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Lena Posch: Vernehmungs- und Aussagepsychologie für Polizeistudium und -praxis

Rezensiert von Wolfgang Schneider, 25.05.2023

Cover Lena Posch: Vernehmungs- und Aussagepsychologie für Polizeistudium und -praxis ISBN 978-3-415-07268-8

Lena Posch: Vernehmungs- und Aussagepsychologie für Polizeistudium und -praxis. Richard Boorberg Verlag (Stuttgart) 2023. 412 Seiten. ISBN 978-3-415-07268-8. D: 29,80 EUR, A: 30,70 EUR.

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Thema

Im Prinzip handelt es sich um ein Lehrbuch für Studierende und bereits aktive Polizist*innen, das beschreibt, welche Vernehmungs- und Aussagepsychologischen Aspekte bei Befragungen von verschiedenen Zielgruppen, mit denen die Beamt*innen in Kontakt kommen, zu berücksichtigen sind.

Autorin

Professorin Dr. Lena Posch ist Fachpsychologin für Rechtspsychologie. Sie lehrt und forscht an der Hochschule in der Akademie der Polizei Hamburg.

Aufbau und Inhalt

Das Werk stellt die für Vernehmungen von Opfern, Zeug*innen sowie Beschuldigten relevanten psychologischen Forschungsbefunde dar. Vernehmungsbeamt*innen treffen in ihrer Vernehmungspraxis auf unterschiedlichste Aussagepersonen, z.B. Opferzeug*innen, Kinder, Jugendliche und Personen mit intellektuellen oder psychischen Beeinträchtigungen. Jeder Mensch hat sehr verschiedene personale, motivationale und soziale Voraussetzungen, auf die in jedem Fall individuell reagiert werden muss.

Die Autorin zeigt die nach aktuellem Forschungsstand geeigneten und weniger geeigneten Vernehmungstechniken auf und grenzt sie voneinander ab. Fall- und Transkriptbeispiele veranschaulichen die Praxis. Zudem werden am Ende der Kapitel die daraus folgenden Implikationen für die Vernehmung behandelt. Erläutert werden Grundsätze, die generell zur Anwendung kommen sollten – wie ein ergebnisoffenes Vorgehen, eine unvoreingenommene Haltung und ein respektvoller, nicht vorverurteilender Umgang mit allen Aussagepersonen. Aufgrund der besonderen Vulnerabilität bestimmter Personengruppen sind darüber hinaus möglicherweise Besonderheiten zu beachten und in der Vernehmung besonders zu berücksichtigen.

Mit fast 50 Seiten nimmt das Kapitel über die Befragung von Kindern einen sehr großen Raum ein, sodass in dieser Rezension darauf ein Fokus gerichtet werden soll. Hier beschreibt die Autorin zunächst Aspekte der Entwicklungspsychologie, die bei Vernehmungen von Bedeutung sein können. Nach der Darstellung der Sprachentwicklung und des Begriffsverständnisses im Vorschulalter kommt ein Kapitel, dass sicherlich auch für Sozialarbeiter*innen vor allem Kinderschutz wichtig sein könnte: Wie ist es bei Kindern um das autobiografische Gedächtnis bestellt? Wie können Erinnerungen abgerufen werden und was bedeutet das für die Aussagefähigkeit von Kindern? Aber auch die Fähigkeit, Ereignisse zeitlich einzuordnen und die Kompetenz zu lügen, zu täuschen oder zu verschweige, wird näher beleuchtet. Im folgenden Unterkapitel steht ebenfalls ein auch für den Kinderschutz wichtiges Thema im Fokus, nämlich Berichte über mehrfach stattfindende Vorfälle – wie in den vorherigen Abschnitten wird auch dieser Bereich um mögliche Techniken bei der Gesprächsführung ergänzt wie zum Beispiel das Aufgreifen von Details aus vorherigen Schilderungen des Kindes, um so einen Anschluss an Gesagtes zu erreichen. Weiter werden sogenannte Quellenverwechslungsfehler wie die Unterscheidung zwischen Realität und Fantasie in der kindlichen Entwicklung sowie potenzielle suggestive Einflussfaktoren auf Kinder beschrieben. Ein solcher Faktor wäre zum Beispiel die häufige Wiederholung geschlossener Fragen.

Ein weiterer großer Abschnitt widmet sich Aspekten der Vernehmungsgestaltung von Kindern. So werden strukturierte Vernehmungsleitfäden eingeführt bevor beschrieben wird, wie eine Übungsphase zu einem nicht für die Befragung relevanten Ereignis helfen können, zum einen den Entwicklungsstand des Kindes zu überprüfen und zum anderen dieses auf die Art des Gesprächs vorzubereiten – und wie dann die Überleitung zum eigentlich Grund des Zusammentreffens erfolgen kann. Weiter wird beschrieben, wie Puppen oder Spielzeuge, das Anfertigen von Zeichnungen oder auch der Einsatz von Bildkarten hilfreich sein können. Den Abschluss des Kapitels bilden ein Teil über Aussagemotivation bei Kindern (Beeinflussung durch erwachsene Bezugspersonen?) sowie über die speziellen Herausforderungen beim Umgang mit Opferzeug*innen bei Anzeigen wegen sexualisierter Gewalt.

Inhaltlich finden sich in dem Buch auf rund 410 Seiten sozial- und kommunikationspsychologische Aspekte der Vernehmung, Ausführungen über den Aufbau einer Vernehmung und Fragetechniken sowie ein spezieller Blick auf Vernehmungen von Opferzeug*innen und Kindern. Beschrieben werden anschließend psychologische Aspekte der Beschuldigtenvernehmung, bevor die Autorin sich der Frage nähert, ob es nonverbale Lügenmerkmale gibt. Den Abschluss bilden vernehmungs- und aussagepsychologisch relevante Aspekte bei Personen mit psychischen Störungen und kognitiven Beeinträchtigungen.

Diskussion

Was bitte soll ein Buch für Studierende und Praktiker*innen aus dem Polizeibereich auf einem Fachportal für den Sozialbereich zu suchen haben? Was auf den ersten Blick befremdlich wirkt, kann durchaus Sinn machen. Und das lässt sich sehr gut an diesem Buch verdeutlichen. Alleine der Grundsatzteil über kindliche Wahrnehmung und Kommunikation ist wissenserweiternd und davon abgesehen auch noch spannend geschrieben. Was können Kinder ab welchem Alter erinnern? Wie können Befragungen von Kindern so durchgeführt werden, dass ihnen die Interviewer*innen nichts in den Mund legen? Das sind Fragen, deren Beantwortung durchaus auch Sozialarbeiter*innen interessieren sollte, gerade unter dem Aspekt von Maßnahmen im Kinderschutz. Hier schreibt die Sozialgesetzgebung sehr deutlich vor, dass Kinder – ihrem Alter angemessen – zu den Gefährdungsmomenten befragt werden sollen. Dass das eine Kunst ist, die nicht jede*r beherrscht, hat auch der Rezensent schon am eigenen Leib erlebt. Umso wichtiger ist es, sich damit zu beschäftigen und das eigene Wissen zu erweitern. Das gelingt mit diesem hochfachlichen Buch exzellent, denn es werden eben nicht nur die kindlichen Entwicklungsschritte, die für Befragungen relevant sind, eingängig, aber dennoch vollständig beschrieben, sondern eben auch konkret die korrekte Art, Kinder so zu befragen, dass die Antworten auch verwertbar sind. Für Maßnahmen im Kinderschutz ist das so enorm wichtig, dass man dieses Buch all jenen Mitarbeiter*innen, die damit im Alltag zu tun haben, direkt ans Herz legen möchte. Und gerade hierzu bietet das oben näher beschriebene Kapitel ein großes Portfolio an wichtigen Hinweisen und Erläuterungen, deren Umsetzung eben nicht bloß auf den polizeilichen Kontext zu beziehen ist.

Dass die entsprechenden Passagen so eingängig sind, ist unter anderem darauf zurückzuführen, dass ausführliche Fallbeispiele zeigen, wie es gut gemacht wird, aber auch, wie schlimme Fehler begangen werden. Und – auch wenn es an dieser Stelle eine Wiederholung sein sollte – das ist nicht nur für Polizeibeamt*innen wichtig, sondern eben auch vor allem in der Jugendhilfe.

Ganz davon abgesehen lohnt es sich einfach, einmal einen Blick über den eigenen fachlichen Tellerrand zu werfen. Dümmer werden auch Fachkräfte der Sozialen Arbeit nicht, wenn sie wissen, was Polizist*innen im Studium lernen. Zumal es durchaus spannend ist, nachzulesen, wie falsche Aussagen oder Verzerrungen von Wahrnehmungen zustande kommen. Dass die Autorin hierzu immer wieder wissenschaftliche Experimente zur Erklärung heranzieht, unterstreicht ein weiteres Mal die hohe Qualität dieses Buches.

Fazit

Auch wenn es auf den ersten Blick fachfremd wirkt, ist dieses Buch durchaus für Fachkräfte der Sozialen Arbeit interessant und lesenswert. Zwar sind Sozialarbeiter*innen und andere Fachkräfte keine Ermittlungsbehörde, die Vernehmungen durchführen und Aussagen bewerten müssen, aber die Grundlagen dazu lassen sich durchaus auch auf Felder der Sozialen Arbeit anwenden – als Beispiel seien hier nur Entscheidungen über das Kindeswohl sichernde Maßnahmen genannt. Ganz davon abgesehen: Ein Blick über den eigenen fachlichen Tellerrand lohnt sich grundsätzlich.

Rezension von
Wolfgang Schneider
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Zitiervorschlag
Wolfgang Schneider. Rezension vom 25.05.2023 zu: Lena Posch: Vernehmungs- und Aussagepsychologie für Polizeistudium und -praxis. Richard Boorberg Verlag (Stuttgart) 2023. ISBN 978-3-415-07268-8. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30610.php, Datum des Zugriffs 28.05.2023.


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