Asita Behzadi, Albert Lenz et al. (Hrsg.): Handbuch Gemeindepsychologie
Rezensiert von Dr. phil. Edith Köhler, 25.10.2023
Asita Behzadi, Albert Lenz, Olaf Neumann, Ingeborg Schürmann, Mike Seckinger (Hrsg.): Handbuch Gemeindepsychologie. Community Psychology in Deutschland. dgvt-Verlag (Tübingen) 2023. 1072 Seiten. ISBN 978-3-87159-174-7. D: 88,00 EUR, A: 88,80 EUR.
Thema
Mit der Veröffentlichung dieses Handbuchs liegt ein umfangreiches Nachschlagewerk vor, mit dem Anspruch, einen breiten Leserkreis über Gemeindepsychologie zu informieren. Es geht um die „reflexive Auseinandersetzung mit dem wechselseitigen Verflochtensein von Person und Kontext, ist für alle psychologischen Fragestellungen in Forschung und Praxis relevant und stellt daher eine grundlegende »radikale Perspektive« (Keupp, 1982, S. 11), ein Paradigma, dar, das quer zu psychologischen Subdisziplinen verläuft“ (Behzadi et al., 2023, S. 26).
Um dieses komplexe Gesamtbild zu veranschaulichen, folgt hier der Themenüberblick dieser Publikation:
- Grundsatzüberlegungen zur Gemeindepsychologie, historische Entwicklungen, sowie Erfahrungsberichte, präsentiert als narrative Rekonstruktion für den Zeitraum von 1970 bis 2017;
- aktuelle Bezüge, wie Wandlungen der Sozialpsychiatrie und gegenwärtige Widersprüche, Einblicke ins Gesundheitswesen im Kontext der Ökonomie, Bedeutung von Prävention in Beziehung zur Gesundheitsförderung, Selbsthilfe (historisch und aktuell);
- Un-Gewissheit als Kategorie des Lebens in der Spätmoderne, eine gemeindepsychologische Sicht auf das Konzept des „Settings“ im Sinne einer Begriffsklärung, Migration und Vertreibung in Europa;
- Grundlagen und Leitkonzepte, wie Empowerment, Salutogenese mit Beispielen aus Handlungsfeldern;
- Interventionen und Strategien zur Handlungsbefähigung: Theorie und Praxis im Dialog, Artikel zu klinischen Fragestellungen, zur Gesundheitsförderung, zu Interkulturalität, Inklusion und Exklusion, zu Beratung und Fragen alltäglicher Lebensführung, Kinder- und Jugendhilfe u.v.m.;
- Forschungsperspektiven wie zum Beispiel: „Partizipative Forschung und Gemeindepsychologie: Ein Zwillingspaar?“ oder „Subjekt im Kontext – Methodenkombinationen und Forschungsperspektiven in der Gemeindepsychologie“.
Die Absicht der Herausgeber:innen dieses Handbuchs (und dahinterstehend ein großes Autor:innenteam) ist, ein Profil zu zeichnen, das die Gemeindepsychologie im Kern und in seiner Vielfalt charakterisiert.
Herausgeber:innen
Die fünf Autorinnen und Autoren des Herausgeber:innenteams, alle Gemeindepsychologinnen und -psychologen, sind bundesweit in verschiedenen Bereichen tätig:
- Dr. phil. Asita Behzadi, Diplom-Psychologin, seit 2009 Mitarbeiterin der Medizinischen Klinik mit Schwerpunkt für Hämatologie, Onkologie und Immunologie der Charité Universitätsmedizin Berlin; seit 2021 im Forschungsprojekt der Berlin University Alliance (BUA): „Transforming Solidarities – Praktiken und Infrastrukturen in der Migrationsgesellschaft“.
- Prof. Dr. phil. Albert Lenz, Diplom-Psychologe, von 1994 bis 2017 Professor für Klinische Psychologie und Sozialpsychologie an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen, im Fachbereich Sozialwesen; Ausbildung in psychoanalytischer Familientherapie und psychologischer Krisenintervention an der Akademie für Psychoanalyse und Psychotherapie in München.
- Prof. Dr. phil. Olaf Neumann, Diplom Sozialarbeiter/​Sozialpädagoge (FH), Theaterpädagoge, Approbation als Kinder- und Jugendtherapeut, Professor für methodisches Handeln in der Sozialen Arbeit an der Alice Salomon Hochschule Berlin. U. a. Gründungsmitglied des Berliner Krisendienstes.
- Dr. phil. Ingeborg Schürmann, Diplom-Psychologin, Verhaltenstherapeutin, ehemals Beratungstätigkeiten in unterschiedlichen psychosozialen Einrichtungen, mehr als 30jährige wissenschaftliche Tätigkeit an der Freien Universität Berlin. Lehr- und Arbeitsschwerpunkte: Klinische Psychologie, Gemeindepsychologie, psychosoziale Beratung, Krisenintervention und Supervision.
- Dr. phil. Mike Seckinger, Diplom-Psychologe, Leiter der Fachgruppe Strukturen der Kinder- und Jugendhilfe am Deutschen Jugendinstitut München. Arbeitsschwerpunkte: Strukturentwicklung in der Kinder- und Jugendhilfe, Forschung zu interinstitutioneller Kooperation, Inklusion, Gemeindepsychologie sowie zur Lebenssituation von Care Leavern u.a. (vgl. ebd., S. 1048–1059).
Das Herausgeber:innenteam versteht sich als Vertretung von insgesamt 69 namhaften Autorinnen und Autoren, die mit ihren Beiträgen das gemeindepsychologische Spektrum vorstellen, kritisch reflektieren, erforschend erkunden und illustrieren.
Entstehungshintergrund
Bis es zur Veröffentlichung dieses umfassenden Werks gekommen ist, haben alle Beteiligten einige Hürden genommen, die letzte Herausforderung war die Corona-Pandemie: „Es war ein langer Weg“ (ebd., S. 31). Vor dem Hintergrund, dass die Gemeindepsychologie in Deutschland auf eine mehr als vierzigjährige Geschichte zurückblicken kann, war es naheliegend, ein Gesamtwerk zum Status quo des vorhandenen gemeindepsychologischen Wissensbestands der Fachwelt und anderen interessierten Leserkreisen zur Verfügung stellen zu wollen. Entstanden ist eine Zusammenschau verschiedener gemeindepsychologischer Perspektiven und Erfahrungswissen aus der psychosozialen Praxis und Forschung, Hochschulen, Beratungsstellen, Krisenhilfen, Psychotherapie-Praxen, Begleitung von Selbsthilfe und bürgerschaftlichen Engagements, Forschungsinstitutionen, um ein paar Streiflichter auf die Umsetzung gemeindepsychologischer Expertise zu werfen.
Aufbau & inhaltlicher Überblick
Der Aufbau dieses Handbuchs, mit 1070 Seiten, ist in sechs Abschnitte gegliedert, jeweils mit konkreter Einleitung zur Orientierung:
- Teil I: Verortung I – Historische Entwicklung
- Teil II: Verortung II – Aktuelle Bezüge
- Teil III: Grundlagen und Leitkonzepte
- Teil IV: Interventionen und Strategien zur Handlungsbefähigung
- Teil V: Handlungsfelder
- Teil VI: Forschungsperspektiven,
darin sind insgesamt 43 Kapitel methodisch strukturiert und den sechs Teilen entsprechend zugeordnet.
Das Inhaltsverzeichnis umfasst 20 Seiten und stimmt den Leserkreis ein auf die gemeindepsychologische und komplexe Themenvielfalt, liefert hilfreiche Informationen zur Gemeindepsychologie per se; auch der Gebrauch des Handbuchs wird systematisch erläutert. Das Inhaltsverzeichnis dieses Handbuch ist beim dgvt-Verlag verfügbar unter: https://www.dgvt-verlag.de/pdf/9783871591747_IV.pdf
Verortung I – Historische Entwicklung
Der erste Teil des Handbuchs umfasst sechs Kapitel: Die historische Entwicklung der Gemeindepsychologie, national und international, sowohl grundsätzlich als auch in Form eines narrativen Rückblicks, Abgrenzung zwischen Gemeindepsychologie und Sozialer Arbeit, die enge Verbundenheit mit der Sozialpsychiatrie, sowie Selbsthilfe als zentrales Konzept der Gemeindepsychologie.
Verortung II – Aktuelle Bezüge
Im zweiten Teil des Handbuchs stellen sechs Autoren ihre derzeit aktuellen Themen vor. In den Beiträgen geht es um Transparenz von Problemlagen sowie um eigene Positionierungen, die auch die Frage nach der „Notwendigkeit einer politischen Positionierung der Gemeindepsychologie“ offen legt (vgl. Seckinger/​Behzadi; in ebd., S. 193–194). Die einzelnen Kapitelüberschriften sprechen für sich und eröffnen weitere Diskursräume: „Un-gewissheit: Spätmoderne Grundlagen gemeindepsychologischen Handelns“ (Engel), „Psychosoziale Arbeit und Ökonomie – Wann wandelt sich eine an sich gute Beziehung zum Schlechten?“ (Vogd), „Der Präventionskurs und die gemeindepsychologischen Wurzeln in der Gesundheitsförderung“ (Fischer), „Verwirklichungschancen für gelingendes Leben – Der Capability Approach“ (Keupp), „Das Konzept des »Settings« aus gemeindepsychologischer Sicht“ (Röhrle); „Migration, Vertreibung und Gemeindepsychologie in Europa: Zeit für Aktion und Solidarität“ (Değirmencioğlu).
Grundlagen und Leitkonzepte
Im dritten Teil sind grundlegende Konzepte im Kontext von Psychologie, Sozialwissenschaften und Gesundheitswissenschaften kennenzulernen oder zu vertiefen. Die Argumentationslinien können auch im Widerspruch zueinander stehen, als wertvolle Impulse für weitere Diskurse. So weist Albert Lenz in seiner Einleitung dieses Abschnitts auf ein psycho-sozial-bio-kulturelles Verständnis von Gesundheit hin, denn bio-psycho-soziale Modelle würden zu kurz greifen, insbesondere, wenn es darum gehe, „Menschen zu befähigen, mit den alltäglichen Widersprüchen und Belastungen adäquat umzugehen und selbstbestimmte Lebensperspektiven zu entwickeln“ (Lenz, 2023; in ebd., S. 355).
Interventionen und Strategien zur Handlungsbefähigung
In der Einleitung zum vierten Teil des Handbuchs erläutern Olaf Neumann & Asita Behzadi die Begriffe von „Intervention“ und „Strategie“. Sie betonen, „dass gemeindepsychologische Interventionen und Strategien den Versuch darstellen, die Interdependenzen zwischen Person und Kontext zu verstehen und zu beeinflussen, zugleich aber auch wertgebunden sind“ (Neumann/​Behzadi, 2023; in: ebd., S. 494). Dahinter stehe das Verständnis, dass gemeindepsychologische Haltung dadurch gekennzeichnet sei, dass sich eine speziell herausgearbeitete Fragestellung „»auf die Verbindung des Individuums zu Communities und der Gesellschaft bezieht« (Dalton et al., 2001, S. 5; in ebd., S. 494)“ (vgl. ebd., S. 493–494), eine Verstehensebene, die auch für die Forschung relevant sei (s.u., Teil VI).
Handlungsfelder
Im fünften Teil folgen sechzehn Kapitel über gemeindepsychologische Handlungsfelder, die damit den umfassendsten Teil dieses Handbuchs darstellen. Demzufolge hat der kritische Leserkreis die Möglichkeit, gemeinsame Inhalte und gemeindepsychologische Aspekte insbesondere der Teile drei: „Grundlagen, Leitkonzepte“ und vier „Verortung II: Aktuelle Bezüge“ selbst miteinander zu verknüpfen, wie Albert Lenz & Ingeborg Schürmann in ihrer Einleitung hervorheben. Sie fokussieren die Vielfalt der Beiträge als Anregung dafür, die beschriebenen Handlungs-, Lern- und Arbeitsfelder auf gemeindepsychologische Konzeption hin zu befragen und kritisch zu reflektieren (vgl. Lenz/Schürmann, 2023; in: ebd., S. 591–592).
Forschungsperspektiven
Gemeindepsychologische Forschung soll alltags- und lebensweltbezogen stattfinden und nicht im Labor! Diesem Prinzip folgend beziehen sich Olaf Neumann & Mike Seckinger in der Einleitung zum sechsten Teil „Forschungsperspektiven“ auf Teil IV dieses Handbuchs (vgl. „Interventionen und Strategien zur Handlungsbefähigung“, s.o.) und betonen die Bedeutung der zugrundeliegenden Erkenntnistheorie sowie die Bedeutung wertbasierten Handelns, soziale Ungleichheit und Ungerechtigkeiten anzugehen. Diese Haltung wirke sich sowohl auf das Forschungsziel als auch auf den Forschungsrahmen aus. Zu diesen „thematischen Schwerpunktsetzungen gemeindepsychologischer Forschung“ gehören u.a. soziale Netzwerke, Partizipation, Empowerment, soziale Unterstützung oder Prävention, mit dem Ziel, „die Einbettung der Individuen im sozialen Kontext sichtbar zu machen und soziale Prozesse der Veränderung sowie deren Gestaltung zu entdecken und eben evtl. auch anzustoßen“ (Neumann/​Seckinger 2023; in: ebd., S. 951). In diesem Sinne sind die Leser:innen vorbereitet auf die vier Kapitel von fünf Autor:innen, die ihre jeweils spezifischen Forschungsexpertisen, von partizipativer Forschung, qualitativ und quantitativ fundierter Forschung bis zu Forschungsperspektiven im Sozialraum, darlegen.
Der Anhang umfasst ein informatives Autor:innenregister, ein Namensregister sowie ein Schlüsselwortregister und rundet die fundierte Qualität dieses Handbuchs entsprechend ab.
Inhalt
Aus der Themenbandbreite der 43 Kapitel werden im Folgenden exemplarisch zwei Kapitel in Kurzform (Kapitel eins und zwölf) vorgestellt:
Kapitel 1
Gemeindepsychologie: Geboren aus dem Widerstand! Wie kann sie auch in Zukunft kritisch und widerständig sein?
Heiner Keupp zeichnet historische Wurzeln anhand des Bilds eines Wurzelgeflechts, auf den Spuren der Psychologie, als Subjektwissenschaft, zunächst grundlegend und allgemein betrachtet. In diesem Bild hat Wilhelm Wundt mit seinem Laboratorium (1879 in Leipzig) seinen Platz. Wundts Forschungsgebiete sind zwei Richtungen zuzuordnen: die „physiologische Psychologie“, als experimenteller Teil, und die Völkerpsychologie, die letztlich ignoriert und später zu einer Variante der Sozialpsychologie geworden ist (vgl. Keupp, 2023; in: edb., S. 41). Auch weitere Psychologie-Positionen sind in den Verzweigungen dieses Baumes zu finden, fokussiert auf historische Entwicklung und Differenzierung.
Nach diesem Einstieg wendet sich der Autor dem historischen Werdegang der Gemeindepsychologie zu, die er als „kritische Ablösung von der Klinischen Psychologie“ beschreibt. Die Klinische Psychologie habe sich in Deutschland in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts „universitär verankert“, wissenschaftlich etabliert, u.a. hat auch die Verhaltenstherapie ihren Stellenwert und ihre Anerkennung erhalten. In diesem Mainstream haben andere wesentliche Bezüge wie Psychotherapie und psychosoziale Beratung u.v.m. sozialwissenschaftlich kaum Beachtung gefunden (vgl. ebd., S. 41–42).
„Die Anfänge der Gemeindepsychologie in einer wohlfahrtsstaatlichen Reformära“ beziehen sich auch auf die Bürgerrechtsbewegung in den USA der 1960er-Jahre, die sich für die Menschenrechte, d.h. gleiches Recht für alle (wie Zugang zur Bildung oder zu psychotherapeutischen Hilfen) eingesetzt hat. So sei ein „ambitioniertes Programm einer präventiv ausgerichteten Community Mental Health-Reform“ entstanden, das ein erweitertes Selbstverständnis von Psychologie fordert. Demzufolge seien:
- Psychologischer Reduktionismus, der sich auf individuelles Erleben und Verhalten beschränkt – ungeachtet des soziokulturellen Rahmens, zu überwinden,
- Handlungsmöglichkeiten der Psychologie nicht auf individuelle Ebenen zu reduzieren, sondern sich auch auf gesellschaftliche Kontexte zu beziehen, und
- kann psychologisches Handeln nicht technokratisch wertfrei sein, sondern soll wertbasiertem Handeln folgen, nach dem Prinzip sozialer Gerechtigkeit und Förderung gleicher Chancen und Ressourcen für alle Mitglieder der Gesellschaft, realisiert mit dem Anspruch, „dass die Psychologie eine aktive Rolle bei der Gestaltung menschlichen Zusammenlebens übernimmt“ (vgl. ebd., S. 42–43).
Die 1970er-Jahre in der Bundesrepublik Deutschland sind von einigen Reformprozessen gekennzeichnet, wie sich exemplarisch an der Psychiatrie-Enquête (1975) und der nachfolgenden Psychiatriereform zeigen lässt, gemeindepsychologisch und sozialpsychiatrisch verortet: „Das Beispiel der Psychiatriereform eignet sich besonders gut, die Entstehungsgeschichte der Gemeindepsychologie zu skizzieren und vor allem den Stellenwert sozialer Reformbewegungen zu markieren, die in einer spezifischen historischen Konstellation wichtige Themen aufgreifen und als soziale Experimentierbaustellen Lösungen erproben“ (ebd., S. 51).
Unter anderem liefern das Netzwerkkonzept (Straus 2002) und das „Empowermentkonzept“ (Rappaport 1991, Stark 1989, Zimmerman 1990) wesentliche sozialwissenschaftliche Erkenntnisse als maßgebliche Impulsgeber für eine erste gemeindepsychologische Basis weiterer sozialer Bewegungen.
Hervorzuheben ist die Zeittafel über „Gemeindepsychologische Projekte im Kontext sozialer Bewegungen (vgl. ebd., S. 52), um den Blick auf die Gegenwart zu lenken, sowie die kritischen Reflexionsanstöße, die gegenwärtiges gesellschaftspolitisches Konfliktpotenzial widerspiegeln, impulsgebend und richtungsweisend für kritische Analyse und empirische Forschung“ (vgl. ebd., S. 53).
Gegenwartszweifel formuliert Heiner Keupp, wenn er auf die heute individualisierte Gesellschaft hinweist sowie auf kollektive Bewegungen: Wie wird es mit den aktuellen Herausforderungen weitergehen: der globalen Klimakrise (Soziale Bewegung: Fridays for Future), den Folgen der Kriege, insbesondere dem Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine, der viele Überzeugungen der Nachkriegsjahre in Frage stellt (vgl. ebd. Fußnote, S. 60); (vgl. Keupp 2023; in: ebd., S. 39–63).
Autor
Prof. Dr. Heiner Keupp war von 1978 bis 2008 Hochschullehrer für Sozial- und Gemeindepsychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und ist Gastprofessor an der Universität Bozen. Er war Kommissionsvorsitzender für den 13. Kinder- und Jugendbericht der deutschen Bundesregierung zur Gesundheitsförderung und Prävention (2007-2009). Seine Arbeitsinteressen beziehen sich auf soziale Netzwerke, gemeindenahe Versorgung, Gesundheitsförderung, Jugendforschung, individuelle und kollektive Identitäten in der Reflexiven Moderne, Bürgerschaftliches Engagement und Missbrauch in pädagogischen und kirchlichen Institutionen. Er ist Mitglied der vom Deutschen Bundestag beschlossenen Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs (vgl. Behzadi et al., S. 1053).
Kapitel 12
Migration, Vertreibung und Gemeindepsychologie in Europa: Zeit für Aktion und Solidarität
Dieser Beitrag von Serdar M. Değirmencioğlu schließt den Themenkreis der „Aktuellen Bezüge“ in Teil II dieses Handbuchs ab, in dem der den Umgang mit Migration auf internationaler Ebene unter die Lupe genommen wird. Der Autor benennt Ursachen und Folgen von Migration in Europa und lenkt den Blick auf das Erbe des Kolonialismus. Außerdem zeigt er die Position der Mainstream-Psychologie auf, die sich bei Migration und Vertreibung von geflüchteten Menschen vor allem auf die Behandlung individueller Traumatisierungen oder anderer Belastungen als Folge der Flucht konzentriert. Der Autor betont, es gehe hier, im Kontext von Massenmigration, nicht nur um Krisen und Leid im Allgemeinen, sondern darum, die Notwendigkeit einer Dekolonisierung zu erkennen!
Vor diesem Hintergrund stellt der Autor ein gelungenes Beispiel einer Aufnahme geflüchteter Menschen im Lager Pipka vor, einem ehemaligen Ferienheim in Griechenland auf der Insel Lesbos, in dem besonders schutzbedürftige Flüchtlinge Unterstützung gefunden hatten. Hier hatten die geflüchteten Menschen solidarische Unterstützung erhalten und Prinzipien von Empowerment und aktiver Partizipation konnten realisiert werden.
Serdar M. Değirmencioğlu formuliert gemeindepsychologische Ansätze und Aufgaben, den Mythos einer harmonischen Gesellschaftsvorstellung zu dekonstruieren, sich gegen einwanderungsfeindliche Propaganda zu stellen und das Argument zu entkräften, dass Migration eine Bedrohung für innere Sicherheit, kulturelle Identität und gesellschaftliches Wohlergehen sei (vgl. Değirmencioğlu; in: Behzadi et al., S. 348). „Massenmigration verlangt von Gemeindepsycholog*innen, über die bestehenden Dienstleistungsmodelle, die in eine Sackgasse geraten sind, hinauszugehen, sie zu hinterfragen und herauszufordern, sowohl im öffentlichen Raum als auch in der Psychologie als Disziplin“ (ebd., S. 349) (vgl. Değirmencioğlu 2023; in: ebd. S. 327–351).
Autor
Serdar M. Değirmencioğlu studierte Entwicklungspsychologie und Gemeindepsychologie und konzentriert sich vorzugsweise auf brandaktuelle und oft vernachlässigte Themen. Nach dem Verlust seiner Professorenstelle in Istanbul lebt er im Exil. Er hatte verschiedene Gastprofessuren in Kairo, Macerata, Brüssel, Frankfurt a. M. FernUniversität Hagen und ist derzeit als Gastwissenschaftler am Institut für Humangeographie der Goethe-Universität Frankfurt a. M. tätig (vgl. Behzadi et al., S. 1049).
Diskussion
Der Anspruch des Autorenkreises mehr als vierzig Jahre gemeindepsychologisches Wissen, praktisches Erfahrungswissen, Lehre und Forschung in einem Buch zu sammeln und zu dokumentieren, ist gelungen! Entstanden ist ein Zeitdokument gemeindepsychologischer Wissensbandbreite und zugleich ein themenfokussiertes und facettenreiches Nachschlagewerk. Ein erster Blick in dieses umfangreiche Werk von 1070 Seiten weckt den Eindruck, sich thematisch vielleicht verlieren zu können, aber Form und Aufbau des Buches sowie die klare Struktur des Handbuchs bieten eine gute Orientierung. Das Handbuch bietet grundsätzlich eine interdisziplinäre Perspektivenvielfalt, die die jeweiligen Kontextbezüge sorgfältig differenziert und deren Handlungsebenen aufzeigt. Jedes Kapitel eröffnet einen neuen Raum, wie in den beiden kurzen Zusammenfassungen der exemplarisch ausgewählten Kapitel (Kapitel eins und zwölf) skizziert, als Einladung zum Rundgang – wie in einer gemeindepsychologischen Bibliothek. Mit Blick auf die Fülle der Themen bietet sich folgende Lösungsstrategie: Mut zur Vielfalt und Freude an der Diskussion ganz im Sinne von Empowerment und Partizipation. Die Bereitschaft, einen langen Atem mitzubringen, um mehr als 1000 Seiten zu lesen, wird reichlich belohnt. Geboten wird vielschichtiger Lesestoff mit zahlreichen Impulsen und Denkanstößen. Positionierungen im Einzelnen können Spannungen erzeugen, widersprüchlich sein oder auch fachliche Entwicklungsbedarfe aufzeigen. Alle diese Aspekte laden dazu ein, Diskussionen, Auseinandersetzungen, mögliche Streitgespräche fortzusetzen und weitere wissenschaftliche Erkenntnisse zu gewinnen – ganz im Sinne des Herausgeber:innenteams, das dieses Handbuch auch als Ausgangspunkt für den weiteren gemeindepsychologischen Diskurs deutet (vgl. ebd., S. 28–29).
Im gesellschaftlichen Zusammenleben in einer globalisierten Welt werden weiterhin Antworten auf komplexe Fragestellungen zu suchen sein (wie Klimawandel, Migrationsbewegungen, Digitalisierung, Pandemien, globale Konfliktlagen und Kriege). Die Autor:innen wollen sich der Herausforderung stellen und sich „mit Fragen von Ambiguität und Unsicherheit auf eine Art und Weise [zu] befassen, die nicht deren Reduktion anstrebt“ (ebd., S. 29), um gemeindepsychologische Perspektiven zu entwickeln.
Dieses grundlegende und besondere Nachschlagewerk sollte in allen Bibliotheken der Hochschulen in Deutschland verfügbar sein, sowohl analog in Buchform als auch digital als E-Book.
Die Leseempfehlung geht an alle interessierten Kolleg:innen sozialwissenschaftlicher und naturwissenschaftlicher Fächer, insbesondere Psychologie, Pädagogik, Soziale Arbeit, öffentliche Verwaltung und Gesundheitswesen, Medizin und Psychiatrie, Soziologie und Politikwissenschaften, Philosophie, Architektur mit dem Schwerpunkt Sozialraumgestaltung, an alle Studierenden und professionell Tätigen im psychosozialen Bereich und alle interessierten Leser:innen.
Fazit
Im vorliegenden „Handbuch Gemeindepsychologie – Community Psychology in Deutschland“ wurde gemeindepsychologischer Wissensbestand der letzten vier Jahrzehnte grundlegend systematisiert. Gemeindepsychologie, als Teil der Psychologie, fokussiert die wechselseitige Beziehung von Person und ihrem psychosozialen sowie gesellschaftlichem Kontext (vgl. ebd., S. 25), ist praxisbezogen, der Forschung verpflichtet, und wird in diesen Zeiten dynamischer Veränderungen immer wieder von zentraler Bedeutung sein.
Rezension von
Dr. phil. Edith Köhler
Diplom Sozialpädagogin, ehem. Gastprofessur: KHSB, Lehrbeauftragte, freiberufliche Dozentin
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Zitiervorschlag
Edith Köhler. Rezension vom 25.10.2023 zu:
Asita Behzadi, Albert Lenz, Olaf Neumann, Ingeborg Schürmann, Mike Seckinger (Hrsg.): Handbuch Gemeindepsychologie. Community Psychology in Deutschland. dgvt-Verlag
(Tübingen) 2023.
ISBN 978-3-87159-174-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30602.php, Datum des Zugriffs 12.09.2024.
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