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Alex J. Kay: Das Reich der Vernichtung

Rezensiert von Prof. Dr. Gertrud Hardtmann, 15.06.2023

Cover Alex J. Kay: Das Reich der Vernichtung ISBN 978-3-8062-4504-2

Alex J. Kay: Das Reich der Vernichtung. Eine Gesamtgeschichte des nationalsozialistischen Massenmordens. wbg Wissenschaftliche Buchgesellschaft (Darmstadt) 2023. 455 Seiten. ISBN 978-3-8062-4504-2. D: 38,00 EUR, A: 39,10 EUR.

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Thema

Eine integrative und umfassende Geschichte des nationalsozialistischen Massenmords an 13 Millionen Zivilisten und Nichtkombattanten.

Autor

Alex J. Kay ist ein britischer Historiker, der über das nationalsozialistische Deutschland publiziert hat und am Historischen Institut der Universität Potsdam tätig ist.

Entstehungshintergrund

Entstehungshintergrund ist eine umfassende Geschichte des nationalsozialistischen Massenmordens auf dem Hintergrund der Kriegsstrategie des NS-Regimes einer Politik des Völkermords zu geben. Fast die Hälfte der ungefähr 13 Millionen Opfer waren Juden.

Aufbau

Nach einer Karte Europas im Jahr 1941 und der Einleitung folgen die Kapitel I (Sommer 1939 – Sommer 1941), II (Sommer 1941 – Frühjahr 1942), III (Frühjahr 1942 – 1945), Schlussbetrachtung und Anhang.

Einleitung

Unter dem Deckmantel des Krieges wurde die systematische Ermordung ganzer ethnischer und sozialer Gruppen im Zeitraum von vier bis fünf Jahren durchgeführt. Die heterogenen Opfergruppen (jüdische und nichtjüdische, ost- und westeuropäische, in- und ausländische) bedrohten angeblich die Kriegsziele der Nazis (Rassenpolitik, Konkurrenz um Nahrung/​Unterkunft und eine Germanisierung größerer polnischer und russischer Gebiete). Die Täter kamen aus verschiedenen Organisationen von Staat, Partei und der Wehrmacht, vorwiegend Reichs- und Volksdeutsche und Österreicher. Ein ethnischer Nationalismus, aber auch die Erfahrung kolonialer Gewalt, z.B. in Namibia, und die ‚verspätete‘ Nationbildung spielten vielleicht eine Rolle. Der Stillstand des Vormarsches bildete im Osten den Rahmen für die Steigerung des Massenmords. Mit auch sehr persönlichen Beiträgen versucht Kay, den Opfern nachträglich eine Stimme zu geben und an sie zu erinnern.

Teil I: Sommer 1939 -Sommer 1941

1. Die Tötung der Kranken im Deutschen Reich und in Polen

Kay beschreibt detailliert die Tötung der Kranken im Deutschen Reich und in Polen und die Enthauptung der polnischen Gesellschaft durch die gezielte Tötung der Eliten. Euthanasiedebatten gab es in Europa bereits im 19. Jahrhundert, in Deutschland verstärkt nach der Niederlage 1918. Vor 1939 wurden mit der Kinder-Euthanasie (angeborene Nutzlosigkeit) mit und ohne elterliche Zustimmung ‚Mordstationen‘ eingerichtet wurden, nach 1939 auch für eine gezielte Tötung von erwachsenen Psychiatriepatienten in Polen ( insgesamt mindestens 7700 deutsche und polnische Opfer). Zur Tötung wurden zunächst Medikamente und Nahrungsentzug, später Gaswagen eingesetzt. Offiziell 1941 beendet, wurde das Mordprogramm dennoch fortgesetzt (insgesamt ca. 80 000 Opfer).

2. Die Enthauptung der polnischen Gesellschaft

Bereits in den ersten 55 Tagen der Besetzung Polens wurden ca. 20 000 Zivilisten ermordet. Heydrich verlangte neun Tage nach der Kapitulation die „Liquidierung des führenden Polentums“ (Intelligenz, Widerstand, u.a. Schuljungen). Bis Ende 1939 hatten die Einsatztruppen, die Wehrmacht und der „Volksdeutsche Selbstschutz“ mehr als 60 000 ermordet. Im Mai 1940 begann die AB (Außerordentliche Befriedungsaktion) mit der Verhaftung von ca. 1000 Personen. Hinrichtungen erfolgten ohne formelle Gerichtsverfahren in abgeschiedenen Waldstücken (ca. 3500 bis Ende Sommer 1940, zusätzlich ca. 3000 ‚gewöhnliche Kriminelle‘).

Teil II Sommer 1941 – Frühjahr 1942

3. Holocaust durch Kugeln

Nach dem Einmarsch im April 1941 wurde die Balkanhalbinsel zum Versuchslabor für die Rassenpolitik. In Serbien wurden Kriegsrecht, Wehrpflicht und Ausgangssperren angeordnet. Im ‚Weltanschauungskrieg‘ wurden Juden und Kommunisten (Männer und Frauen, auch unter dem Deckmantel ‚Vergeltung‘ wegen Partisanentätigkeit) erschossen. Konzentrationslager wurden errichtet und mit einem Massemord an jüdischen Männern fand ein Vorläufer der ‚Endlösung‘ statt.

Nach dem Einmarsch in die Sowjetunion ermordete Einsatzgruppen (Kampf gegen jüdische Weltbolschewisierung) Juden. Ergebnisoffene Weisungen öffneten Spielräume für Interpretationen unter der Beteiligung der Wehrmacht (zahlreiche Beispiele). Bis Ende Juli 1941 waren durch die Einsatzgruppen ca. 63 000 Menschen ermordet worden (darunter auch Frauen und Kinder). Nach dem Scheitern des Blitzkrieges radikalisierte sich die Besatzungs- und Sicherheitspolitik in den eroberten Gebieten (Übergang zum Genozid, u.a. in Weißrußland und der Ukraine, in Babi Jar: Erschießungen von 33 771 Juden). Über Feldpostbriefe wurden auch Familien in Deutschland unterrichtet.

Nach Auflösung der 822 Ghettos (mehr als die Hälfte in der Ukraine) wurden die Insassen zum Teil ermordet (Erschießungen und Einsatz von Gaswagen) und zum Teil in Konzentrations- und Vernichtungslager verlegt.

4. Die Ermordung von Psychiatriepatienten und Roma in der Sowjetunion

Militärärzte reklamierten für sich die Gebäude der psychisch Kranken. Die Einsatzgruppen kümmerten sich um die Räumung und die Sicherheitspolizei, zum Teil auch die Pfleger, um die Tötung der mindestens 17 000 Patienten (Giftinjektion, Gaswagen, Erschießungen).

Roma wurden als arbeitsscheu und als Spione (Partisanen) angesehen; ihre Ermordung wurde von den Einsatzgruppen durchgeführt, allerdings nicht überall systematisch. Es wurden insgesamt ca. 30 000- allein in Weißrussland, davon ca. 6000 aufgrund der Rassenideologie und der Gleichsetzung mit Partisanen ermordet.

5. Die Aushungerungspolitik gegen die sowjetische Stadtbevölkerung

Bekannt ist die Einkesselung und Belagerung von Leningrad, aber die Strategie galt allen Großstädten, da die vorhandenen Lebensmittel zur Versorgung der deutschen Bevölkerung gebraucht wurden. Geplant im Reichsministerium für Ernährung und Landwirtschaft (RMEL) wurde das Projekt unterstützt von der militärischen Führung und der Ministerialbürokratie (entsprechende Planungen gab es bereits vor Kriegsbeginn). 1941 sollte der russische Verbrauch um 10 % gesenkt werden und die Versorgung der Truppen gesichert werden durch Aushungern von Millionen Menschen in den besetzten Gebieten – insbesondere den Städten (Ernährungs- und Aushungerungspolitik als aktive Kriegswaffe). In Leningrad verhungerten mehr als 1,3 Millionen. In Kiew und Charkow war der hungernden Bevölkerung verboten, die Stadt zu verlassen. Alte, Kranke und Kinder waren besonders gefährdet.

6. Die Vernichtung gefangener Rotarmisten

Bereits im Juli 1941 gab es 360 000 Gefangene; die Rationen waren klein, mitunter gab es keine, und entsprechend war die Sterblichkeitsrate sehr hoch (im Gegensatz zu französischen Kriegsgefangenen). Vernachlässigung in der Unterbringung (Erdhöhlen) und Hunger führten zu einem Massensterben: Anfang Februar 1942 waren bereits 2 Millionen (60 %) an Hunger, Erschöpfung und Epidemien gestorben; hinzukamen Zwangs(Todes)märsche Richtung Westen und Erschießungen.

Politoffiziere der Roten Armee, gefangenen Juden und Frauen in der Armee (Flintenweiber) wurden Opfer des Kommissarbefehls 1941. Seit Oktober 1941 wurden sowjetische Kriegsgefangene auch als Zwangsarbeiter in der Rüstung eingesetzt.

7. Präventivterror und Vergeltungsmaßnahmen gegen Zivilisten

Am Beispiel von Weißrußland, Jugoslawien und Griechenland beschreibt Kay, wie brutal deutsche Truppen in Osteuropa vorgegangen sind (Gegensatz zu Westeuropa, obgleich auch in Frankreich 1944 in Oradour-sur-Glane 642 Einwohner erschossen wurden). Aber in Osteuropa war die Zerstörung ganzer Ortschaften und sämtlicher Bewohner nach dem Ende des Blitzkrieges die Regel. In Weißrußland ging es auch um eine Änderung des nationalen und ethnischen Zusammensetzung der Bevölkerung (Entvölkerung), in Jugoslawien unter dem Deckmantel ‚Partisanenbekämpfung‘ vor allem um die Ermordung von Juden und Roma ging (es gab Hinrichtungsquoten). In Griechenland wurden Städte und Dörfer vernichtet und bis zu 100 000 Menschen erschossen. Insgesamt wurden unter dem Deckmantel ‚Partisanenbekämpfung‘ etwa 1 Million Menschen erschossen. In den Partisanenhochburgen Weißrußland, Jugoslawien und Griechenland kam es durch einzelne und kollektive Maßnamen zu zivilen Opfern in jeweils sechsstelliger Höhe.

Teil III Frühjahr 1942 - Frühjahr 1945

8. Holocaust durch Gas: Die Aktion Reinhardt

1942 wurden mehr als drei Millionen Juden vor allem im Generalgouvernement ermordet (Radikalisierung der Besatzungs- und Sicherungspolitik). Das erste Vernichtungslager war nach Auflösung des Ghettos Chelmno bei Lódz. In Belzec wurden stationäre Gaskammern verwendet, später auch auch in Sobibor und Treblinka. Nach Räumung des Warschauer Ghettos Juli 1942 wurden 300 000 Menschen nach Treblinka deportiert, nur wenige überlebten zunächst als ‚Arbeitsjuden‘; mit der Auflösung begann auch die Spurenbeseitigung. Häftlingsaufstände im August und Oktober 1943 in Treblinka und Sobibor ermöglichten einigen Häftlingen die Flucht und den Anschluss an Partisanen.

9. Die Pforten der Hölle: Auschwitz

Nach Auschwitz wurden ca. 1.3 Millionen zwischen 1940 und 1945 deportiert, von denen 1.1 Millionen umkamen (80 % Juden). Zunächst als Durchgangslager zum Konzentrationslager geplant (Häftlinge als Zwangsarbeiter für die Industrie), starben viele an Unterernährung. Das erste Krematorium war im August einsatzbereit, 1941 wurden Versuche mit Blausäure durchgeführt. Nachdem 1943 den Juden verboten war, Deutschland zu verlassen, war deren Ausrottung geplant und fand in größerem Maßstab im Juli 1942 statt (nach einer Vergrößerung des Krematoriums in Birkenau, 1943 waren vier im Einsatz). Unter den Deportierten waren auch mindestens 232 000 Kinder und Jugendliche.

Die geflüchteten Häftlinge Vrba und Wetzler veröffentlichten im April 1944 einen Bericht. Im November 1944 wurde das Morden auf Befehl Himmlers eingestellt, und es begannen die Spurenbeseitigung und die Todesmärsche, die nur wenige überlebten.

10. Der Genozid an den europäischen Roma

Die drittgrößte Gruppe in Auschwitz waren Sinti und Roma (ohne Differenzierung nach Mischlingsgrad), deren Transport nach Auschwitz-Birkenau von Himmler im Dezember 1942 angeordnet wurde (mit Ausnahme von Arbeitern in der Rüstungsindustrie, Kriegsinvaliden und dekorierten Veteranen). Vorgesehen war zunächst eine Deportation ins Generalgouvernement. Die tödliche Politik (Hunger, Ermordungen) erfasste 1941 auch Österreich, die Südukraine, die Krim und Serbien und nach und nach alle deutsch besetzten Gebiete. Hohe Verluste gab es im ‚Familienlager‘ in Auschwitz-Birkenau durch mangelnde Hygiene, Krankheiten, Hunger und Vergasungen; im August 1944 wurde es endgültig aufgelöst; insgesamt kamen mehr als 20 000 Roma in Auschwitz um, – ein systemischer Massenmord.

11. Dezentralisierte „Euthanasie“ im Deutschen Reich

Die Vernichtung ‚lebensunwerten Lebens‘ ging auch nach Ende von T4 August 1941 unvermindert weiter, Personal und Einrichtungen wurden danach in Konzentrationslagern genutzt. Ärztliche Untersuchungen selektierten vor allem jüdische Häftlinge. Mit der Aktion 14f13 wurden Lagerinsassen Opfer systematischen Massenmords, eingeschränkt in der 2. Hälfte 1941 auf arbeitsunfähige Häftlinge. Regional kam es zu Aushungerinitiativen (in Sachsen z.B. nach Verlegung aus dem Rheinland). Auch Überbelegungen führten zu Tötungen durch Medikamente und Nahrungsentzug; insgesamt wurden zwischen 1939 und 1945 mindestens 196 000 kranke und behinderte Menschen im Deutschen Reich ermordet.

12. Die Niederschlagung des Warschauer Aufstands. (18 Seiten)

Nachdem die polnische Exilregierung am 25.7.1944 die Heimartarmee zu einem Aufstand ermächtigt hatte, wurde dieser am 1.8. gestartet. Die Mobilisierung innerhalb der Stadt hatte aber bereits zu Gefechtsbereitschaft der Besatzung geführt. Himmler befahl, die Stadt, einschließlich der Zivilisten, vollständig zu zerstören. Nachdem die Rote Armee ihren Vormarsch gestoppt hatte, begann am 5.8. der Sturmangriff im Westen der Stadt: Gebäude wurden zerstört, Frauen, Kinder, Alte, Verwundete und Kranke ermordet und Frauen vergewaltigt; viele kamen auch in den brennenden Häusern um. Nur mangels Munition wurde das Morden verlangsamt. Die Aufständischen musste nach und nach aufgeben, verbrauchten am 1.9. ihre letzten Reserven und unterzeichneten am 2.10. die Kapitulation; ca. 185 000 Zivilisten waren getötet worden, 15 000 polnische Soldaten im Kampf gefallen, 600 000 Überlebende kamen zunächst in ein Durchgangslager und von dort in Konzentrationslager oder zur Zwangsarbeit. Von den 13 000 nach Auschwitz Deportierten waren ca. 10 % Kinder und Jugendliche.

Schlussbetrachtung

13 Millionen Menschen wurden von 1939 – 1954 Opfer eines vorsätzlichen Massenmords (ohne Bombenangriffe und Kriegshandlungen), zwei Drittel davon auf sowjetischem Territorium. Eine Niederlage wie 1918 sollte um jeden Preis vermieden werden. Völkermorde sind sowohl vorher, als nachher begonnen worden; neu war aber die Intensität und die große Anzahl der Täter aus mehreren Alterskohorten.

War ein Grund die Niederlage 1918, deren turbulenten Nachwehen oder die Radikalisierung eines völkischen ethnischen Nationalismus? Genozid und Massenmord wurden zu einer Art von Kriegsführung. Nur rassische Motive sind nicht überzeugend, da über die Hälfte der Opfer nichtjüdisch war. Eine Mitgliedschaft in einer staatlichen Organisation war ebenfalls nicht erforderlich. Es herrschte eine ‚zerstörerische Konformität‘, und nur wenige der ‚ganz normalen Deutschen‘ lehnten die Teilnahme ab. Verinnerlichte Autoritätshörigkeit begründete eine Loyalität gegenüber dem NS-Staat und einer völkischen destruktiven und mörderischen Moral.

Diskussion

Die Unerträglichkeit – beim Lesen dieses Buches (!) – führt zu einem noch unfassbaren Erschrecken darüber, dass die Mordorgien für die Täter ‚erträglich‘ waren, da sie – soweit sie überlebten – danach in der deutschen und österreichischen Gesellschaft zumeist unbehelligt und integriert lebten. Aus therapeutischen Behandlungen von Kindern der zweiten Generationen wissen wir allerdings, dass mitunter Väter von Alpträumen geplagt wurden oder durch Kontrollverlust auch innerfamiliär ein Klima von Gewalt und Zerstörung verbreiteten, das elementare und fundamentale Verunsicherung produzierte.

Die Berichte und Fotos zeigen hingegen ein anderes Bild: Erschießungskommando im Einsatz, Rauch aus dem Krematorium, Psychiatriepersonal in fröhlicher Runde, Erschießungen von wehrlosen Zivilisten. Im Gegensatz dazu auf Seiten der Opfer: Kinder vor der Deportation ins Todeslager Chelmno, Erdhöhlenbau (ohne Gerät!) von russischen Kriegsgefangenen, Bild eines 4j. Jungen vor der Ermordung, Selektion in Auschwitz-Birkenau; sind das Erinnerungsfotos ohne Scham und Schuldgefühl?

Das Nachdenken darüber, dass – allerdings im Kriegszustand – sämtliche Hemmungen gefallen sind, obgleich man nicht gezwungen war, sich zu beteiligen, ist emotional erschreckend. Angesichts des ungeheuren Zahlenmaterials, das Kay vorlegt, besteht beim Lesen die Gefahr eines ‚identifizierenden Denkens‘ (Adorno), als könnte man mit ‚Zahlen‘ den Massenmord wie eine ‚Sache‘ vollständig erfassen, während er sich dem entzieht, wenn man anstelle der Zahlen lebendige Menschen vor Augen hat, die sich nicht verdinglichen lassen. Die zitierten Berichte von Zeitzeugen und Opfern lassen bewusst werden, dass wir diesen Massenmord niemals ‚im Griff‘ haben werden.

Denn das Buch wirft Fragen auf, die bis heute unbeantwortet sind. Handelt es sich – nach Schiller – um,Verbrechen aus verlorener Ehre‘, nachdem die erste Schamschranke gefallen war? Brauchte man zur Beschwichtigung und Verleugnung von Scham- und Schuldgefühl die Kriegssituation, die Rassenideologie, die Gruppenzugehörigkeit, und die komplizenhaften Mitteilungen an Angehörige als Mitwisser?

Die Wunden, die diese Verbrechen gerissen haben, die Zahlen, die dazu verführen, das einzelne Opfer aus dem Blick zu verlieren, sind auch in der vierten Generation, wenn man das Buch liest, nicht vernarbt. Es ist mit Sicherheit für Jugendliche und Heranwachsende ungeeignet, aber Erwachsene sollten den Mut haben, sich dieser Realität als unaufgebbarer Teil der deutschen Geschichte zu stellen.

Die zahlreichen Anmerkungen dokumentieren die Belege. Die Bibliographie – unterteilt in Archiv, elektronische Quellen, gedruckte Primärquellen und Erinnerungen und umfangreich Sekundärliteratur – gibt Hinweise zur Vertiefung.

Das Buch ist – wegen der Fakten, die es mitteilt – schwer lesbar und gerade deshalb lesenswert. Die emotionale Resonanz, die die überwältigende Zahl der Opfer hervorrufen sollte, verstummt, wenn man nicht innehält und aus den überwältigenden nackten Zahlen lebendige Menschen wie ‚du-und-ich‘ macht. Eine Abstumpfung wäre tödlich, deshalb ist ein Innehalten beim Lesen zu empfehlen, das aber nicht zum Abbruch der Lektüre führen sollte. Denn wir können uns angesichts der Tatsachen nicht mehr in Traumwelten einer ‚unbefleckten Geschichte und Tradition‘ flüchten. Diese Vernichtung war keine Naturkatastrophe, sondern eine von Menschen gemachte.

Es ist auch deshalb wichtig, weil es nicht auf eine Opfergruppe zentriert ist, und damit auch entlarvt, dass grundsätzlich jeder, der den größenwahnsinnigen Plänen der Nazis im Weg stand oder, denkt man an die Kinder, einmal im Weg stehen könnte, vernichtet wurde. Zudem wird beschrieben, wie für Menschen, die unter autoritären Bedingungen aufgewachsen sind und diese verinnerlicht haben, Gehorsam und Unterwerfung wichtiger sind als humane Werte der Achtung und Unantastbarkeit eines jeden Menschen.

Eine Beobachtung aus dem Prozess gegen Eichmann in Jerusalem sei hier zitiert: „Als Eichmann der Aufzählung der ihm vorgeworfenen ungeheuren Verbrechen beiwohnte, war er unbewegt. Dies waren für ihn leere Worte ohne jeglichen Inhalt. Erst als der Präsident des Gerichts ihn mahnte, sich bei der Anrede zu erheben, brachte er verwirrt Entschuldigungen hervor, stotterte und errötete vor Beschämung. Diesmal, endlich fühlte er sich schuldig“ (B. Grunberger zit. nach Horst-Eberhard Richter: Bedenken gegen Anpassung. Psychoanalyse und Politik. Hoffmann und Campe Hamburg 1995: S. 181).

Fazit

Dieses Buch sollte von jedem Geschichtslehrer gelesen werden und von jedem Erwachsenen, der Jugendliche auf einen Gedenkstättenbesuch vorbereitet und begleitet. Es ist auch wichtig als Grundlage zu Gesprächen mit Rechtsradikalen, da diese oft keine oder nur verkürzte und verharmlosende Vorstellung von den Verbrechen der Nazis und der deutschen Wehrmacht haben.

Rezension von
Prof. Dr. Gertrud Hardtmann
Fachärztin für Neurologie und Psychiatrie, Psychoanalytikerin
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Es gibt 120 Rezensionen von Gertrud Hardtmann.

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Zitiervorschlag
Gertrud Hardtmann. Rezension vom 15.06.2023 zu: Alex J. Kay: Das Reich der Vernichtung. Eine Gesamtgeschichte des nationalsozialistischen Massenmordens. wbg Wissenschaftliche Buchgesellschaft (Darmstadt) 2023. ISBN 978-3-8062-4504-2. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30611.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.


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