Henning Daßler (Hrsg.): Wohnungslos und psychisch erkrankt
Rezensiert von Martina Pistor, 10.08.2023

Henning Daßler (Hrsg.): Wohnungslos und psychisch erkrankt. Psychiatrie Verlag GmbH (Köln) 2023. 287 Seiten. ISBN 978-3-96605-173-6. D: 35,00 EUR, A: 36,00 EUR.
Thema und Autor
Henning Daßler vereint im vorgelegten Sammelband eine facettenreiche Ausleuchtung des Feldes psychisch erkrankter wohnungsloser Menschen. Dabei bringen die beiden primär beteiligten Hilfesysteme, die Wohnungslosenhilfe und die Gemeinde- bzw. Sozialpsychiatrie, ihre Sichtweise mit ein. Außerdem kommen (ehemals) Betroffene, Angehörige und Bürgerhelfende zu Wort und zahlreiche Praktiker*innen berichten von ihren Projekten.
Aufbau
Der Sammelband vereint 20 Beiträge von 19 Autor*innen und ist in vier Abschnitte gegliedert: „Quadrologische Einführung“, „Grundlagen“, „Aspekte einer bedarfsgerechten Versorgung“ und „Best-Practice-Projekte“. Gerahmt werden diese Beiträge durch eine Einführung des Herausgebers und ein gemeinsames Literaturverzeichnis sowie eine Liste der Autor*innen. Er verfolgt die Forschungsfrage: Was brauchen psychisch erkrankte wohnungslose Menschen? Was kennzeichnet angemessene, passgenaue Hilfen? Das Buch richtet sich dabei an Praktiker*innen mit und ohne konzeptionelle Verantwortung, Forschende, aber auch Studierende, die sich einen Überblick über ein spezielles Arbeitsfeld mit hochvulnerablen Adressat*innen verschaffen wollen.
Inhalt
In der Einführung mit dem Titel „Raum zum Leben geben“ ordnet der Herausgeber, der eine Professur u.a. für Gemeindepsychiatrie inne hat, das vorgelegte Buch in die karge deutsche Forschungslandschaft ein. Zwar ist bekannt und auch international recht gut belegt, dass viele wohnungslose Menschen psychisch krank sind. Trotzdem gibt es in Deutschland wenig Forschung zum Thema, und trotz veränderter Gesetzeslagen (Daßler nennt die Reformen von SGB II und XII, die UN-Behindertenrechtskonvention und das Bundesteilhabegesetz) ist die Versorgungslage dieser Personen generell schlecht.
Die quadrologische Einführung soll die aus der Gemeindepsychiatrie bewährte trialogische Perspektive um die Sicht von Bürgerhelfenden erweitern. Als erstes schildert ein Betroffener und gleichermaßen Überlebender seine Biografie: Andreas Jung beschreibt Schritt für Schritt sein Abrutschen durch die Löcher des Hilfesystems hinein in „Dantes Hölle“ (S. 20), den Wendepunkt und seinen über viele Jahre dauernden, mühsamen Weg zurück ins Leben. Er arbeitet heute als Genesungsbegleiter und ist in der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie aktiv.
Die Angehörigen-Perspektive bringt Christian Zechert ein. Seine eigene Betroffenheit klingt nur punktuell an. Dafür bringt er eine kaleidoskopartige Sicht auf die Vielschichtigkeit der Problemlagen und die Schwierigkeiten für Angehörige, zwischen Schuld, Stigmatisierung und Betroffenheit Hilfe in ihrer eigenen Lage zu finden. Ihre Bedarfe, das wird im Beitrag klar, sind ebenso individuell wie die der Betroffenen und liegen mitunter sperrig und quer zu denen der Betroffenen und der Fachkräfte. Zechert selbst verweist in der Autor*innenbeschreibung auf zahlreiche Veröffentlichungen zu Themen der Sozial- und Gemeindepsychiatrie.
Aus der Sicht einer Bürgerhelferin berichtet Katja Hübner. Sie hat sich ehrenamtlich, ohne Ausbildung und ohne aus helfenden Strukturen heraus zu handeln eines jungen Obdachlosen in ihrem Viertel angenommen. Sie begleitet ihn in seiner Odyssee durchs Hilfesystem, an der sie selbst fast verzweifelt. Der Weg ist geprägt von Hilflosigkeit angesichts von Unzuständigkeiten, Verweisen, punktueller Hilfe und der vorläufigen Endstation im Betreuten Wohnen, einem Abstellgleis am Rande der Stadt.
Die vierte Perspektive der Fachkräfte bringt schließlich Henning Daßler ein. Er berichtet an Beispielen und eigener Erfahrung von Unzulänglichkeiten, aber auch Herausforderungen des Hilfesystems.
Den zweiten Buchteil, die Grundlagen, leitet ein Beitrag von Werena Rosenke ein. Sie blickt auf über 30 Jahre Erfahrung in der Wohnungslosenhilfe bei der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. (BAG W) zurück, deren Geschäftsführerin sie derzeit ist. In ihrem Beitrag skizziert sie die Geschichte der Wohnungslosenhilfe seit dem 19. Jahrhundert in Deutschland. Die Stigmatisierung und Verfolgung sowie Zwangsunterbringung von sogenannten „Vagabunden“ (S. 51) weist sie anhand von historischen Gesetzestexten nach. Eine wichtige Rolle in ihrem historischen Abriss spielt die Verfolgung und Vernichtung der dann als „Asoziale“ bezeichneten Personen durch die Nationalsozialisten einerseits, andererseits die Individualisierung und Pathologisierung der Wohnungslosigkeit, die die Psychiatrie im 20. Jahrhundert wesentlich unterstützt hat. Den historischen Gesetzestexten stellt sie aktuelle Gesetze gegenüber, die Wohnungslosigkeit in den Kontext von Armut stellen und der Komplexität der Fälle besser gerecht werden können. Sie zitiert Publikationen der BAG W, die den Diskurs mittlerweile prägen und stellt das System der Wohnungsnotfallhilfe als letztes Netz der sozialen Sicherung dar. Während das psychosoziale Hilfesystem zu hohe Anforderungen für manche Betroffene stellt, können psychisch kranke Wohnungslose im niederschwelligen System der Wohnungsnotfallhilfe oftmals nicht adäquat versorgt werden.
Einen Überblick über den aktuellen Forschungsstand zur psychischen Gesundheit von wohnungslosen Menschen liefern Stefanie Schreiter und Helena Krüger. Sie beklagen die dünne Forschungslage für Deutschland, berichte aber aus den vorliegenden und internationalen Studien davon, dass wohnungslose Menschen oft in erheblichem Maße von psychischen Beeinträchtigungen betroffen sind. So ist davon auszugehen, dass drei Viertel der Wohnungslosen (und damit bis zu viermal mehr als bei Menschen in stabilen Wohnverhältnissen) akut von psychischen Erkrankungen betroffen sind, viele haben zwei oder mehr Diagnosen, außerdem sind Alkohol- und Suchterkrankungen weit verbreitet. Zur Frage von Drift- und Shift-Hypothese verweisen die Autor*innen einerseits darauf, dass in vielen Fällen die psychische Erkrankung dem Wohnungsverlust vorausging, in einer Münchener Studie im Schnitt um 6,5 Jahre. Andererseits prägen sich Depressionen und Angststörungen oft erst nach dem Wohnungsverlust aus. Insofern ist von einem komplexen Zusammenspiel beider Faktoren auszugehen. In einem Abriss über persönliche Risikofaktoren für Wohnungslosigkeit wie Heimerfahrungen, familiären Belastungen und Missbrauch in der Kindheit zeigen die Autor*innen auch die Bedeutung von Stigmatisierungen auf. Als Fazit fordern sie, die Hürden des Hilfesystems zu senken und insbesondere eine niedrigschwellige Versorgung mit Wohnraum nach dem Housing-First-Prinzip und eine intensiv aufsuchende gesundheitliche Versorgung auszubauen. Außerdem müssen Forschungslücken geschlossen werden.
Im folgenden Beitrag loten Henning Daßler und Jutta Henke die Schnittmengen eines sozialarbeiterischen Teilhabebegriffs (basierend auf dem Lebenslagenansatz und dem Capability-Approach) und dem biopsychosozialen Teilhabeverständnis der Weltgesundheitsorganisation (WHO) nach der International Classfication of Functioning, Disability and Health (ICF) aus. Sie kommen zu dem Schluss, dass ein Teilhabebegriff sowohl die persönlichen wie auch die gesellschaftlichen Bedingungen in den Blick nehmen kann und eine Möglichkeit für die Weiterentwicklung von Hilfen wie auch von Forschung leisten kann.
Im letzten Beitrag des Grundlagen-Teils stellt Daßler Kriterien auf, an denen sich eine bedarfsgerechte Versorgung orientieren muss: Ein biopsychosoziales Verständnis von Krankheit und Behinderung, eine Menschenrechtsorientierung und Evidenzbasierung. Dann stellt er zwei internationale Beispiele vor, wie psychisch erkrankten wohnungslosen Menschen bedarfsgerecht geholfen werden kann: Im Flexible Assertive Community Treatment (FACT) in den Niederlanden wird eine gemeindepsychiatrische Versorgung durch individuell angepasste Intensität der Betreuung und auch aufsuchende Arbeit auch wohnungslosen Patient*innen gerecht und kümmert sich auch um soziale Probleme wie die Wohnungssuche. Während sich hier die Gemeindepsychiatrie sozialarbeiterisiert, geht das Konzept Psychologically Informed Environment (PIE) aus Großbritannien den umgekehrten Weg und sensibilisiert das Wohnungslosenhilfesystem für die Bedarfe von psychisch Erkrankten. Reflexionen von Strukturen und Praktiken sowie Supervision sollen dabei auch die Wirkung der Hilfe auf die psychische Erkrankung kritisch in den Blick nehmen, ohne dass die sozialarbeiterische Hilfe eine Therapie ersetzt.
Jutta Henke leitet mit ihrem Beitrag den dritten Teil des Buches ein. Sie reproduziert in ihrem Beitrag zunächst das Bild vom „Systemsprenger“, Klient*innen, die das Hilfesystem und die Helfenden überfordern und in der Konsequenz aber selbst herausfallen. Sie korrigiert das Bild jedoch dahingehend, dass es vor allem Bedingungen des Hilfesystems sind, die zu Eskalationen und Hilfeabbrüchen führen. Diese Bedingungen gilt es zu evaluieren und die Systeme umzustrukturieren, um zu verhindern, dass Klient*innen unversorgt bleiben. Schließlich zeichnet sie die Gelingensbedingungen von Projekten nach, die erfolgreich die oftmals vielfältig belasteten Menschen letztendlich doch unterstützen können.
Im Kapitel „Wohnungslosigkeit von Frauen“ beschreibt Martina Bodenmüller die Bedarfe von wohnungslosen Frauen, auch anhand von empirischem Material aus zwei Interviews. In ihren Gewalterfahrungen und den erlebten (oder befürchteten) Stigmatisierungen unterscheiden sich Frauen von wohnungslosen Männern, aber auch in ihren Strategien des Umgangs: Häufig sind sorgfältig verborgene Wohnungslosigkeit oder ein informelles Unterkommen bei „Bekannten“, nicht selten gegen sexuelle Gefälligkeiten. Werden die spezifischen Bedarfe vom Hilfesystem adressiert, werden die wohnungslosen Frauen auf einmal sichtbar. Hier zeigt sich eine weitere Schnittstelle im Hilfesystem, nämlich zu Frauenhäusern und anderen Nothilfeeinrichtungen für Frauen.
Stefanie Schreiter und Helena Krüger beschreiben die Vorteile von Peer-Arbeit für die Nutzenden. Sie setzen diese in den Kontext von Recovery, also einem individuellen und selbstbestimmten Begriff von Genesung. Peer-Begleitung passt ihrer Ansicht nach besonders gut, wenn die Wertgrundlagen der Arbeit übereinstimmen: Augenhöhe, Selbstbestimmung und individuelle Unterstützung, z.B. bei Housing First. Auch das Hilfesystem profitiert von schnelleren und erfolgreicheren Interventionen, naheliegenderweise kann das Wohnungsnotfallsystem hier von den Erfahrungen der Psychiatrie lernen. Als Fallstricke beschreiben sie die Notwendigkeit einer soliden Ausbildung und gesicherte Arbeitsbedingungen für Peers, auch zur Unterstützung in einer möglicherweise belastenden und potentiell retraumatisierenden Arbeit. Dafür verweisen sie auf die erste Ausbildung im deutschsprachigen Raum (initiiert durch das „neunerhaus“ in Wien), aber auch die etablierten Ausbildungsprogramme für Genesungsbegleiter*innen im psychiatrischen Kontext (EX-IN). Zusammenfassend fordern sie einen partizipativ gestalteten Ausbau des Peersystems in Deutschland.
Der vierte und umfangreichste Teil des Buches bleibt Best Practice-Projekten vorbehalten. Zunächst beschreibt Janina Seebach mit einem Fallbeispiel niedrigschwellige psychiatrische Arbeit mit wohnungslosen Betroffenen. Sie schildert eindrücklich die Hürden, vor die das Hilfesystem Betroffene stellt, bis sie tatsächlich Unterstützung erfahren. Erst im Verlauf des Beitrags ergibt sich, dass sie aus der sozialpsychiatrischen Versorgung einer Münchener Clearingeinrichtung berichtet. Dort kann sie die ersten Hürden (Ort der Beratung, Krankenversicherung) abbauen. Eine Vernetzung in der Ausgestaltung ihrer Stelle ermöglicht es ihr, genau in den Lücken (z.B. auch aufsuchend) zu arbeiten, in denen Betroffene sonst verlorengehen. Trotzdem bestehen diese Lücken, und so schildert sie, wie sie mitunter das Scheitern ihrer Patient*innen an Hürden und Lücken nur begleiten kann. Ein weiterer wichtiger Teil ihrer Arbeit ist die Supervision und Begleitung von Professionellen im System der Wohnungslosenhilfe. Darüber hinaus beschreibt sie weitere Maßnahmen, die die Hürden der Hilfe im psychiatrischen System herabsetzen könnten.
Matthias Albers, Andrea Lohmann und Elisabeth Ostermann beschreiben mit Hotel Plus ein Angebot aus Köln, das bereits seit 25 Jahren besteht. Drei Hotels im Stadtgebiet bieten Wohnungslosen mit psychiatrischen Diagnosen oder auffälligem Sozialverhalten Einzelunterkünfte mit niederschwellig verfügbarer psychiatrischer Unterstützung. Ziel ist eine Gefährdungsreduktion. Dafür gilt nur ein Minimum an Zugangsregeln, eine akzeptierende Arbeit und die Freiwilligkeit der Hilfe. Sie beschreiben Weiterentwicklungen der Angebote, aber auch Grenzen: Bisher können Menschen, bei denen eine Suchterkrankung oder Pflegebedürftigkeit besteht, nicht aufgenommen werden. Außerdem erreicht das Angebot keine wohnungslosen jungen Erwachsenen, da es deren Bedarfe nicht gut abdeckt. Immer wieder jedoch taucht das Problem auf, dass ein angespannter Wohnungsmarkt zur Überlastung der Hilfsangebote führt.
Über ein Programm der Psychoedukation für Wohnungslose berichtet Daniel Niebauer. Psychoedukation ist ein selbstverständlicher Baustein in der psychiatrischen Gesundheitsversorgung, Wohnungslose galten aber bisher als hard-to-Reach. Er legt dar, dass bisherige Programme kaum passend für die Zielgruppe der Wohnungslosen sind. Sein detailliert beschriebenes Gruppenprogramm hingegen zielt genau auf ihre Bedarfe und Ressourcen. Aufbauend auf dem Salutogeneseansatz, der Gesundheit und Krankheit als Kontinuum betrachtet und als beeinflussbar auffasst, sollen Betroffene unabhängig von Diagnosen sich mit ihrer gesundheitlichen Situation auseinandersetzen und Schwellen zum Hilfesystem werden abgebaut. Ergebnisse einer Evaluationsstudie zeigen die positiven Wirkungen zunächst für männliche Wohnungslose in vielfältigen Kontexten des Hilfesystems.
Eine viel offenere Form des Textes findet Dagmara Lutoslawska in ihrem Beitrag über psychologische Beratung am Berliner Bahnhof Zoo. Sie berichtet darüber, wie sie ein psychologisches Beratungsangebot etabliert und denkt über Wirkfaktoren nach. Sie verankert ihr Angebot über Visitenkarten und Symbole und reflektiert aufsuchende Arbeit und offene Angebote. Als wirksam beschreibt sie zum Beispiel Spaziergänge, aber auch gelegentliche gemeinsame Besuche im Zoo und erzählt von Zufällen, die es erlaubten, mit Klient*innen Dinge besprechbar zu machen. Sie reflektiert das Zeiterleben im Kontext von Wohnungslosigkeit als ausschließliche Gegenwart, womit Interaktionen mit Fachkräften etwas Krisenhaftes bekommen und für Veränderungen ein Maßstab fehlt. Und sie reflektiert die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen des Beziehungsaufbaus im ambulanten Setting und angesichts der Flüchtigkeit der Begegnungen.
Aus dem neunerhaus Peer Campus berichten Andrea Pilgerstorfer und Stefan Prochazka von den ersten Ansätzen im deutschsprachigen Raum, Peer-Arbeit auch in der Wohnungslosenhilfe zu verankern. Dabei berichten sie von den vielfältigen positiven Auswirkungen der Peerarbeit für die Nutzenden, die Peers selbst, die Organisationen, die Peers beschäftigen, aber auch die Anti-Stigma-Wirkung auf gesellschaftlicher Ebene. Basierend auf dem Wunsch nach Partizipation wurde ein Konzept für Stellenprofile von Peers entwickelt, daraufhin ein Ausbildungskurs etabliert und schließlich die frisch ausgebildeten Peers in ihre neuen beruflichen Aufgaben begleitet (bzw. die neuen Kolleg*innen in die Zusammenarbeit mit den Peers). Die oftmals schweren Erfahrungen in der Wohnungslosigkeit bekommen so einen neuen, positiven Sinn – und können damit auch Betroffenen Hoffnung geben, die diesen Sinn für sich noch nicht entdecken konnten.
Isabel Schmidhuber gibt im letzten Beitrag einen Einblick in eine Arbeit, die sie „professionelles Aushalten“ nennt: Ein Projekt, das ältere, psychisch kranke Frauen – die bisher als „Wanderinnen“ zwischen den Hilfesystemen nirgends adäquat versorgt werden konnten – in München mit Wohnraum versorgt und begleitet. Nach einem Einblick in die Entstehung des Projekts und die Schwierigkeiten der Finanzierung schildert sie eindrücklich, welche Schwierigkeiten sich in der Begleitung und Unterstützung dieser sehr autonomen, aber auch sehr vulnerablen Gruppe ergeben, aber auch mit welcher Geduld und tatsächlicher Multiprofessionalität (von der Sozialarbeiterin bis zum Hausmeister) die Frauen erreicht werden und ihr Leben erleichtert werden kann.
Im Schlusswort plädieren Henning Daßler und Andreas Jung dafür, Betroffene in ihrer Individualität und mit ihren Ressourcen ernstzunehmen, als Peers wertzuschätzen und zur Grundlage einer Genesung sowohl die materiellen als auch die psychischen und sozialen Bedürfnisse zielgruppenorientiert zu befriedigen.
Diskussion
Daßler bezieht sich in seiner Einführung auf das ebenfalls im Psychiatrie-Verlag erschienene Buch „Obdachlos und psychisch krank“ (Nouvertné et al., 2002), an die er auch personell anknüpft: Autor Christian Zechert war Mitherausgeber des Buchs. Die damalige socialnet-Rezension (https://www.socialnet.de/rezensionen/496.php) monierte damals, dass Betroffene nicht ausreichend zu Wort gekommen seien. Hier schreiben Menschen aus Betroffenen-, Angehörigen- und Bürgerhelfenden-Sicht, bleiben dabei aber auf die quadrologische Einführung verwiesen. Der Rest des Buchs gehört Forschenden und Praktiker*innen. Nichtsdestoweniger zieht sich ein ressourcenorientierter, wertschätzender Blick auf die Betroffenen durch alle Beiträge. Wenn von „hard-to-reach“-Klientel gesprochen wird, wird das jeweils in „how-to-reach“, also den Bedarf an zielgruppenorientierten Unterstützungen transformiert und aufgezeigt, dass letztlich fast alle Adressat*innen zu erreichen sind, solange die Fachkräfte ihnen mit Verständnis und Akzeptanz begegnen und die Hilfen den tatsächlichen Bedürfnissen entsprechen.
Das Buch ist facettenreich aus verschiedenen Sektoren des Hilfesystems zusammengesetzt, vor allem dem psychosozial-psychiatrischen Bereich und der Wohnungslosenhilfe, aber auch beispielsweise der Perspektive von Frauenhäusern. Das liefert einen umfassenden Überblick und zeigt, wie viele Stellen kooperieren müssen, um bedarfsgerechte Hilfen zu etablieren. Die vielen Beispiele und Beiträge unterscheiden sich teils weitgehend in den Details der Hilfe, nicht aber in der wertschätzenden Haltung Betroffenen gegenüber. Die einzelnen Beiträge sind sehr unterschiedlich, nicht nur in ihrer Perspektive, sondern auch in der Länge, der Sprache und in Einzelfällen auch der Qualität (wenn zehn Jahre alte Statistiken aus Sekundärquellen zitiert werden, ist das immerhin erklärungsbedürftig). Das gemeinsame Literaturverzeichnis hat Vor- und Nachteile, für die Lektüre der einzelnen Beiträge erschwert es meines Erachtens etwas den Überblick.
Alles in Allem ist das Buch ein gelungener Beitrag für ein Feld, das langsam die Bedarfe erkennt und Konzepte entwickelt, diese auch zu adressieren. Hier ist gerade viel in Bewegung und angesichts von Wohnungsnot in Ballungszentren gibt es auch von Seiten der (Sozial-)Psychiatrie ein gesteigertes Interesse am Thema Wohnen. Die Praxisbeispiele machen Hoffnung, dass sich für Betroffene immer häufiger Wege passgenaue Hilfen und selbstbestimmte Wege aus existentiell bedrohlichen Lagen finden werden.
Fazit
Das Buch bietet eine Vielfalt der Perspektiven auf ein Feld, das aufgrund der Schnittstellen schwer zu bearbeiten ist – und in dem die Menschen aufgrund der mehrfachen Belastungen durch Armut, Wohnungslosigkeit und psychische Erkrankungen drohen, durch jedes Raster zu fallen. Es stellt die Dringlichkeit der Lage klar, gibt aber auch Hoffnung durch viele gelingende Praxisbeispiele. Die Lektüre empfiehlt sich für Praktiker*innen, insbesondere für die Weiterentwicklung von Hilfsangeboten, aber auch für Studierende, die einen Einblick in den Alltag der Betroffenen wie der Helfenden gewinnen wollen.
Rezension von
Martina Pistor
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Zitiervorschlag
Martina Pistor. Rezension vom 10.08.2023 zu:
Henning Daßler (Hrsg.): Wohnungslos und psychisch erkrankt. Psychiatrie Verlag GmbH
(Köln) 2023.
ISBN 978-3-96605-173-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30606.php, Datum des Zugriffs 04.12.2023.
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