystem“ und einer Fachtagung, welche mit dem Arbeitstitel „Desorganisiertes Wohnen in Hamburg – Bedarfe, Konzepte, Versorgungslücken und Soziale Arbeit“ am 21. November 2019 stattgefunden hat, ist das Buch entstanden.

Aufbau

Das Buch ist nach einer thematischen Einführung und einem Vorwort vom Bundesverband der Berufsbetreuer/​innen e.V. in elf Abschnitte gegliedert:

  1. Desorganisiertes Leben – Hintergründe einer komplexen Lebenslage
  2. Desorganisiertes Wohnen – Zum Umgang mit Menschen in riskanten oder vulnerablen Lebenslagen
  3. Raumtheoretische Grundlagen des Wohnens für eine Neuausrichtung der Reflexion Sozialer Arbeit
  4. Der Bedarf struktureller Dienstleistungsentwicklung am Beispiel desorganisierten Wohnens
  5. (Wieder-) Eingliederung rechnet sich – Eine Soziale Ertragsrechnung für ein Angebot bei Wohnungsdesorganisation
  6. Die gesundheitliche Situation desorganisiert lebender Menschen
  7. Psychoanalytische Aspekte des pathologischen Hortens
  8. Desorganisation in Verbindung mit geistiger Behinderung und Sozialer Arbeit
  9. Rechtliche Betreuung – Potenziale und Grenzen eines Handlungsfeldes der Sozialen Arbeit im Kontext desorganisierten Wohnens
  10. Partizipation und individuelle Begleitung als Kernelemente der Peer-Unterstützung desorganisiert lebender Menschen
  11. Projekt Dele- Ein Praxisbeispiel zur Unterstützung desorganisiert lebender Menschen in Hamburg

Inhalt

Jana Wessels vermittelt in Kapitel 1 zu den Hintergründen und Grundlagenwissen des Phänomens desorganisiertes Wohnen anhand von Definitionen, Formen, Merkmalen, Erklärungsansätzen und deren Auswirkungen. Die Autorin möchte für die heterogene und hochkomplexe Lebenslage sensibilisieren und akzentuiert die komplexe psychosoziale Problemlage der betroffenen Menschen:

  • Wohnraumerhaltung und Wiederherstellung der gewünschten Wohnfunktion
  • Wiederherstellung der Selbstversorgung und Alltagsbewältigung
  • Finanzielle Sicherung
  • Gesundheitssorge
  • Identitätsbildung
  • Wiederherstellung der Handlungsfähigkeit
  • Verbesserung der Beziehungsfähigkeit
  • Sicherung sozialer Teilhabe

In Kapitel 2 werden Vulnerabilitäten im Kontext desorganisiertes Wohnen dargelegt. Die Autor:innen zielen auf die Gewinnung von Impulsen aus der sozialarbeiterischen Perspektive für einen vulnerabilitätssensiblen Umgang mit den Betroffenen. Für die Soziale Arbeit liegt die Herausforderung darin, die Komplexität der dahinterliegenden biografischen Prozesse in Wechselwirkungen mit bestehenden sozialen Gegebenheiten zu berücksichtigen und die resultierenden Problemsituationen nachhaltig zu bearbeiten. Dahingehend werden wechselseitig miteinander verbundene Aspekt in Bezug auf das desorganisierte Wohnen von den Autor:innen näher betrachtet:

  • Lebensweltliche Betrachtung von Vulnerabilitäten im desorganisierten Wohnalltag
  • Vulneranz und Ausgrenzung in der Unterstützung desorganisiert lebender Personen

In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass die Autor:innen sich mit den Aspekten der Selbstbestimmung und der advokatorischen Ethik auseinandersetzen in der Betrachtung eines partizipativen Umgangs mit den Betroffenen. „Am Ende geht es um den pädagogischen Takt, der zwischen ‚Tun-Müssen‘ und ‚Lassen-Dürfen‘ steht“ (Angermeier/​Ansen, S. 56).

In Kapitel 3 geht Annette Beyer auf die Raumtheoretischen Grundlagen des Wohnens für eine Neuausrichtung der Reflexion Sozialer Arbeit ein, spezifischer aus den genannten Phänomenen interdisziplinäre Perspektiven analysiert und für die Soziale Arbeit anschlussfähig gemacht. Im Vordergrund der Diskussion […] „ergibt sich die leitende Fragestellung nach Anschlusspunkten, die eine wohntheoretische Perspektive für ausgewählte sozialarbeitswissenschaftliche Theorien bietet“ (Beyer, S. 60). Dahingehend werden für die Soziale Arbeit institutionelle Rahmenbedingungen und interaktionsbezogene Erkenntnisse dargelegt:

  • Wohnen zwischen Sozialhandeln und Sozialraum
  • Kernpunkte interdisziplinärer wohntheoretischer Perspektiven aus Sicht der Erziehungswissenschaften und anhand multidisziplinärer theoretischer Zugänge
  • Das Desiderat wohnungstheoretischer Diskurse
  • Grenzfälle und Herausforderungen des Wohnens als Handlungsaspekte für die Soziale Arbeit

Hervorzuheben sind Aspekte Sozialer Arbeit, die noch keine eindeutige Antwort auf den Umgang mit den Herausforderungen haben und sich mit deren Entwicklungen und Auswirkungen kritisch reflexiv auseinandersetzen.

Andreas Langer geht in Kapitel 4 der Frage nach den Bedarfen desorganisiert lebender Menschen nach, welche in den Streit um Definitionshoheiten, Marginalisierung, Finanzierbarkeit, Zuständigkeit und gesellschaftlicher Akzeptanz bzw. Legitimation von diversifizierter Lebensführung und Lebenslagenbeeinträchtigungen eingebettet sind.

Nach Klärung des Konzeptes Bedarf werden anhand des Forschungsprojektes adele folgende Bedarfslagen deutlich:

  • vielschichtiger, hochkomplexer Hilfebedarf erfordert spezialisierte Fachkräfte Sozialer Arbeit
  • Notwendigkeit einer Intervention aufgrund struktureller Exklusionsrisiken
  • Sekundäre Bedarfe als strukturelles Element moderner professionalisierter Hilfe- und Unterstützungssysteme – das Modernisierungsparadoxon sozialer Dienstleistungen

Hervorzuheben sind abschließende Erläuterungen von Andreas Langer zu Flexibilitäten von Handlungsansätzen.

In Kapitel 5 schlüsselt Susanne Vaudt im Rahmen des adele- Forschungsprojektes begleitende SROI-Kalkulation auf. Im Zuge der Ökonomisierung Sozialer Arbeit geht es zunehmend um Fragen der effizienten Leistungserbringung sozialer Dienste und um deren Outcome. Eine Form der Wirkungsbemessung sind soziale Ertragsrechnungen, die den Social Return on Investment (SROI) eines Leistungsangebotes ermitteln. Susanne Vaudt führt anhand eines Fallbeispieles fallspezifische Berechnungen angefallener adele- Personal- und Sachkosten durch und vergleicht sie mit den durch Angebotsnutzung mittel- und langfristig eingesparte Folgekosten.

In Kapitel 6 gehen die Autor:innen näher auf die gesundheitliche und soziale Situation vor und nach dem Versterben von desorganisiert lebenden Menschen ein. Dabei werden zwei verschiedene Perspektiven und Zugänge betrachtet, die im Forschungsprojekt adele hervorgetreten sind. Zum einen wurden Aktenarchive des Landeskriminalamtes aus dem Jahr 2017 und somit verstorbene Betroffene im Rahmen einer Masterthesis im Fachbereich Soziale Arbeit (2020) ausgewertet. Des Weiteren befasste sich ein Teil der Autor:innen mit der gesundheitlichen Situation lebender desorganisierter Menschen. In beiden Perspektiven zeigte sich eine dringender Unterstützungsbedarf und die fehlende Daseinsvorsorge gegenüber einer vulnerablen Minderheit auf.

Die psychoanalytischen Aspekte des pathologischen Hortens werden in Kapitel 7 in einem Abriss dargestellt. Kern dieses Beitrages ist der Blick auf die Entstehung und Ursachen des pathologischen Hortens und mögliche Behandlungskonzepte.

Kapitel 8 greift ein in der Fachliteratur bisher wenig beachtetes Thema auf und widmet sich der Desorganisation in Verbindung mit geistiger Behinderung und Sozialer Arbeit. Lea Acker geht dabei auf Begriffsbestimmungen, Assistenzleistungen und Aspekte der Selbstbestimmung sowie Bewältigung von Alltagsstrukturen in Verbindung mit einer geistigen Behinderung ein. Hervorzuheben ist die Rolle der Fachkräfte Sozialer Arbeit und anderer Disziplinen.

Veronica Pott geht im Kapitel 9 dem Verständnis des Handelns im Feld der rechtlichen Betreuung im Kontext desorganisierten Wohnens nach. Dahingehend werden Potenziale und Grenzen des Handlungsfeldes Soziale Arbeit akzentuiert:

  • Abriss der Entwicklung von Vormundschafts- und Betreuungsrecht
  • Handlungsmöglichkeiten rechtlich Betreuender und spezifische Herausforderungen bei einer Betreuung von desorganisiert lebenden Menschen

Zur abschließenden Veranschaulichung wird im Rahmen eines Fallbeispieles das Spannungsfeld zwischen Selbstbestimmung und Fürsorge authentisch dargelegt.

In Kapitel 10 sind Aspekte von Partizipation und individuelle Begleitung als Kernelemente der Peer-Unterstützung desorganisiert lebender Menschen hervorzuheben, welche im Zuge des Forschungsprojektes adele in der Zusammenarbeit mit dem tätigen Genesungsbegleiter und selbst Betroffener des Phänomens wahrgenommen wurde. Aus einem Interview mit Reiner Ott hervorgegangenen Erkenntnisse und Einschätzungen kommt dem Ansatz des Service-User-Involement nach und vervollständigt die Interdisziplinarität des Buches.

Im letzten Kapitel stellen die Autor:innen das Projekt Dele – ein Praxisbeispiel zur Unterstützung desorganisiert lebender Menschen in Hamburg vor. Im Projekt Dele werden Menschen in desorganisierten Lebensverhältnissen beraten, unterstützt, begleitet und vernetzt. Eine Umsetzung geschieht im Interaktionskontakt mit den Betroffenen und Ratsuchenden im Rahmen eines viersäuligen Unterstützungsangebotes:

  • Biografisch orientierte, individuelle und aufsuchende Teilhabebegleitung
  • Offen und niedrigschwellige Sprechstunde
  • Fokussierte Kurzzeitintervention
  • Partizipativer Begegnungsräume im Rahmen von Gruppenangeboten

Das laufende Projekt Dele fungiert seit 2021 als Teilhabebegleiter sowie Kooperations- und Netzwerkpartner in einer Brückenfunktion zur Optimierung der Versorgungsstrukturen der Zielgruppe desorganisiert lebender Menschen.

Diskussion

Die didaktische Aufarbeitung des Buches ist hervorragend und sehr gut nachvollziehbar, trotz ihrer unterschiedlichen Zugänglichkeit der Beiträge, die als vergleichsweise voraussetzungsreich gekennzeichnet werden können, als auch jene, die einen barriereärmeren Zugang ermöglichen. Die anwendungsbezogenen und anschaulich dargestellten Beiträge werden durch Tabellen und Abbildungen unterstützt. Eine interdisziplinäre Auseinandersetzung mit dem Thema der Desorganisation und ein Nebeneinanderstellen unterschiedlicher Denkansätze würde die internationale Forschungslandschaft befruchten und Möglichkeiten bieten, den eigenen Blick zu erweitern. In der Art, wie die Autor:innen dieses Buch konzipiert haben, bietet es einen wertvollen Beitrag in der interdisziplinären Herangehensweise.

Fazit

Die Autor:innen schaffen eine Ausgewogenheit von methodologisch-theoretischer Tiefe und Praxisnähe und zeigen verschiedene Methoden und Anregungen zu Handlungsansätzen der Sozialen Arbeit mit den Betroffenen auf. Das Buch bietet einen einführenden, aber vollständigen, horizontalen Überblick über das Thema und erweist sich als einen nützlichen Wegweiser für die Leser:innenschaft.

Rezension von
Mandy Kretzschmar
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Es gibt 17 Rezensionen von Mandy Kretzschmar.

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Zitiervorschlag
Mandy Kretzschmar. Rezension vom 12.07.2023 zu: Johanna Wessels, Andreas Langer, Lea Acker (Hrsg.): Desorganisiertes Leben im interdisziplinären Kontext. Bedarfe, Konzepte, Versorgungslücken und soziale Arbeit. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2022. ISBN 978-3-7799-6515-2. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30594.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.


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