Axel Honneth: Der arbeitende Souverän
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 11.04.2023
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Axel Honneth: Der arbeitende Souverän. Eine normative Theorie der Arbeit. Suhrkamp Verlag (Berlin) 2023. 400 Seiten. ISBN 978-3-518-58797-3. D: 28,00 EUR, A: 28,80 EUR, CH: 38,50 sFr.
Paradigmenwechsel
Spätestens als vor einem halben Jahrhundert (1972) der „Club of Rome“ davor gewarnt hat, dass die Grenzen des ökonomischen Wachstums erreicht seien, als vor fast zwei Jahrzehnten (1995) die Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ die Menschheit aufforderte, umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren und neue Lebensformen zu finden, sollte klar geworden sein, dass ein grundlegender, ökonomischer und ethischer Perspektivenwechsel notwendig ist. Eine besondere Aufmerksamkeit erhält dabei der Arbeitsbegriff, wie er in Artikel 23 der allgemeingültigen, nicht relativierbaren Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (1948) ausgewiesen wird, dass jeder Mensch das Recht auf Arbeit, auf freie Berufswahl, auf angemessene und befriedigende Arbeitsbedingungen und Schutz vor Arbeitslosigkeit, auf gleichen Lohn für gleiche Arbeit und ein menschenwürdiges Auskommen für sich und seine Familie habe.
Entstehungshintergrund und Autor
In den Auseinandersetzungen mit den Wirkungen und Wirrnissen, die das kapitalistische und neoliberale System schafft, gibt es grundlegend zwei Meinungen. Die eine plädiert dafür, den Kapitalismus einzuhegen und die nachteiligen, sozialen Folgen abzumildern (Paul Collier, 2019); die andere, einen Systemwechsel weg vom vorherrschenden kapitalistischen, hin zu neosozialistischen Entwicklungen vorzunehmen (siehe dazu: Klaus Dörre/Christine Schickert, Hrsg., Neosozialismus. Solidarität, Demokratie und Ökologie vs. Kapitalismus, 2019, www.socialnet.de/rezensionen/26358.php).
Der an der New Yorker Columbia-University tätige Sozialwissenschaftler Axel Honneth hat bereits mehrfach zu Fragen der ideologischen, theoretischen und praktischen, industriellen kapitalistischen Entwicklung Stellung bezogen: Markt, Ethik, Integration. Er setzt sich auseinander mit den historischen, ökonomischen und ideologischen Verläufen und Versuchen, Arbeit und Existenz human und sozial miteinander zu verbinden. Mit kritisch-konstruktiver Perspektive nimmt er die im Sozialismus und Kommunismus grundgelegten Aspekte auf und legt eine „normative Theorie der Arbeit“ vor. Er verweist auf Defizite und Unklarheiten beim Demokratie-Diskurs, bei dem die Forderungen und Bedingungen nach Souveränität, Individualismus und Teilhabe (richtigerweise) im Vordergrund stehen, die soziale Realität, dass nämlich Bürgerinnen und Bürger „tagtäglich und über viele Stunden hinweg ( ) die meisten… einer bezahlten oder unbezahlten Arbeit nach(gehen)“; dies führe in nicht wenigen Fällen dazu, das es beinahe „unmöglich macht, sich in die Rolle einer autonomen Teilnehmerin an der demokratischen Willensbildung… hineinzuversetzen“. Diesen „blinden Fleck der Demokratietheorie“ will er mit der Zusammenführung von Demokratie und sozialer Arbeitsteilung aufdecken. Eine erste Gelegenheit bot sich im dadurch, dass er sein Konzept bei den „Walter-Benjamin-Lectures“ des „Centre for Social Critique“ der Berliner Humboldt-Universität im Juni 2021 vortragen konnte.
Aufbau und Inhalt
Mit der Umgestaltung der Vortragsmanuskripte und der Berücksichtigung des daraus entstandenen Diskussionsprozesses gliedert Honneth das Buch, neben den Vorbemerkungen, in drei Kapitel: Im ersten setzt er sich mit „Arbeit in demokratischen Gesellschaften“ auseinander; im zweiten thematisiert er die „Wirklichkeit der gesellschaftlichen Arbeit“; und im dritten zeigt er auf, wie der „Kampf um die gesellschaftliche Arbeit“ verläuft. Es sind die seit der Zeit der (europäischen) Aufklärung postulierten Auffassungen, dass individuelle und gesellschaftliche Arbeit sowohl Broterwerb, als auch Befreiung von Abhängigkeit und Ausbeutung sein müsse – hin zur „freien, statusverbürgenden Arbeit“. Er verdeutlicht die Entwicklungen, indem er drei Kritiken an den gegenwärtigen Arbeitsverhältnissen formuliert: „Ein Arbeiten, das in seinem Vollzug fremdbestimmt ist und als eine profitable Ware behandelt wird, kann nicht als erfüllend und sinnvoll erfahren werden, sondern stets nur als entfremdend“ – „Gesellschaftliche Arbeit (sei) erst dann gut, fair oder gerechtfertigt eingerichtet, wenn die Beschäftigten nicht länger der willkürlichen Herrschaft von Unternehmern und Dienstherren ausgesetzt sind“ – „Die fortschreitende Mechanisierung und Zerstückelung der Arbeit (ist) dem politischen Klima in einem (demokratischen) Gemeinwesen abträglich“. Die moralischen Grundlagen des modernen Rechtsstaates beruhen, so die Honneth’sche Analyse, zum einen auf der John Rawls’schen Gerechtigkeitstheorie, zum anderen auf der Jürgen Habermas’schen Diskurstheorie des Rechts. Die daraus sich entwickelnden, notwendigen, unverzichtbaren Bedürfnisse nach „Dienstleistungen“ verengen den Blick auf den gesellschaftlichen Wert von Arbeit „aufs Fabrizieren eines Sachgutes“, und sie lassen vermissen, „dass sämtliche derjenigen arbeitenden Verrichtungen als gesellschaftlich notwendig betrachtet werden sollten, die erforderlich sind, um die gegenwärtig für wertvoll gehaltenen Bestandteile des sozialen Lebens zu erhalten“. Zur Ausformulierung und Postulierung eines neuen, sozialen, demokratischen, allgemeinen Arbeitsbegriffs ist es erforderlich, insbesondere die menschliche Entwicklung im 19. Jahrhundert zu betrachten. Daraus nämlich ergeben sich sowohl unerwartete Überraschungen, als auch vergessene, unbeachtete, gescheiterte Reformansätze, die der Autor als historische Analyse verdeutlicht. Die in den aktuellen Zeiten der Globalisierung und Entgrenzung auf allen Gebieten der individuellen und kollektiven Daseinsvorsorge sich vollziehenden kapitalistischen Entwicklungen der Arbeitswelt münden in unmenschliche, unmoralische Formen der Entpersonalisierung und Marktgängigkeit, bis hin zur Prekarität.
Gibt es Alternativen und humane Lösungen aus dem Dilemma, dass auf der einen Seite die vielfältigen Krisen und menschengemachten Katastrophen unmissverständlich signalisieren, dass die Menschen auf ihrem Lebensraum nicht alles machen dürfen, was sie können oder zu können meinen, andererseits „wir auch nicht mehr auf die Bäume zurück wollen“? Es sind die „Politiken der Arbeit“, wie sie z.B. der Globalisierungskritiker André Gorz bereits vor fast einem halben Jahrhundert mit dem Projekt „Bedingungsloses Grundeinkommen“ vorgeschlagen hat. Oder es sind genossenschaftliche, vergemeinschaftlichte Formen des Schaffens und Arbeitens; oder es sind haupt- und ehrenamtliche Sozialdienste, die freiwillig zeitlich begrenzt ausgeübt werden.
Diskussion
Übervorteilung, Ausnutzung und Ausbeutung sind Menschenrechtsverletzungen. Neoliberale, kapitalistische Strukturen stehen im diametralen Gegensatz zu sozialen, sozialistischen und marxistischen Theorien. Die entscheidenden Unterschiede präsentieren sich im Arbeitsbegriff. Die Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlerin von der Universität Wien, Andrea Komlosy, setzt sich mit den historischen, kulturellen, weltanschaulichen und ideologischen Veränderungsprozessen auseinander, wie sie sich über die Jahrhunderte hinweg vollzogen haben. Sie wählt charakteristische Zeitabschnitte aus, an denen sie „stellvertretend für markante Veränderungen in der Art und Weise, wie Arbeit betrachtet, wie Arbeit organisiert und wie Arbeitsverhältnisse kombiniert wurden“, verdeutlicht: 1250, 1500, 1700, 1800, 1900 und 2010. Sie weist aus, welche gesellschaftlichen Veränderungsprozesse auch den Arbeitsbegriff beeinflussen: Die Monetarisierung von gesellschaftlichem Austausch – Die Veränderung von reziproker zu kommodifizierter Arbeit – Die Verselbstständigung der Erwerbsarbeit als ein vom Lebenszusammenhang abgetrennter Bereich – erzwungene, unfreie zu freiwilliger, freier Arbeit – Die Hausfrauisierung als unbezahlte Hausarbeit – Von der selbstständigen zur unselbstständigen Erwerbsarbeit (Proletarisierung) – Die Herausbildung eines gesetzlich und sozial geschützten Sektors von Erwerbsarbeit (Andrea Komlosy, Arbeit. Eine globalhistorische Perspektive. 13. bis 21. Jahrhundert, 2014, www.socialnet.de/rezensionen/17372.php). Es ist das S-Wort – „Sozialismus“ – das von den Befürwortern des kapitalistischen Systems als „No go“, von den Sozialisten als zukunftsweisender Ausweg aus dem „Immer-Mehr“ verstanden wird. Doch angesichts der „Weltunordnung“, wie sie immer näher und existentieller als individuelle und menschheitsexistierende Gefahr zeigt, ist es dringend erforderlich, umzudenken (Carlo Masala, Weltunordnung. Die globalen Krisen und die Illusionen des Westens, 2016, www.socialnet.de/rezensionen/30292.php). Es ist der starke, nicht der lahme Staat, der die Durchsetzung der Gerechtigkeit, der Solidarität und Demokratie will, mitgestaltet und verteidigt.
In der kapitalismuskritischen Diskussion werden überwiegend zwei grundlegend unterschiedliche Zielsetzungen thematisiert: Das kapitalistische System ist nur revolutionär abzuschaffen, oder es kann evolutionär verändert werden. Honneth tendiert mit seiner normativen Theorie der Arbeit eher zum Letztgenannten, also eher zum beständigen, nachhaltigen Bohren durch dicke, harte Bohlen, als zum Dreinschlagen. Es sind die rechtlichen, institutionalisierten Formen von Mitbestimmung und demokratischer Partizipation, die wertgeschätzte, gleichwertige, mentale, gesellschaftliche Arbeit ermöglicht. Es kommt darauf an, „das Verhältnis der gesellschaftlichen Tätigkeiten untereinander und deren Abgrenzung voneinander so zu verändern, dass keine von ihnen weiterhin intellektuell so einseitig, auszehrend und anregungsarm bleibt, wie es unter den gegenwärtig herrschenden Arbeitsbedingungen in vielen Dienstleistungs- und Produktionsbereichen der Fall ist“.Die von Axel Honneth aufgezeigten Alternativvorschläge zu den von ihm identifizierten Defiziten im Lebens-Arbeits-Bereich der Menschen laden ein zum entdeckenden, schöpferischen „historischen Experimentalismus des Sozialismus“, nicht als „Gott-sei-bei-uns“, sondern als anzustrebendes, emanzipatorisches, demokratisches Projekt.
Fazit
Die wissenschaftliche Studie ist kein Rezept – „Nehme das, dann erhältst du jenes“ – sondern eine realistische Recherche, die den notwendigen, dringlichen Diskurs befördert, einen Perspektivenwechsel hin zum arbeitenden Souverän zu vollziehen, lokal und global.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 11.04.2023 zu:
Axel Honneth: Der arbeitende Souverän. Eine normative Theorie der Arbeit. Suhrkamp Verlag
(Berlin) 2023.
ISBN 978-3-518-58797-3.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30604.php, Datum des Zugriffs 13.01.2025.
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