Miranda Fricker: Epistemische Ungerechtigkeit
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 14.04.2023

Miranda Fricker: Epistemische Ungerechtigkeit. Macht und die Ethik des Wissens. Verlag C.H. Beck (München) 2023. 278 Seiten. ISBN 978-3-406-79892-4. 34,00 EUR.
Diskriminierungsverbot
Es könnte so einfach, logisch und normal sein, gelänge es, die Menschen davon zu überzeugen, dass sie gebildet und aufgeklärt und individuell, lokal und global ethisch leben wollen, wie dies in der „Globalen Ethik“, der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“ (1948) postuliert wird: „Die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte bildet die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt“. Im Internationalen Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Rassendiskriminierung, das von den Vereinten Nationen am 7. 3. 2066 proklamiert wurde, heißt es eindeutig, dass die Vertragsstaaten sich verpflichten, „jede Form und jedes Anzeichen von Rassendiskriminierung überall in der Welt rasch zu beseitigen sowie Verständnis und Achtung zu wecken für die Würde der menschlichen Person“. Es sind die anthropologischen und philosophischen Prämissen, die moralische, lebensweltliche Theorien und Praxen dazu anbieten. Es ist das Wissen und die Kompetenz, es human, menschen- und umweltwürdig anzuwenden, die als Lebensherausforderungen gefordert sind.
Entstehungshintergrund und Autorin
Wissen und Macht, Situation und Perspektivenwechsel sind individuelle und gesellschaftspolitische Paradigmen, die sich positiv wie auch negativ auf das Zusammenleben der Menschen auswirken. Sie müssen als Bildungs- und Erziehungsprozesse erkannt, thematisiert und realisiert werden. Die Philosophin von der New Yorker University, Miranda Fricker, prägte mit ihrer Studie „Epistemic Injustice. Power and the Ethics of Knowling“ (2007) den Begriff „Epistemische Ungerechtigkeit“, indem sie die Frage stellte, welche Gelegenheiten und Prozesse bewirken, dass und wie wir Wissen, das uns auf den verschiedenen Kanälen des Daseins begegnen und beeinflussen, entweder annehmen oder uns ihnen verweigern. Dies kann sich auf ganz unterschiedlicher Weise vollziehen: Intellektuell oder ignorant, verständlich oder unverständlich, überzeugend oder gleichgültig, an- oder aufregend, existentiell oder unbedeutend… Die wissenschaftliche Herausforderung besteht darin, das Themenspektrum zu erkennen, zu werten, anzuwenden, zu erweitern und zu transformieren. Der Autorin gelingt dies epistemisch, indem sie nicht vordergründig die Bedeutung des ethischen Wertes „Gerechtigkeit“ hinterfragt, sondern Ausschau hält, wie „Ungerechtigkeit“ entsteht und wirkt. Es ist die Beschäftigung mit der „epistemischen Ungerechtigkeit“ im Sinne eines „negativen Raums“, die den Paradigmenwechsel im philosophischen Diskurs fordert.
Aufbau und Inhalt
Die Philosophinnen Christine Bratu und Aline Dammel von der Göttinger Georg-August-Universität zeigen in der Einführung der deutschen Herausgabe von Miranda Frickers Werk auf, wie bedeutsam sich ihr Blickwechsel auf den globalen, philosophischen Diskurs auswirkt; „wenn die falsche Zuschreibung von Unglaubwürdigkeit auf weit verbreiteten Vorurteilen gegenüber der sozialen Gruppe basiert, der die betroffene Person angehört“. Miranda Fricke wirbt mit dem Vorwort, das sie für die deutsche Erstausgabe schreibt, dafür, auch im philosophischen Diskurs den akademischen Gartenzaun zu übersteigen und gegen ignorante, eingeschliffene und praktizierte Höherwertigkeitsvorstellungen vorzugehen. Im Vorwort und in der Einleitung der Originalausgabe betont sie, dass sie mit ihren Überlegungen nicht die bekannten Auseinandersetzungen um „Gerechtigkeit“ wiederholen, sondern danach fragen will, wie „Ungerechtigkeit“ entsteht und verhindert werden kann. Sie differenziert ihre Überlegungen in „Zeugnisungerechtigkeit“, die auftritt, wenn die Äußerungen der Anderen durch Vorurteile entwertet werden; und in „hermeneutische Ungerechtigkeit“, die auf kollektiven Interpretationsmustern beruhen.
Im ersten Kapitel wird „Zeugnisungerechtigkeit“ ausdifferenziert und verdeutlicht, dass und wie positive und negative, aktive und passive, persönliche und institutionalisierte, legitime und illegitime Macht zufällig oder systematisch wirkt.
Im zweiten Kapitel setzt sich die Autorin mit „Vorurteile(n) in der Glaubwürdigkeitsökonomie“ auseinander, indem sie „Stereotype (als) weit verbreitete Assoziationen zwischen einer bestimmten sozialen Gruppe und einer oder mehrerer Eigenschaften“ definiert und die Eigenschaften erst einmal neutral auffasst. Verfestigen sich Stereotypen und verhindern Dialog, Kommunikation, Meinungsaustausch, Kompromissfähigkeit und Wandel, entstehen Zeugnisungerechtigkeit und Unrecht.
Im dritten Kapitel werden „Bezeugungen im Licht der Tugend-Epistomologie“ thematisiert. Es ist ein Plädoyer für eine „Analogie zwischen der moralischen Wahrnehmungsfähigkeit eines tugendhaften Akteurs und der Fähigkeit eines tugendhaften Hörens, Bezeugungen wahrzunehmen“.
Das vierte Kapitel thematisiert „die Tugend der Zeugnisgerechtigkeit“. Gefordert sind Glaubwürdigkeit, Reflektionsfähigkeit, Toleranz und Resonanz.
Im fünften Kapitel wird die Suche nach Zeugnisgerechtigkeit als „Genealogie“ als Tugend der Wahrheit ausgeführt. Es sind Vertrauenswürdigkeit und Empathie, die es zu leben und zu erleben gilt.
Mit dem sechsten Kapitel setzt sich die Autorin mit der Betrachtung und dem Umgang mit „Unrecht“ auseinander. Bei den philosophischen und psychologischen Überlegungen, wie Meinungen, Statements, Überzeugungen, Aussagen artikuliert werden, werden grundlegend zwei unterschiedliche Verhaltensweisen unterschieden: Reden und Schweigen, Tun und Lassen. Die populäre Auffassung – „Wer nichts zu sagen hat, soll schweigen“ – stützt sich zum einen darauf, dass Meinungsäußerungen auf Fakten beruhen sollen; zum anderen auf die Diktion und das „Pasta“, Menschen gewaltsam und manipulativ um Schweigen zu bringen: „Wenn jemand als Wissender unterminiert wird, ist dies begrifflich und geschichtlich eng mit der Missachtung seiner praktischen Vernunft verbunden“.
Im siebten, letzten Kapitel wird „Hermeneutische Ungerechtigkeit“ aus feministischer, egalitärer, marginalisierender und moralisierender Weise behandelt und gefragt, inwieweit ein „Glaubwürdigkeitsurteil … wirklich Sinn ergibt“.
Diskussion
Um die Kakophonien zu überwinden, die durch Ego-, Ethnozentrismus, Rassismus, Faschismus und Populismus auftreten, braucht es die Gewissheit, dass die Menschheit nur dann gemeinsames, humanes Wissen erwerben und leben kann, wenn alle guten Stimmen zu hören und zu verstehen sind und kein Mensch wegen Vorurteilen und Diskriminierung vom kollektiven Erkenntnisprozess ausgeschlossen wird. Es ist An- und nicht Ausschluss, Integration nicht Menschenfeindlichkeit, legitimer Machtge-, nicht Machtmissbrauch, die eine „Tugend-Epistemologie“ bestimmt. Das schwierige, anstrengende und den Intellekt herausfordernde und befördernde Bemühen nach gutem, erkenntnisbezogenem Verhalten verlangt nach einem ethischen Gerüst, mit dem Zeugnisungerechtigkeit und hermeneutische Ungerechtigkeit erkannt, verhindert und ersetzt werden durch Zeugnisgerechtigkeit und hermeneutische Gerechtigkeit.
Fazit
Die intellektuelle, philosophische Studie über epistemische Ungerechtigkeit von Miranda Fricker verweist auf Dimensionen, die vielfach im alltäglichen, individuellen und kollektiven Umgang der Menschen miteinander vernachlässigt, unbemerkt verlaufen, aber auch gemacht werden. Sich mit ihnen auseinanderzusetzen und einen Perspektivenwechsel herbeiführen zu können, sind Anforderungen für Wissende und Wissensgesellschaften. Die Autorin hat mit ihrer Studie ein neues Fenster geöffnet, das den wissenschaftlichen, philosophischen Diskurs bereichert.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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