Mathias Lindenau, Steve Stiehler (Hrsg.): Umgang mit Ungewissheit und Unsicherheit
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 17.10.2024

Mathias Lindenau, Steve Stiehler (Hrsg.): Umgang mit Ungewissheit und Unsicherheit. Interdisziplinäre Perspektiven. Campus Verlag (Frankfurt) 2024. 178 Seiten. ISBN 978-3-593-52012-4. D: 32,00 EUR, A: 32,90 EUR.
Thema
Unsicherheit, Ungewissheit und Fragezeichen allenthalben. Im individuellen und kollektiven, lokalen und globalen Leben. Der Mensch, als soziales Lebewesen, befindet sich permanent in der Pendelbewegung: „Ich kann alles, und das sofort!“ – „Ich bin unvollständig und, verletzbar!“. Ungewissheiten und Unsicherheiten prägen menschliches Dasein. Mit den Fragen – „Wer bin ich?“ und „Wie bin ich geworden, wer und was ich bin?“ – will der Mensch sich seines Lebenssinns vergewissern. Im traditionellen historischen, intellektuellen, philosophischen, abendländischen Sinn nimmt der Anthrôpos eine Mittelstellung zwischen zôon, Tier, und theos, Gott, ein und steht auf der obersten Stufe der scala naturae (Aristoteles). Gleichzeitig aber erlebt er, dass er ein verletzliches Lebewesen ist (Angela Janssen, Verletzbare Subjekte. Grundlagentheoretische Überlegungen zur conditio humana, 2018, www.socialnet.de/rezensionen/25043.php).
Entstehungshintergrund und Herausgeberteam
An der Ostschweizer Fachhochschule wurde in einer Ringvorlesung interdisziplinär der Frage nachgegangen, wie wir Menschen es schaffen können, mit den (zunehmenden und angenommenen) lokal- und globalgesellschaftlichen Unsicherheiten und Ungewissheiten umzugehen. Es sind die gesellschaftlichen Risiken, die unser Leben bestimmen; und es sind die Herausforderungen, sie in das Leben zu bringen. Die Sozialwissenschaftler Mathias Lindenau und Steve Stiehler geben den Sammelband zur Ringvorlesung heraus.
Aufbau und Inhalt
Weil (scheinbar) Ungewissheiten und Unsicherheiten die einzig verlässlichen Konstanten des menschlichen Lebens sind, gilt es danach zu fragen, wie diese Zumutungen zustande kommen und wirken. Es sind die intellektuellen Anforderungen, an dem Dilemma nicht zu verzweifeln, sondern den Umgang mit Ungewissheiten und Unsicherheiten erkennen und lernen. Es sind eben nicht passive, fatalistische und populistische Einstellungen – „Da kann man nichts machen!“ – sondern sach-, fachbezogene und interdisziplinäre Auseinandersetzungen und Fragen (Julian Nida-Rümelin, u.a., Die Realität des Risikos. Über den vernünftigen Umgang mit Gefahren, 2021, www.socialnet.de/rezensionen/28566.php).
Die Wiener Philosophin Donata Romizi reflektiert mit ihrem Beitrag: „Eros, Sohn der Armut. Wie uns Ungewissheit zur Erkenntnis und Selbsterkenntnis verhilft“, den wissenschaftlichen Diskurs von der Antike bis heute. Es ist der Spagat von dem „Ich weiß, dass ich nichts weiß“, bis hin zur Chuzpe, dass „ich alles weiß“. Es sind die Kantischen Fragen: „Was kann ich wissen?“ – „Was soll ich tun?“ – „Was darf ich hoffen?“, die im alltäglichen, individuellen und gesellschaftlichen Leben chargieren von Gewissheiten und Wahrheiten, bis hin zu kritischen, skeptischen, instinktiven und nonfaktischen Einstellungen. Ihr Plädoyer: „Wenn wir handeln oder etwas wissen wollen, kommen wir unvermeidlich dazu, dass wir entscheiden müssen, dass wir etwas glauben“.
Die Bonner Politikwissenschaftlerin Grit Straßenberger fragt: „Wie viel (Un-)Sicherheit verträgt die Demokratie?“. Mit ihren konflikttheoretischen Überlegungen zur Stabilität demokratischer Ordnungen taucht sie ein in die konkreten wie kontroversen Auseinandersetzungen, wie „Demokratie als politisch umkämpfter Begriff“ wahrgenommen, verstanden und verteidigt werden kann. Es ist die Spannweite von Freiheit und Sicherheit, die eine demokratische Konfliktordnung als „republikanisches Modell“ einer liberalen, freiheitlichen Demokratie notwendig macht.
Der Historiker Volker Reinhardt vergleicht mit seinem Text „Verlust aller Sicherheiten“ die Auswirkungen der Pest 1348 mit der Corona 2022. In der Menschheitsgeschichte hat es immer Pandemie- und Epidemie-Erfahrungen gegeben. Welche Imponderabilien bestimmen dabei Gewissheiten und Unterschiede? Er differenziert „Parallelen und Ähnlichkeiten im Umgang mit den Seuchen, die es erlauben…, , plausible Vorhersagen für die Zeit nach 2022 zu treffen“. Es sind vor allem die öffentlichen Reaktionen und Schuldzuweisungen, die „die ohnehin schon ausgeprägte Neigung zu Ressentiments und Denunziationen intensiv befördern“.
Markus Zimmermann, Ethiker und Religionswissenschaftler, stellt mit seinem Beitrag „Zum Umgang mit Unsicherheit und Ungewissheit“ theologisch-ethische Überlegungen an. Er nimmt den Hölderin-Vers – „Wo aber Kontrolle ist, wächst das Risiko auch“ – und plädiert dafür, in den Auseinandersetzungen beim Umgang mit Unsicherheiten und Ungewissheiten religiöses Denken und Handeln einzubeziehen. In der christlichen Lehre sind es Erlösungsversprechen, Menschenwürde und Nächstenliebe, die eine humane Existenz ermöglichen.
Der Soziologe Jost Halfmann (+2022) setzt sich mit „Risiko“ als „Ungewissheitsbearbeitung“ auseinander. Er entwirft eine „Theorie des Risikos“, indem er zwischen Risiko und Gefahr unterscheidet. Am Fallbeispiel „Risiko und Gefahr der Sars-Covid2-Pandemiebekämpfung“ verdeutlicht er die Unterschiede zwischen Entscheidenden und Betroffenen, den erwartbaren und unerwarteten Ereignissen, und den Folgen, die Konflikt- und Risikogesellschaften aushalten müssen.
Die Philosophin Rafaela Hillerbrand, die am Karlsruher Institut für Technologie(abschätzung) lehrt, fragt mit dem Beitrag „Riskantes Nichtwissen“, wie man mit unsicherem Wissen umgehen soll. Es sind Prognosen und Vorhersagen, die im Spiegel von Faktenwissen und Fake News aufscheinen. Sie arbeitet an Risikobeispielen heraus, wie der Mensch zu einer „Ethik des Nichtwissens“ finden kann (vgl. auch: Joachim Radkau, Geschichte der Zukunft. Prognosen, Visionen, Irrungen in Deutschland von 1945 bis heute, 2017, www.socialnet.de/rezensionen/22444.php).
Die Berner Sozialwissenschaftlerin Sabin Bieri plädiert mit dem Beitrag „Die Risiken des Risikomanagements“ dafür, in den Zeiten von Unsicherheit, Verunsicherung, Ungewissheit und Ignoranz, Nachhaltigkeitsaspekte und Paradigmenwechsel zu entwickeln: Aus Ungewissheiten „neue Fragestellungen entwickeln und ( ) Lösungshorizonte …“ erproben.
Die Zürcher Medienwissenschaftlerin Barbara Getto beschließt mit dem Beitrag „Bildung in Zeiten von Unsicherheit“ den Sammelband. Sie fragt: „Wie können wir den digitalen Wandel in der Hochschulbildung gestalten?“. Diese spezifische wie allgemeingültige, auf alle Lebens- und Schaffensbereiche menschlichen Denkens und Handelns übertragbare Herausforderung bedarf des ganzheitlichen Bewusstseins.
Diskussion
In der St. Gallener Ringvorlesung wurde aufgefordert, trotz (oder gerade wegen) Unsicherheiten und Risiken) aktiv und agonal zu denken und zu handeln. Dabei kann es nicht um dominantes „Alles oder Nichts“ gehen, sondern um die Fähigkeit, selbst zu denken (und nicht <nur> andere für sich denken zu lassen), um die Kompetenz, Kompromisse zu schließen, und darum, Empathie zu entwickeln (vgl. dazu auch: Corinna Michaela Flick, Wie viel Freiheit müssen wir aufgeben, um frei zu sein? 2022, www.socialnet.de/rezensionen/29300.php)-
Fazit
Unsicherheiten und Ungewissheiten prägen menschliches Leben. Die Zustände freilich sollten nicht als schicksalhafte Katastrophen verstanden werden, sondern als das, was bereits der Königsberger Philosoph Immanuel Kant als Conditio Humana empfohlen hat: „Sapere aude – Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
Mailformular
Es gibt 1702 Rezensionen von Jos Schnurer.