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Michael Klöpper (Hrsg.): Emotional - Reflexiv - Implizit

Rezensiert von Dr. phil. Ulrich Kießling, 15.05.2023

Cover Michael Klöpper (Hrsg.): Emotional - Reflexiv - Implizit ISBN 978-3-608-98708-9

Michael Klöpper (Hrsg.): Emotional - Reflexiv - Implizit. Wie wir in psychodynamischen Prozessen wirksam werden. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2023. 408 Seiten. ISBN 978-3-608-98708-9. D: 45,00 EUR, A: 46,30 EUR.

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Thema

Die psychodynamische Psychotherapie wird zwar in der deutschen Psychotherapierichtlinie immer noch als psychoanalytisch begründetes Verfahren bezeichnet, aber mehr und mehr emanzipiert sich die dynamische Psychotherapie auch von der Psychoanalyse indem sie die alte Metapsychologie hinter sich lässt und an moderne psychodynamische Konzepte anknüpft. In diesem Gemeinschaftswerk von fünf Hamburger Psychotherapeuten und einer Therapeutin, überwiegend mit medizinischem Hintergrund (+zwei Psychologen) geschieht das auf eine geradezu radikale Weise.

Hier fließen ganz überwiegend nur Konzeptionen ein, die der relationalen Psychoanalyse entstammen: Historisch und zuallererst die Selbstpsychologie Kohuts, Daniel Stern und die Boston Change Process Study Group (BCPSG), intersubjektive Psychoanalyse (in der Lesart Stephen Mitchells), die Londoner Gruppe um Peter Fonagy, also die Vertreter der Bindungstheorie und sich an ihr angelehnten Mentalisierungsbasierten Psychotherapie, VertreterInnen der modernen Säuglingsforschung und der sich daraus ableitenden Konsequenzen (Lichtenberg, Dornes).

Herausgeber und AutorInnen

Michael Klöpper, Dr. Med., Facharzt für psychotherapeutische Medizin, Psychoanalytiker (DGPT), Gründungsvorsitzender, Lehranalytiker, Dozent und Supervisor an der Akademie für Psychoanalyse und Psychotherapie Hamburg (APH), war viele Jahre Mitglied des wissenschaftlichen Leitungsteams der Psychotherapiewochen auf Langeoog, Autor einschlägiger Fachbücher (Die Dynamik des Psychischen).

Ellen Reinken, Dr. med., Fachärztin für psychotherapeutische Medizin und Psychoanalytikerin, Traumatherapeutin (DeGPT; PITT), Ego-State-Therapeutin und Supervisorin, EMDR-Therapeutin, seit 2010 niedergelassen in Hamburg.

Chris Jänicke, Dipl. Psych., Psychoanalytiker in eigener Praxis in Berlin, Ausbildung in New York, Lehranalytiker, Dozent und Supervisor an der Arbeitsgemeinschaft für Psychoanalyse und Psychotherapie Berlin, Autor mehrerer Fachbücher zum Thema (Veränderungen in der Psychoanalyse. Selbstreflexionen des Analytikers in der therapeutischen Beziehung).

Theo Piegler, Dr. med., Nervenarzt, FA für Psychiatrie und Psychotherapie und Psychotherapeutische Medizin, vormals Aufbau und Leitung einer Abteilung zur Psychiatrischen Regelversorgung in Hamburg-Bergedorf, Dozent, Supervisor und Lehrtherapeut an verschiedener Hamburger Aus- und Weiterbildungsinstituten für Psychotherapie, Herausgeber und Autor diverser Publikationen.

Georg Teßmann, Dipl. Psych, Psychologischer Psychotherapeut, Psychoanalytiker (DGIP/DGPT), individualpsychologischer Supervisor (DGIP) und Psychodramatherapeut, Dozent und Supervisor und Lehrtherapeut an der Akademie für Psychoanalyse und Psychotherapie Hamburg (APH), in eigener Praxis tätig.

Johannes Warneboldt, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie (TP), Schwerpunkt Traumatherapie (Ego-State-Therapie, PITT, EMDR) in Hamburg niedergelassen seit 2008, war beteiligt an Projekten zur Versorgungsforschung, Klinik und Poliklinik für Psychosomatik und Psychotherapie, Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf.

Entstehungshintergrund

Nachdem die Selbstpsychologie im Gefolge Heinz Kohuts und die relationale Psychoanalyse in der Tradition Stephen Mitchells mit der triebpsychologischen Metapsychologie im Gefolge Freuds, schon in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts brach, entwickelte sich seit den 90er Jahren eine psychodynamische Psychotherapie durch die Integration der Säuglingsforschung, der Bindungstheorie, aktueller Erkenntnisse in der Neurobiologie sowie durch die intersubjektive Wende der Psychoanalyse. Neue Ergebnisse der Psychotherapieprozessforschung belegten die Evidenz dieser Verfahren, ohne dass das in der Lehre und Praxis seinen angemessen Niederschlag gefunden hätte.

Die AutorInnen [1] dieses spannenden Fachbuchs machen nun ernst und entwickeln für die Psychoanalyse und die dynamische Psychotherapie eine theoretische Fundierung vor allem was die klinische Theorie und die Behandlungspraxis angeht. Gelegentliche Rückgriffe auf Freud zeigen, dass seine Texte mit Gewinn neu interpretiert werden können, alte Zöpfe wie die psychoanalytische Entwicklungslehre die Theorie der Neurosenentstehung und die traditionelle psychoanalytische Behandlungstheorie werden überwunden, wenn sie nicht mehr in Einklang mit dem aktuellen Stand der empirischen Forschung zu bringen sind (So etwa das Liegen auf der Couch, die 4. oder gar 5-Stündige Frequenz, die strenge analytische Abstinenz, die Verachtung empirischer Befunde aus den Nachbardisziplinen).

Aufbau/​Inhalt

Das Buch gliedert sich in zwei Teile:

  1. Die Basics der psychodynamischen Psychotherapie Theorie und Praxis (Klöpper, S 53-S. 200)
  2. Berichte aus den Werkstätten psychodynamischer PsychotherapeutInnen (S 201–372)

Der Anhang erschließt Anmerkungsapparat, Literaturverzeichnis und die Biographien der AutorInnen (S. 375–404).

Der erste Teil befasst sich mit der emotional-mentalen Arbeit des Therapeuten unter den beiden grundlegend unterschiedlichen Aspekten der wissenschaftlich fundierten Grundlagen und der steten stillen Arbeit an Übertragung und Gegenübertragung.

  • 2. Kapitel (Klöpper): Was hilft?-Theorie, Empirie, Fakten (aus der Welt der wissenschaftlichen Psychotherapieforschung)
  • 3. Kapitel (Klöpper): Mit welchem Verständnis unbewusster Prozesse wird gearbeitet
  • 4. Kapitel (Klöpper): Das konzeptionelle Verständnis des Selbst
  • 5. Kapitel (Klöpper): Differenziertes therapeutisches Arbeit im Fokus des psychodynamischen Verstehens
  • 6. Kapitel (Klöpper): Strukturelles Arbeiten als Arbeit im Fokus der Gegenübertragung

Nach dem 6. Kapitel fasst Klöpper die Essentials seiner entwicklungspsychologischen Fundierung zusammen: „Das konstitutionelle Selbst, mit dem ausgestattet das Kind geboren wird, verfügt (1.) über angeborene Prinzipien der Selbstorganisation seiner Struktur, (2.) über angeborene Fähigkeiten Kontingenzen (Verknüpfungen von Ereignissen) zu entdecken, (3) über eine primäre Aktivität, (4) ausgehend von primären Affekten, über das Bedürfnis nach (5) Selbstwirksamkeit sowie (6.) über die Fähigkeit zur Bindung“.

Hier sehen wir das Modell der „kompetenten“ Säuglings beschrieben, wie er etwa auch von Stern, Lichtenberg oder Dornes verstanden wird, im Unterschied zur klassischen psychodynamischen Entwicklungstheorie, die den Säugling für autistisch hält. Während die gesamte psychoanalytische Entwicklungstheorie und wichtige Teile der Metapsychologie auf die Entwicklung der psychosexuellen Stufen (oral, anal, phallisch und ödipal) zurückgeht, beschreibt Klöpper ein somatopsychisches und psychosomatisches Modell, das von Anfang an interpersonell begründet ist. Durch das markierte affektive Spiegel entsteht ein immer mehr ausdifferenziertes Selbst (vgl. Winnicott 1967, Fonagy & Target 2003), aus dem wiederum das epistemische Vertrauen als Voraussetzung der sicheren Exploration der Welt und der zwischenmenschlichen Beziehungen erwächst (Fonagy 2015). Diese Entwicklung setzt sich fort im interpersonellen Konzept der Entwicklung in der Psychotherapie. Die Deutung unbewusster Konflikte tritt dabei in den Hintergrund, vielmehr hat die Therapeutin einen ähnlichen Beitrag wie die Pflegeperson (eines Kindes) zur Verfügung zu stellen. In der Gegenübertragung erfasse die Therapeutin – zumindest partiell das in der Kindheit erworbene implizite Beziehungswissen. Dass Psychotherapeuten implizit wirksam werden, geschehe aufgrund der angeborenen Prinzipien der Organisation des selbst >von allein<.

Die Voraussetzung dieser Prozesse beschreibt Klöpper abschließend als „die Basics der Praxis der psychodynamischen Psychotherapien":

(1) Der Therapeutische Dialog beziehe die Kraft seines Voranschreitens daraus, dass zwei Elemente der therapeutischen Arbeit gleichwertig nebeneinanderstehen: „die intersubjektive Beziehung, in der zwei emotionale Welten miteinander in Kontakt treten, miteinander vertraut und verbunden werden und einander zunehmend implizit erfassen, sowie die psychisch-reflexive Arbeit, die beide im gemeinsamen Dialog leisten. Aus dieser gemeinsam geteilten, prozesshaft wiederholten Arbeit entsteht die implizite Wirkkraft der psychodynamischen Psychotherapie.“ (Klöpper S. 196)

(2) Unter 5 weiteren Überschriften folgen sehr komprimierte Beschreibungen des 2. Modells vom therapeutischen Dialog, bei dem Therapeuten die Aufgabe zufällt, mittels Achtsamkeit, Symbolisieren, Mentalisieren und Kontextualisieren die Beziehung, Übertragung und Gegenübertragung im Kontext zu kommunizieren. Der Patientin falle die Aufgabe zu, Psychisches in sich wahrzunehmen, zu symbolisieren und zu reflektieren, um es auf diese Weise in das Selbst-System zu integrieren und zu repräsentieren, d.h. es zu neuen Zeit- und Sinnzusammenhängen und zu bildhaft-szenischen Vorstellungen im Lebenskontext zusammenzufügen.

(3) Im therapeutischen Dialog werde das mikroepisodische Geschehen während der Sitzung vom Therapeuten, im Entstehen-Lassen von Resonanzphänomenen und Gegenübertragung sowie in der Haltung der achtsamen Wahrnehmung erfasst und symbolisiert (Holding) und zur Mentalisierung vorbereitet (Containment). Der Prozess der Mentalisierung erfolge in zwei Schritten, dem Auftauchen Lassen von Assoziationen, Fantasien und Erinnerungen (=Reverie=Mentalisierung im Als-ob-Modus) und der an Beziehungskontexten orientierten Reflexion. Es folgen 5 weitere Rubriken sehr verdichteter Handlungsanleitungen, die sich aus den ersten 6 Kapiteln ableiten lassen.

Was hier erstaunlicherweise sichtbar wird, ist, dass bei allen theoretischen Unterschieden besonders zu Freud und Klein sind doch die Modelle der therapeutischen Begegnung kaum zu unterscheiden. Ich nehme an, besonders Bion und Ferro könnten mit diesen Behandlungsempfehlungen sehr gut leben, obgleich ihr methodologischer und psychologischer Hintergrund völlig divergierend ausfallen würde. 

Prolog zum zweiten Teil: Die Macht relationaler Komplexe: Auch diese Einleitung zu den Kasuistik-Kapiteln stammt wieder aus der Feder Michael Klöppers. Er beschreibt im Wesentlichen den Prozess in der langjährigen Zusammenarbeit von KollegInnen, die heute an der Grenze zum Ruhestand stehen, und charakterisiert diese Zusammenarbeit als Entstehungsort ihrer gemeinsamen Theorie. Gemeinsamkeiten mit der „Boston Change Process Study Group“ sind augenfällig.

  • 7. Kapitel (Warneboldt): >>Botschaften aus dem Bauch. Über die Einsamkeit der Therapeuten am Beginn der Behandlungspraxis<<
  • 8. Kapitel (Teßmann): Die Arbeit am Widerstand aus intersubjektiver Perspektive
  • 9. Kapitel (Reinken): >>Die schwarze Frau. Die Analyse einer transgenerationalen Weitergabe über vier Generationen<<
  • 10. Kapitel (Jaenicke): >>>Eine intersubjektive Untersuchung der Bedürfnisse des Therapeuten<<
  • 11. Kapitel (Piegler): >>Der psychotherapeutische Prozess aus Patientenperspektive<<
  • 12. Kapitel (alle AutorInnen): Resümee

Diskussion

Während der ersten zweihundert Seiten des Buchs war ich entzückt, wie konsistent und lesbar jemand die doch sehr disparaten Theorien aus Entwicklungspsychologie, Bindungstheorie, Psychotherapieforschung, Psychobiologie der Veränderung und psychodynamischer Prozessforschung nicht nur zusammenfassen, sondern auch zu einer in sich geschlossenen luziden klinischen Theorie integrieren kann.

Er zeigt auf, dass nicht nur die Deutung der Übertragung und der hier verorteten Konflikte therapeutisches Potential entfalten können, sondern vielleicht sogar in größerem Ausmaß die implizite Begegnung in der unbewusst kodierte Beziehungserfahrungen auf dem Wege der Affektkommunikation miteinander in Austausch treten. Diese intersubjektiven (impliziten) Erfahrungen, die in Gegenwartsmomenten vertieft und geteilt werden, haben einen anderen therapeutischen Effekt als Deutungen, sie erweitern das implizite Beziehungswissen sowohl des Therapeuten wie der Patientin.

Die in den letzten Jahren sehr in den Vordergrund getretene Unterscheidung zwischen Struktur und Konfliktpathologie mit jeweils unterschiedlichen behandlungstechnischen Pfaden, scheint in der intersubjektiven Therapie weniger wichtig zu sein, allerdings steht die strukturbezogene Arbeit wie sie etwa Rudolf schildert, der intersubjektiven Therapie viel näher, steht doch die Intervention des markierten Spiegelns, ursprünglich aus der mentalisierungsbasierten Therapie stammend der intersubjektiven Therapie viel näher, als etwa die Konzepte aus der übertragungsfokussierten Therapie Kernbergs.

Die Therapeutische Arbeit ähnelt mit Stern einem gemeinsamen Vorangehen bei dem es zur affektiven Aufladung von Gegenwartsmomenten kommt. Gelingt die Regulierung der impliziten Beziehung nicht mehr und es kommt zu einer Zuspitzung, die als Now Moment bezeichnet wird (Stern 2002). Diese Now Moments führen zu einer affektiven Aufladung der interpersonellen Raums die von den Beteiligten als Augenblicke der Veränderung erlebt werden.

Hätte jemand die Befürchtung, dass psychodynamische Psychotherapie zwangsläufig veralten und aus dem Kontext der evidenzbasierten Therapien fallen könnte, so widerlegt Michel Klöpper diese Befürchtungen glänzend. Erst beim wiederholtem Durchdenken fällt auf, dass die Psychoanalyse als kritische Theorie der Gesellschaft und des Subjekts mit ihrer wesentlichen Dimension Kulturkritik kaum Berücksichtigung findet (vgl. Amy Allen 2023). Somit sind für die kritische Theorie [2] gerade die sperrigen [3] Arbeiten Freuds, Kleins und Lacans Grundlagen einer anthropologischen Subjekttheorie, weil sie die Subversion des Begehrens sichtbar machen und mehr sind als klinische Wissenschaft. Sie bedürfen keiner Revision in Anpassung an die evidenzbasierte Mainstreamwissenschaft, sondern einer zeitgenössischen Lesart, die den kritischen Stachel der Triebtheorie würdigt. Psychoanalyse und dynamische Psychotherapie sollten argumentationszugänglich bleiben und aufhören sich gegen jede Kritik zu immunisieren. Was Klöpper et al. für die Formulierung einer zeitgenössischen klinischen Theorie und Behandlungstechnik leisten ist beispielhaft, kommt aber ohne die gesellschaftliche Dimension der Psychoanalyse nicht aus.

Auf den folgenden zweiten Teil (Kapitel 7–10) reagierte ich fast schon etwas enttäuscht, zeigt sich doch hier, dass auch die AutorInnen der Fallstudien nur mit Wasser kochen und Fallschilderungen nicht über das hinausgehen, was wir auch in traditionellen psychodynamischen Theorien erwarten können. Eine kritische Auseinandersetzung mit psychoanalytischen Traditionen bewirkt eine klinische Theorie ohne gravierende Widersprüche [4]. Auch hier erscheint die zweifellos anspruchsvolle Praxis bemerkenswert ähnlich der Praxis anderer psychodynamischer Schulen, die teilweise stark divergierende klinische Konzepte vertreten (Kächele, pers. Mitteilung 2004).

Tatsächlich zeigen die Fallstudien aber auch wie ein kreativer Umgang mir zum großen Teil schwer gestörten und teilweise chronisch traumatisierten Menschen geleistet werden kann. Hier sehen wir keine Selektion von leicht erkrankten sozial besser Gestellten wie der Psychotherapie von der Psychiatrie gern vorgeworfen wird.

Da ist zu einen die reflektierte integrierte Verwendung von traumatherapeutischen und psychodynamischen Methoden. Neben der intersubjektiven Psychotherapie sind es verschiedene Techniken vor allem Traumatherapeutischer Provenienz, die benutzt werden, um Leidenszustände zu symbolisieren um einen Raum zu schaffen, in dem sich an schwer aushaltbaren emotionalen „Sackgassen“ bearbeitet werden können. Techniken wie die Arbeit am inneren Kind oder an sogenannten Egostates sind sicher mentale Konstruktionen die es möglich machen Themen therapeutisch zu bearbeiten die sich durch analytisches Verstehen nicht gut bewältigen lassen. Ob sich die transgenerationale Traumatisierung über vier Generationen (Elke Reinken) jedoch als Abbildung einer psychischen Realität verstehen lässt, oder einfach nur den Versuch eine Realität zu konstruieren der es der Patientin erlaubt sinnstiftend am erlittenen Leid zu arbeiten, bleibt meinem Verständnis nach offen.

Die Studien demonstrieren m.E. keine Modellfälle intersubjektiven Arbeitens, sondern eher einen integrativen Ansatz, der vor allem die Therapeutische Sozialisation der KollegInnen erkennen lässt.

Insofern handelt es sich natürlich auch nicht um ausgesuchte Studienbehandlungen, sondern um die Realität einer größtenteils schwer belasteten Patientengruppe, die in erster Linie Hoffnung auf Besserung ihres Leidens antreibt.

Im 10. Kapitel beschreibt Chris Jaenicke, auf welche Weise die Bedürfnisse der TherapeutInnen intersubjektiv Einfluss auf die Behandlung konkreter Patienten nehmen. Er betrachtet es als zentral, dasssich TherapeutInnen nicht nur als Übertragungsobjekt zu Verfügung stellen, sondern auch eine Bereitschaft zu Rollenübernahme im szenischen Feld ihrer Patienten einbringen. Das umfasst auch, „wenn wir aufgerufen sind, uns in die Räume der inneren Verwüstungen von Traumata zu begeben können uns Gefühle der Aussichtslosigkeit, der völligen Hilflosigkeit und des Scheiterns packen und festhalten“ (S. 330).

Ob solche heroischen Motive für die intersubjektive Psychotherapie typisch sind, oder vielleicht eine Voraussetzung für jede Form helfenden Handelns, die im Gegenüber eine authentische Persönlichkeit sieht und kein Objekt medizinischer Prozeduren, kann der Rezensent nicht entscheiden, tendiert aber zu einer solchen Perspektive.

Im 11. Kapitel beschreibt Theo Piegler vor allem in Auswertung auf publizierte Behandlungsberichte Thilmann Moser (1974), Maria Cardinal (1977), Dörte von Drigalski (1979), Claudia Erdheim (1985), Margarete Akoluth (2004), Monique Klose (2002) die Perspektive der PatientInnen; aber auch in literarischen Texten von Psychotherapeuten Overbeck (1997), Yalom und Elkin (2001), sowie Sand und Janssen (2019) wird die Perspektive der PatientInnen reflektiert.

Als eine letztes Dokument zieht er die Behandlung eines jungen Juristen in einer 8 Jahre dauernden 4-stündigen Analyse in seine Untersuchung ein (Morbitzer 2022).

Letztlich bleibt die Interpretation dieser tausende Seiten umfassenden Dokumente anekdotisch.

Im 12. Kapitel versuchen jetzt allen AutorInnen gemeinsam ein Resümee unter dem Titel „Subjektiv und Intersubjektiv gegen die Macht der relationalen Komplexe“, das 5 jährige gemeinsame Zusammenarbeit in ihren Ergebnissen betrachtet. „Die >Basics< der Methode beruhen auf Grundprinzipien dessen, was das konstitutionelle Selbst des Kindes von Geburt an in sicheren und kontinuierlichen Beziehungen mit Pflegepersonen benötigt, um sich in einem Jahre dauernden Prozess zum komplex strukturierten reifen Selbst zu entwickeln“.

Fazit

Das Buch von Michael Klöpper und seinen KollegInnen ist eine wahre Bereicherung im gut gefüllten Regal der psychodynamischen Therapiebücher. Es ist AusbildungskandidatInnen wie erfahrenen PraktikerInnen gleichermaßen empfohlen und kann auch Studierenden humanwissenschaftlicher Fächer einen guten Eindruck der zeitgenössischen psychodynamischen Therapie verschaffen. Die praktische Vertiefung in den Fallberichten des zweiten Hauptteils zeigt eine Gruppe professioneller PsychotherapeutInnen in einem 5-jährigen Prozess intensiven Ringens um die Vertiefung ihrer behandlungstechnischen Möglichkeiten.

Literaturverzeichnis

Adorno; Theodor W. (1951): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt am Main: Suhrkamp

Amy Allen (2023): Kritik auf der Couch. Warum Kritische Theorie auf die Psychoanalyse angewiesen ist. Institut für Sozialforschung Frankfurt am Main, Frankfurt: Campus

Martin Altmeyer und Helmut, Thomä (Hrsg. 2006): Die vernetzte Seele. Die Intersubjektive Wende in der Psychoanalyse Stuttgart: Klett-Cotta

Jessika Benjamin (1988): Die Fesseln der Liebe. Psychoanalyse, Feminismus und das Problem der Macht. Frankfurt am Main: Stroemfeld/​Nexus, 2004

Michael B. Buchholz und Horst Kächele (2019): Verirrungen in der bundesdeutschen Diskussion. Eine Polemik in Psychotherapeutenjournal 2/2019

Fonagy, Peter, Target, Mary (2003): Psychoanalyse und die Psychopathologie der Entwicklung. Klett-Cotta, Stuttgart

Fonagy, Peter, Roth, Anthony (2004): What Works For Whom?: A Critical Review of Psychotherapy Research. 2. Auflage. New York: Guilford Press

Peter Fonagy, György Gergely, Elliot L. Jurist, Mary Target (2002): Affektregulierung, Mentalisierung und die Entwicklung des Selbst. Stuttgart: Klett-Cotta

Michael Klöpper (2006): Reifung und Konflikt Säuglingsforschung, Bindungstheorie und Mentalisierungskonzept in der tiefenpsychologischen Psychotherapie. Stuttgart: Klett-Cotta

Michael Klöpper (2014): Die Dynamik des Psychischen. Praxishandbuch für das Verständnis der Psychodynamik Stuttgart: Klett-Cotta

Joseph Sandler (1983): Die Beziehung zwischen psychoanalytischen Konzepten und psychoanalytischer Praxis. In: Psyche, Jahrgang 37: S577-595, Stuttgart: Klett-Cotta

Stern, D.N. & The Boston Change Process Study Group (2002). Nicht-deutende Mechanismen in der psychoanalytischen Therapie. Das „Etwas-Mehr“ als Deutung. Psyche – Z Psychoanal, 56, 974–1006.

Daniel Stern (2005): Der Gegenwartsmoment. Frankfurt: Brandes & Apsel

Daniel Stern, The Boston Change Process Study Group (2012): Veränderungsprozesse. Ein integratives Paradigma. Frankfurt: Brandes und Apsel

Timo Stork, Michel B. Buchholz, Reinhard Lindner und Horst Kächele (2020): Perspektiven der psychodynamischen Prozessforschung, in Forum der Psychoanalyse 36, S. 71–85, Berlin/​Heidleberg: Springer

Robert D. Stolorow, Bernard Brandchaft, George E. Atwood (1996): Psychoanalytische Behandlung. Ein intersubjektiver Ansatz. Frankfurt am Main: Fischer (Original: Psychoanalytic Treatment. An Intersubjective Approach. Hillsdale/New Jersey: The Analytic Press, 1987).


[1] Ich verwende die gleiche Form gendergerechter Schreibweise wie sie im Buch praktiziert wird

[2] In der Lesart der Frankfurter Schule. Der Direktor bis 2018 Axel Honneth habe sich in seinen Theorie der Anerkennung besonders auf Donald Winnicott bezogen, was nach Allen (2023, S. 27ff) die Probleme fortsetzt, die bereits in der Kontroverse der ersten Generation der Kritischen Theorie mit den Vertretern einer revisionistischen Psychoanalyse deutlich wird.

[3] T. W. Adorno (1951): „An der Psychoanalyse ist nichts wahr, als ihre Übertreibungen“.

[4] Die Ergebnisse der neueren Säuglingsforschung etwa, weichen so gravierend etwa von der Metapsychologie Melanie Kleins ab, dass sich beides nebeneinander nicht logisch verbinden lässt

Rezension von
Dr. phil. Ulrich Kießling
Dipl.-Sozialarbeiter/Soziale Therapie, Analytischer Psychotherapeut für Kinder und Jugendliche, Familientherapeut und Gruppenanalytiker, tätig als niedergelassener Psychotherapeut in Treuenbrietzen (Projekt Jona) und Berlin, Dozent, Supervisor und Selbsterfahrungsleiter bei SIMKI und an der Berliner Akademie für Psychotherapie (BAP) von 2004 bis heute. Psychotherapiegutachter der KVB
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Zitiervorschlag
Ulrich Kießling. Rezension vom 15.05.2023 zu: Michael Klöpper (Hrsg.): Emotional - Reflexiv - Implizit. Wie wir in psychodynamischen Prozessen wirksam werden. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2023. ISBN 978-3-608-98708-9. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30599.php, Datum des Zugriffs 20.09.2024.


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