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Hannah Wahl: Radikale Inklusion - Ein Plädoyer für Gerechtigkeit

Rezensiert von Prof. Dr. Clemens Dannenbeck, 12.01.2024

Cover Hannah Wahl: Radikale Inklusion - Ein Plädoyer für Gerechtigkeit ISBN 978-3-7011-8278-7

Hannah Wahl: Radikale Inklusion - Ein Plädoyer für Gerechtigkeit. Leykam (Graz) 2023. 128 Seiten. ISBN 978-3-7011-8278-7. D: 14,00 EUR, A: 14,50 EUR, CH: 20,30 sFr.
Reihe: Leykam Streitschrift. .

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Thema

Wie steht es mit der gesellschaftlichen Inklusionsentwicklung – und in welcher Verfassung befindet sich der politische und zivilgesellschaftliche Inklusionsdiskurs? Diese Streitschrift für eine radikale Inklusion sieht ihren Anlass in einer wenig erfreulichen Bestandsaufnahme, eineinhalb Jahrzehnte nach der Ratifizierung der UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung (UN-BRK) durch Österreich (und Deutschland). Der Text versteht sich als Plädoyer für ein (erneuertes) gesellschaftspolitisches Inklusionsverständnis, das, abgeleitet von der menschenrechtlichen Perspektive der UN-BRK, nicht davor zurückschreckt, „die Systemfrage zu stellen“ (84) – und diese Positionierung bezieht sich keineswegs nur auf gesellschaftliche Teilsysteme wie das Bildungssystem, sondern auf den Kapitalismus als Ganzes, insbesondere in seiner neoliberalen Phase der Gegenwart.

Autor:in

Hannah Wahl ist seit 2018 für die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit des Unabhängigen Monitoringausschusses zur Umsetzung der UN-BRK in Österreich verantwortlich. Als studierte Geschichtswissenschaftlerin und freie Journalistin verfolgt sie in Bezug auf Inklusion eine intersektionale und transdisziplinäre, engagierte Perspektive.

Entstehungshintergrund

Einiges mag inzwischen im Namen von Inklusion geschehen sein – die Beispiele, die Hannah Wahl für Österreich nennt, lassen sich erstaunlich problemlos auch um deutsche politische Entscheidungen ergänzen. Mit einer Umsetzung dessen, was die UN-BRK erfordert und gesellschaftlichen Veränderungen, die substanziell die Lebenssituation und -lage von Menschen mit Behinderung in Bezug auf Gewährleistung von Teilhabe und wirksamen Diskriminierungsschutz verbessern würden, haben diese Maßnahmen jedoch wenig zu tun. Im Gegenteil – die Krisenerfahrungen der Gegenwart (Hannah Wahl spricht explizit die Pandemie mit ihren ausgrenzenden und diskriminierenden Folgen für Menschen mit Behinderung an) – verweisen schonungslos auf die „systematische Unmenschlichkeit des Kapitalismus“ (11). Inklusion demgegenüber ist, ihrem Anspruch nach, ein revolutionäres Projekt, das herrschende Strukturen infrage stellt und nicht mit ein wenig mehr paternalistisch-symbolhafter Zuwendung und ohne Infragestellung des ableistischen Charakters der gesellschaftlichen Verhältnisse realisiert werden kann.

Aufbau

Die Selbstbezeichnung als Streitschrift kokettiert mit einem kämpferischen Duktus, der die hier formulierte Position zu inklusiver Praxis im Sinne eines revolutionären gesellschaftspolitischen Projekts gegen realpolitische Weichspülungen und Bedenken nachdrücklich in Stellung bringt. Im Sinne eines Manifests gliedert sich der überschaubare, aber stets prägnant formulierte Text in jeweils knappe Abschnitte zum Begründungszusammenhang der Thematik, zur Bestandsaufnahme der herrschenden „Inklusionsdynamik“, zur Skizzierung eines „radikalen Inklusionsverständnisses“ und einem abschließenden Teil, „was wir jetzt tun müssen“. Dieser ist bemüht, konkret auf individueller Ebene zivilgesellschaftlich umsetzbare Handlungsempfehlungen zu formulieren.

Die Autorin räumt ein, dass der vorliegende Text trotz aller anvisierter Öffentlichkeitswirksamkeit, nicht stringent nach Regeln der Barrierefreiheit durchgestaltet ist – weshalb ihm am Ende als Kompromiss eine Zusammenfassung in leichter Sprache (A2) beigefügt wurde.

Die Quellen der Zitate und im Text erwähnten empirischen Befunde sind wissenschaftlichen Standards entsprechend bibliografisch vollständig belegt.

Inhalt

Je nach Einschätzung sind inklusionsorientierte Entwicklungen inzwischen zum Erliegen gekommen oder auch vielfach einem heftigen Backslash ausgesetzt. Gerade die Pandemie hat gezeigt, was fehlende Inklusion für Menschen mit Behinderung bedeutet: Von diskriminierender Bevormundung, asolidarischer Ignoranz bis hin zu offenen Gewaltexzessen reicht die Palette systemischer Unmenschlichkeit, die in Krisenzeiten offen zutage getreten ist. Der vorliegende Text macht als Ursache nicht fehlende Ressourcen oder unaufgeklärtes Bewusstsein, auch nicht unhinterfragte Haltungen oder grassierende stereotype Vorstellungen aus, sondern benennt die Struktur- und Funktionsbedingungen kapitalistischer Verhältnisse als Ursache der machtvoll durchgesetzten Ungleichheit und schließt daraus: „Inklusion muss gesellschaftspolitisch sein“ (13).

Daran haben kosmetische Interventionen, die seit Ratifizierung der UN-BRK in Österreich (und auch in Deutschland) zu verzeichnen sind, nichts Wesentliches geändert. Die Funktion etwa von stationären Unterbringungen blieb auch nach aktivistischen Reformbemühungen unverändert, gleiches gilt für den Arbeitsmarkt, vom Bildungssystem ganz zu schweigen. Die bisherigen Interventionen haben Inklusion vielmehr zur Worthülse und zum bloßen Schlagwort verkommen lassen, ihr revolutionäres Potenzial, die eigentliche gesellschaftspolitische Provokation, die nicht zuletzt vom Behinderungsverständnis der UN-BRK ausgeht, geriet aus dem Blick.

Ein menschenrechtlich fundiertes kulturelles Verständnis von Behinderung erfordert demgegenüber die Analyse und Offenlegung herrschender ableistischer Verhältnisse und deren Kritik. Diese äußern sich in systematischer Unterdrückung, aber auch in Praxen des Othering und Silencing. Anerkennung und Wertschätzung wird Menschen mit Behinderung nur in dem Maße (und unter Finanzierungsvorbehalt) entgegengebracht, in dem sie marktökonomisch verwertbare Leistungen erbringen und so bereit und in der Lage sind, sich der auf Konkurrenz und Wettbewerb gebürsteten Leistungsgesellschaft anzupassen und unterzuordnen.

„Die Verwertbarkeit der Menschen ist der maschinelle Antrieb neoliberaler Logik – so die auf den Punkt gebrachte Erkenntnis“ (53). Teilhabe ist in diesem Zusammenhang stets nur bedingt, unter Berufung auf Eigenverantwortung, gewährt – sofern sie sich als gewinnbringend und wertschöpfend erweist. Ausgrenzung als Struktur- und Erkennungsmerkmal der Gesellschaft und die Existenz von Parallelwelten, die euphemistisch als „Schutzräume“ inthronisiert werden (wobei die Frage im Raum steht, wer hier vor wem „geschützt“ werden soll und wird), bleiben davon unberührt.

Auch die Menschenrechte werden in neoliberal-kapitalistischen Verhältnissen instrumentalisiert, sie sind „davon abhängig, wie sie die Staaten interpretieren“ (71). Dennoch erweist sich gerade das Versprechen (unrealisierter) Menschenrechte als wirkmächtig und nachhaltig widerständig. In diesem Sinne „radikale Inklusion öffnet den Raum für einen Diskurs, der explizit politisch sein will und intersektionale Perspektiven mit einbezieht“ (82).

Am Ende hält der Text noch einige Hinweise bereit, „was wir jetzt tun müssen“ (87ff). Das sind zunächst scheinbar nur die bekannten individuellen Verhaltenstipps, etwa die Bereitschaft, begriffskritisch zu reflektieren, Strategien des Powersharing und Allyship zu entwickeln, nicht nur digital, sondern in erster Linie in einer analogen Welt. Im Zentrum der Empfehlungen steht aber eine radikale Politisierung des Einzelnen, die in letzter Konsequenz bedeutet, „den Kapitalismus gemeinsam zu bekämpfen, zu überwinden und eine gerechte Gesellschaft zu gestalten“ (97).

Diskussion

Der vorliegende Text tut gut – stellt er doch einigermaßen schonungslos den Stand der Inklusion infrage – und das einmal nicht vor dem Hintergrund behaupteter Unerreichbarkeit, sondern unter konsequenter Bezugnahme auf den Geist der UN-BRK. Er wäre als Manifest zu betrachten, das geeignet ist, durchaus auch die Spreu vom Weizen zu trennen, insofern es ja gegenwärtig kaum mehr ausreicht, Aufklärung und Sensibilisierung für die Thematik zu erzeugen, sondern realpolitischem Gegenwind widerständig zu begegnen – einem Gegenwind, der nicht nur inklusionsskeptisch sich geriert, sondern immer offeneren Dissens propagiert – wo Autoritarismus, Populismus sowie Demokratie- und Menschenfeindlichkeit auf dem Vormarsch sich befinden, bedarf es radikaler Positionierungen der vorliegenden Art, die kapitalistisch-ableistische Verhältnisse durchschaubar machen und die systematischen Unterdrückungsverhältnisse ansprechen.

Fazit

Diesem Manifest ist eine weite Verbreitung zu wünschen. Es kann und will nicht die inklusionstheoretische Reflexion und auch nicht eine differenzierte Rezeption empirischer Inklusionsforschung ersetzen, aber es bietet einen soliden, entschieden nicht reduktionistischen Einstieg in die politische Auseinandersetzung um Inklusion als praktische Anwendung der UN-BRK. Das ist untrennbar verbunden mit dem Einsatz für die Zukunft einer offenen demokratischen Gesellschaft, die sich zum Zusammenhang von Diversität, Nachhaltigkeit und Gerechtigkeit bekennt.

Rezension von
Prof. Dr. Clemens Dannenbeck
Dipl. Soz., Hochschule für angewandte Wissenschaften Landshut
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Es gibt 11 Rezensionen von Clemens Dannenbeck.

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ISSN 2190-9245