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Andrea Kretschmann: Simulative Souveränität

Rezensiert von Arnold Schmieder, 27.07.2023

Cover Andrea Kretschmann: Simulative Souveränität ISBN 978-3-8353-9155-0

Andrea Kretschmann: Simulative Souveränität. Eine Soziologie politischer Ordnungsbildung. Konstanz University Press (Göttungen) 2023. 383 Seiten. ISBN 978-3-8353-9155-0. D: 38,00 EUR, A: 39,10 EUR.

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Thema

Ihre zentrale These stellt die Autorin im Vorwort gleich im ersten Satz vor: „Souveränität ist simulativ geworden.“ Sie weist nach, „dass die polizeilichen Simulationen Staatlichkeit in ihrem Wirkungsbereich selbst verändern, hin zu einer simulativen Souveränität.“ Das wird beeindruckend gestützt durch ihre ethnographisch angelegten Forschungen von vier Polizeien, und zwar in England, Irland, Frankreich und Deutschland, hier im Näheren in der Bereitschaftspolizei Niedersachsens. Aus mehreren Blickwinkeln und theoretisch interdisziplinär anleihend werden vor allem polizeiliche Trainingslager, in der Hauptsache Pseudo-Städte, mitsamt der Trainingsdesigns in den Blick genommen. Es geht um „je spezifische polizeiliche Reaktionen“, was die Frage aufwirft, „welche politische Ordnungsbildung dies hervorbringt.“ Die Studie stellt unter Beweis, dass von einer „spezifisch spätmodernen, intensivierten Problematik der Ordnungsbildung“ auszugehen ist – „ereignisbasiert entlang von Möglichkeiten“ (S. 7). Nicht mehr prominent sind es Statistiken, die staatliche Herstellung von Ordnung, auch vorausschauende, anleiten. Zumal im simulierten Wechselspiel von Protestierenden (die auch von Polizist:innen ‚gespielt‘ werden) und Polizei „entstehen durchaus reale, präformative Effekte auf die politische Gestaltung bzw. Rekonfiguration des Sozialen.“ Daran schließt Andrea Kretschmann ihre These an, dass die so hergestellte „simulative Souveränität (…) die Möglichkeitsbedingungen des Politischen (verringert), da die Simulationen en gros gegenwärtige kriminalpolitische Tendenzen stützen, politische Ausdrücke abseits parlamentarischer Verfahrensregeln als Sicherheitsproblem zu betrachten.“ Aber es gebe auch Hinweise, „dass diese Entwicklung mit der im öffentlichen Diskurs vieldiskutierten Ungleichbehandlung der politischen Spektren durch die Polizei in einem Verhältnis steht“ (S. 8). Soweit konturiert die Autorin gleich im Vorwort ihren Forschungsgegenstand, stellt gerafft Ergebnisse vor, die in ihrem Werk detailliert ausbuchstabiert werden.

Die Autorin wägt am Schluss ihrer Studie die Auswirkungen simulativer Souveränität kritisch soziologisch ab, wobei es um „Deutungen“ seitens der Polizei geht, in denen „Unsicherheitsgewissheit“ ein Hintergrundrauschen ist: „Polizeien schaffen“, so ihre These, „indem sie ihren Fokus auf ein Denken in derartigen Kontingenzen legen, auf diese Weise Welten, in denen der Protest stets der Bürgerkrieg ist, die Demonstrierenden stets das Andere der Ordnung sind.“ Und weiter: „Die Realität des simulierten Protests überrollt und absorbiert so die Realität der Proteste tendenziell“ (S. 346). Allerdings könnte sich „eine nicht ausgebildete Polizei vielleicht noch als das viel größere Problem“ darstellen, „weshalb von einer grundsätzlichen Ablehnung simulativer Trainings abgesehen werden sollte.“ Abgestellt werden sollte darauf, wobei die Autorin (wie wiederholt am Schluss nochmals) auf die Polizei Niedersachsens trotz aller Problematik auf deren Ausgestaltung der Trainings verweist, Simulationen so zu gestalten, dass sie durch das trainierte Agieren „zu einer Gesellschaft beizutragen vermögen, die politische Teilhabe und Demokratisierung begünstigt, anstatt sie zu vereinheitlichen und abzuwehren.“ (S. 348 f.) Wohl darum seien, so ein Verantwortlicher der Zentralen Polizeidirektion Niedersachsens, „die Einheiten der niedersächsischen Bereitschaftspolizei intern als Friedenshundertschaften ‚verschrien‘“ (S. 55). Das kann darin seinen Grund haben, so der Befund der Autorin, dass ein Großteil der Simulationen dieser Polizei „eher am Durchschnittlichen als am worst case und damit gerade nicht an außerordentlich hohen Eskalationsniveaus orientiert ist“ (S. 254).

Andrea Kretschmann kreist „Bestandteile der Simulationsassemblage“ ein, rekurriert auf soziologische Grundbegriffe – „namentlich Raum, Text, Praxis“ (S. 37) und bezieht theoretische Erklärungsansätze ein, die sie in kritischer Aufnahme für ihre Argumentationen fruchtbar macht.

Fotos polizeilicher Ausrüstung und der Polizist:innen in Übungs-Aktionen sowie der für Ausbildungszwecke angelegten Häuserzeilen und Blocks, meist von der Autorin selbst aufgenommen, verschaffen den Leser:innen optisch nachvollziehbare Eindrücke. Es sind Dokumente fern tendenziöser Stimmungsmache.

Die Autorin

Dr. Andrea Kretschmann ist Professorin für Kultursoziologie an der Leuphana Universität Lüneburg und assoziierte Forscherin am Centre Marc Bloch in Berlin. Die vorliegende Arbeit wurde 2020 als Habilitationsschrift an der Ludwig-Maximilians-Universität München eigereicht und das Verfahren im Januar 2021 abgeschlossen. Die Autorin veröffentlichte bislang zahlreiche Beiträge, u.a. kriminologische.

Inhalt

Nebst Vorwort, dem Literaturverzeichnis, zwei Anhängen zu Transkriptionsregeln und einem Abkürzungsverzeichnis ist das Buch in acht Kapitel mit jeweils mehreren Unterkapiteln gegliedert.

Es beginnt mit Protest, Staatsgewalt und politischer Ordnung, wobei Andrea Kretschmann gleich eingangs ihre zentrale These vorstellt: „Simulative Souveränität“ bezeichne „eine Form von Staatlichkeit, die das Verständnis ihres Aufgabenbereichs und ihrer Gegenstände sowie die sich daraus ableitenden Handlungsweisen zu einem wesentlichen Teil auf kulturelle Praktiken in Form von Simulationen stattlicher Problembearbeitung stützt“, was „gegenwärtige kriminalpolitische Tendenzen“ ebenfalls stütze, „politische Ausdrücke abseits parlamentarischer Verfahrenswege vermehrt als Sicherheitsproblem zu betrachten“ (S. 15). Insofern erschwere simulative Souveränität der Tendenz nach das „Erscheinen von Prostest“ (S. 33), worin sich laut einem von Bröckling et al. bezogenen Zitat allgemein zeige, dass die „Sorge um die Ordnung (…) einen Furor (entfacht), um ihr Anderes zum Verschwinden zu bringen“ (S. 36).

Ethnografie polizeilicher Simulationen lautet der Titel des zweiten Kapitels, in dem das Forschungsfeld beschrieben wird, gleichfalls der methodische Zugang und dessen Umsetzung in den Forschungsprozess. Auch die Auswertung der erhobenen Daten wird dargelegt. Fortbildungen für den Umgang der Polizei mit Protesten in europäischen Schulungszentren kommen zur Sprache. Allgemein wie auch für die Forscherin ist eine Erschwernis, „dass die Polizei als soziologisches Forschungsfeld eine hochgradig geschlossene Sphäre ist“ (S. 44): „Forschung in der Polizei ist riskante Forschung, denn eher, als dass ein Zugang gewährt wird, ist davon auszugehen, dass dieser scheitert“ (S. 67 f.). Auch die Autorin machte die Erfahrung, dass ihre Anwesenheit „immer wieder Spekulationen darüber“ anregte, „ob man mir tatsächlich vertrauen könne“ (S. 76).

Die konstruierten Räume, in der Regel städtische, für die polizeilichen Trainings, werden im dritten Kapitel Räume der Gefahr analysiert, und zwar nach u.a. der Fragestellung: „Was machen die Polizeien mit diesen Räumen bloß? Und was machen die Räume mit den Polizeien?“ (S. 86). Im Sinne des Theaters sind es Schauplätze, die auch zeigen, welche Nutzungsbedürfnisse für Simulation zum Ausdruck kommen, wie in für gefährlich gehaltenen Räumen regulierend resp. dirigierend eigegriffen werden kann. Dabei wird in „räumlicher Hinsicht (…) nicht nur auf konkrete Bevölkerungen, sondern teils auch auf ganz bestimmte Protestgruppen und damit -räume abgestellt“, was sich auf „antizipierte Protestpraktiken dieser Milieus“ bezieht (S. 125 ff.). Wenn der öffentliche Raum – wie zurzeit – als potenziell unsicher eingeschätzt wird, folgt daraus eine „risikobasierte Form der Vorsorge“, was „eine simulativ gewordene Souveränität durch möglichst authentische Inszenierungen“ plausibilisiert, „womit die Herstellung staatlichen Handlungswissens ästhetisch-sensuell und damit expressiv angelegt wird“ (S. 133).

Narrationen des Katastrophalen ist das vierte Kapitel betitelt, in dem die Autorin den Fokus auf die von ihr untersuchten Polizeien und die von ihnen angefertigten Skripte legt, also der Koordination des perspektivierten simulativen Geschehens. Indem sie diese Narrationen mit den Strukturmerkmalen entsprechender Simulationen in Zusammenhang bringt, zeigt sie, dass ein „Erzählstrang“ bedient wird, der von „bürgerkriegsähnlichen Ausschreitungen“ affiziert ist, „so dass sich in ihrem Aufgabenbereich die realen Katastrophen in der Tendenz vervielfachen und intensivieren“ (S. 39). Es handelt sich um „polizeiliche Wirklichkeitskonstruktionen“ (S. 139), die gleichwohl als Folie dienen, „potenzielle Lagen kognitiv wie sinnlich durchzuspielen“ (S. 146). Auffällig ist, dass in diesbezüglichen Skripten „ausschließlich Proteste aus polizeilich radikal und antagonistisch (…) eingestuften, und hierin nahezu ausschließlich aus polizeilich linken Spektren dargestellt werden“, auch weil „Ungehorsam gegenüber polizeilichen Anweisungen“, so die Einschätzung eines höherrangigen niedersächsischen Polizeibeamten, „im linken Spektrum stärker ausgeprägt sei als etwa im rechten.“ Somit würde „linksradikaler bzw. linker antagonistischer Protest für die Simulationen prototypisch“ (S. 158 ff.). Die Autorin kann dokumentieren, dass und wie in den polizeilichen Skripten Proteste und gar Aufstände entweder rekonstruiert oder antizipiert werden: „Da sie dabei nicht nur vom Wahrscheinlichen ausgehen, sondern sich an einer Strategie des Möglichen orientieren, nehmen sie Überschreitungen des Horizonts des Realen vor“ (S. 173).

Polizist:innen sind bemüht, Proteste und gar Aufstände darzustellen, was immer auch eine Deutung ist. Dabei geraten die Protestierenden in die imaginierte Rolle eines (zumindest potenziellen) Gegners, geben ein Feindbild ab. Im fünften Kapitel, Theater der (Un-)Ordnung, zeigt Andrea Kretschmann, dass unter dem Blickwinkel, Demonstrationen könnten immer auch in Aufstände umschlagen, „Staaten unter Gesichtspunkten der Herrschaftssicherung für diese mitunter die Einsatzphilosophie eines Verteidigens bzw. ‚Einnehmens der Straße‘ (…) als polizeiliches Mittel der Wahl“ einsetzen (S. 181). Länderspezifische Unterschiede sind festzuhalten: „Auch, wenn die gezielte Tötung von Menschen nicht dem Selbstverständnis der im Schwarzen Block versammelten Spektren entspricht, gehen Polizist:innen in Frankreich und England dennoch davon aus, dass diese ein solches Anliegen verfolgen“ (S. 192, Anm. 14). Vorher jedoch wird schon in simulativer Souveränität ein Bild konturiert, man habe es „weniger mit Bürger:innen in Ausübung ihrer Freiheitsrechte zu tun (…), als mit unpolitisch und delinquent agierenden Gegner:innen oder Feind:innen“ (S. 181). Simulative Praktiken pointieren insofern illegitime Protestpraktiken als Gegenstand ihrer zu bewältigenden Aufgabe. Protestierende gelten dann schnell als Menschen, „die gegenüber einer gesellschaftlichen Mitte als das Andere erscheinen und als gegnerisch oder feindlich betrachtet werden“ (S. 233).

Im sechsten Kapitel, Spiele und Einsätze, geht es wesentlich um diejenigen, denen die Polizeibeamt:innen bei ihren Einsätzen gegenüberstehen, bzw. darum, wie sie für den Zweck der Simulation sozial konstruiert werden, was, wie auch der einschlägigen Literatur zu entnehmen, zeigt, „dass die Polizei neben polizeilich-institutionellen und organisationalen Faktoren ihre Handlungsgründe auch über die Konstruktion ihrer Gegenstände ausbildet“ (S. 239). Polizeibeamt:innen haben verinnerlicht, dass sie sich Gefahren stellen müssen, was „innerpolizeilich mit positiver Bedeutung aufgeladen“ ist. Auch wohl darum sind Affekte während der Simulationen „durchaus intendiert, sofern alle Situationen, die im realen Einsatz eine Rolle spielen könnten, nach Möglichkeit vorab durchlebt werden sollen“ – und die auch gezielt evoziert werden mit dem Ziel, sie „zu unterdrücken“, d.h. „die Affekte weitestmöglich zu reflektieren, um sie kontrollieren zu können“ (S. 258 ff.). Allerdings gilt dabei „in Hinblick auf Normen der Verhältnismäßig- und der Rechtmäßigkeit ein gelockertes Prinzip.“ (S. 264) Zwar ist die Polizei angesichts des zunehmenden Bewusstseins von „Demonstrierenden und Aufständischen, Rechte zu haben“, bemüht, nicht als „konfliktträchtige Partei zu wirken“ (S. 276), was schon rechtlich geboten ist, nämlich „stets neutral und in legalem Rahmen zu operieren“ (S. 281 f.), doch das wird durch polizeiliche Simulationen insoweit konterkariert, als es in ihnen zu „Überschreitungen des Realen im Sinne von Grenzverschiebungen kommen kann. Denn es besteht in ihnen ein anderes Wirklichkeitsbewusstsein und eine andere Erwartungshaltung gegenüber den im Realen bestehenden (rechtlichen) Vorgaben“ (S. 270). Aus dem Selbstbild von Polizeien emergiere eine „simulativer Souveränität, deren Haltung gegenüber Protest in der Tendenz von einem repressiven, konfrontativen, rigiden und formellen policing geprägt ist“ (S. 40), was auch dadurch begünstigt wird, dass in den Simulationen „Rechtsregeln als relativ“ dargestellt werden und „ein unverhältnismäßiges oder unrechtmäßiges polizeiliches Handeln leichter ‚durchgehen‘“ kann. Als Aufgabenbereich tritt zentral in den Vordergrund eine „Unterminierung zumeist linker Protest- bzw. marginalisierter Bevölkerungsgruppen“ (S. 292 f.).

Öffentliche Sicherheit und Ordnung haben Vorrang vor Ermöglichung der Wahrnehmung von öffentlicher Meinungsäußerung und Versammlungsfreiheit. Wie und wodurch eine solche Orientierung verfestigt wird, dem widmen sich die beiden folgenden Kapitel, wobei die Autorin im Kapitel sieben, Soziale Grammatik der Simulation, besonders auf den simulativen Zugriff auf staatliche Belange von Ordnung und Regulierung abhebt, in dem, so die These, „Wirklichkeit nach ganz bestimmten Mustern“ hergestellt wird (S. 297), was sich von herkömmlicher Wissensproduktion, vor allem mittels Statistik, unterscheide. Ein Geschehen soll möglichst ‚originalgetreu‘ inszeniert werden, eine „Orientierung am sinnlichen Durchleben“, womit „simulative Souveränität (…) mithin auch eine sinnliche Souveränität“ ist. (S. 298) Sensualität ist also wesentlicher Bestandteil innerhalb der Trainings, was über gezielte Theatralik und spielerische Elemente implementiert wird. Noch einmal wird hervorgehoben, dass eine zugrundeliegende Sorge um das Wohlergehen des Individuums dem „Primat der Herstellung von innerer Sicherheit“ (S. 303) weicht und dabei liegt der Fokus auf Risiken, „die sich zwar noch nicht ausgeprägt haben, mit deren Eintreten aber gerechnet werden muss“ (S. 301), was ein „Wuchern von Gefahrenwahrnehmungen“ reizt und ein „neues Unsicherheitsempfinden“ etabliert (S. 303), wobei es schlussendlich so scheint, als beträte ein „maximal rechtsbrüchiges ‚Gegenüber‘ die Bühne“ (S. 325). Mit Blick auf Bedrohlichkeiten wird so von einem „grundsätzlich unbegrenzten Möglichkeitsfeld“ ausgegangen (S. 309), und zwar auch da, wo gegenwärtige Lagen als gleichsam ungefährlich bis harmlos erscheinen. Insofern trägt Sensualität dazu bei, „Nachahmung zur Neubeschreibung des Realen“ werden zu lassen (S. 326), so in Anlehnung an Baudrillard.

Andere Betrachtungen und Einschätzungen werden als auch Vorstellbares abgeschattet bis verdrängt. Die im folgenden Kapitel formulierte These der Autorin, dass die „Trainings den Sicherheitsgedanken im policing von Protest in den Vordergrund rücken lassen“ (S. 334), wird in der Gesamtschau ihrer Forschungsergebnisse eindrucksvoll bestätigt. Damit wird eine staatliche Souveränität konstituiert, was Andrea Kretschmann im achten Kapitel, Zu einer Theorie der simulativen Souveränität, ausführlich darlegt und analysiert. Sie zeigt, was daraus folgt, wenn – wie durch ihre Forschung belegt – im Denken der Polizei (genährt durch die spezifischen Inszenierungen der Trainings) „Protest stets der Bürgerkrieg ist, die Demonstrierenden stets das Andere der Ordnung sind.“ Damit wird in simulativer Souveränität der status quo erhalten oder gar optimiert; ein Beitrag, „wenn mittels der Simulationen auch auf gänzlich zeitgemäße und innovative Weise (…), Gesellschaft kulturell entlang eines politisch konservativen Programms zu gestalten“ (S. 346 f.). Schon länger setzt sich bei allen Polizeien Europas die Vorstellung durch, „mit der Imagination von Zukünften“ lasse sich „Unheil abwenden oder zumindest reduzieren“, wobei generell das „Auftreten simulativer Formen (…) aus marxistisch-kulturtheoretischer Perspektive immer wieder als kulturelle Ausprägung einer Transformation der sozioökonomischen Struktur des Kapitalismus thematisiert“ worden sei. Die Autorin geht in Bezug auf „kulturelle Formen“ davon aus, „dass diese für die Individuen in weniger hohem Maße noch länger orientierungsleitende, historisch und sozial verortbare Fundamente bereitstellen, von denen ausgehend gesellschaftliche Widersprüche erkennbar werden könnten“ (S. 336 f.). Gleichwohl sind – was soziologische Theorien einkreisen – politisch gesellschaftliche Dynamiken zu konstatieren, auf die simulative Praktiken der Polizeien antworten. Dass dabei zur „Leitfrage“ von Souveränität wird, „‚Was wäre, wenn…‘“ (S. 346), ist auf diesem Hintergrund nur plausibel – und scheint auf dem Weg in eine ungute Richtung. Demgegenüber optiert Andrea Kretschmann für eine Umorientierung weg von worst case-nahen Szenarien und hin zu anderer Ausgestaltung von Simulationen, die daran orientiert sind, „politische Teilhabe und Demokratisierung“ zu „begünstigen, anstatt sie zu versicherheitlichen und abzuwehren“ (S. 349).

Diskussion

Die Ethnografie, wie sie die Autorin vorlegt, ist ein Lehrstück für alle Soziolog:innen, besonders Studierende, eine Inspirationsquelle für den Blick auf Gesellschaft. Dass sie ihr Buch mit eindrücklichen Fotos versehen hat, ist Moment der Ethnografie, denkt man daran, dass es eine eigene Sparte ‚ethnographische Fotografie‘ gibt, erinnert man sich an den Bericht „Traurige Tropen“ von Claude Lévi-Strauss, der mit vielen Fotos illustriert ist. Dass die Autorin meist zu Beginn ihrer Kapitel ihre persönlichen Eindrücke von Situationen, die für sie neu sind, und räumlichen Arrangements wiedergibt, ist ebenfalls Teil dieser Methode, der zudem die Leser:innen gespannt auf Darstellung und Analyse der jeweiligen Aspekte im Gesamt des Forschungsfeldes macht.

Beeindruckend ist auch, dass und wie die Autorin nicht nur, aber hauptsächlich neuere gesellschaftskritische Theorieansätze der allgemeinen Soziologie aufnimmt, sie zum einen kritisch abwägt und zum anderen für ihre Argumentationen fruchtbar macht, wie sie ebenso reflektiert eine Vielzahl speziellere Studien und deren Ergebnisse einarbeitet und diskutiert. Wenn Leser:innen, die mit der Soziologie vertrauter sind, an der ein oder anderen Stelle assoziativ marginalisieren und zurückdenken, u.a. an Forschungsergebnissen der älteren amerikanischen Gruppenforschung, insbesondere vielleicht an das sogenannte Thomas-Theorem, dann an die self-fulfilling prophecy von Merton, ebenfalls eventuell an das Buch „Die Gesellschaftliche Konstruktion von Wirklichkeit“ von Berger/​Luckmann, was alles seine (Diskussions-)Zeit hatte, zeigt das einmal mehr, wie theoretisch anregend und vor allem theoretisch weiterführend ihr Buch ist.

„Demokratien setzen, um sich selbst gegen Bedrohungen zu schützen, ihre eigenen demokratischen Mechanismen mitunter temporär außer Kraft.“ (S. 30) Agambens „Ausnahmezustand“ als darin ein tiefer gehängtes Damoklesschwert zu visionieren, wäre überzogen. Jedoch die schnellere Taktung des Temporären scheint ein fatales Zeichen an der Wand. Ein geschärfter Blick auf polizeiliche Trainings mit Auswirkung auf die Mentalität offensichtlich vieler Polizeibeamt:innen ist bei den allermeisten Bürger:innen nicht zu unterstellen, wohl aber geht an ihnen nicht vorbei, dass ‚Polizeigewalt‘ zunimmt. Es hat sich insbesondere unter eher jüngeren Protestierenden herumgesprochen, dass öfter Polizeibeamt:innen zu Gewalt provozieren, als die auch eine impulsive Abwehr gedeutet werden kann, worauf dann mit eben staatlicher Gewalt reagiert wird. Sollte seitens des Gegenüber Anzeige gegen den Beamten oder die Beamtin erstattet werden, wenn dies überhaupt geschieht, wird schnell der Joker einer Gegenanzeige gezogen, nämlich Paragraph 113 Strafgesetzbuch, d.h. Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, bewehrt mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder Geldstrafe. Dass passiver Widerstand kriminalisiert wird, wie im Augenblick aktuell, könnte sogar eine Radikalisierung der Protestierenden zur Folge haben. Ein Zeichen der Zeit öffentlicher Wahrnehmung von Polizeigewalt ist es, dass die Defund-Bewegung in den USA dafür eintritt, mehr in soziale Gerechtigkeit zu investieren statt immer mehr in polizeiliche Ressourcen. Hintergrund ist, dass sich nach dem Tod von George Floyd immer mehr Menschen überlegen, ihre Sicherheit in eigene Hände zu nehmen, und zwar gemeinschaftlich. Der Soziologe Sebastian Roché hält die französische Polizei für die inzwischen „tödlichste in Europa“. Seit durch den Sozialdemokraten François Hollande 2017 die Regeln für den Einsatz von Schusswaffen gelockert wurden und Emmanuel Macron 2020 und 2022 ‚Sicherheitsgesetze‘ auf den Weg brachte, durch welche die Befugnisse der Polizei deutlich erweitert wurden, ist laut Presseberichten die Anzahl der durch Polizisten Getöteten um das Fünffache gestiegen. Jüngst wurde ein 17-jähriger junger Mann, Nahel Merzouk, aus den Banlieues erschossen. Er soll versucht haben, einen Polizisten mit dem Auto zu überfahren, was nicht stimmen kann. Gewalttätige, bürgerkriegsähnliche Proteste flammten auf. Ein Novum: Menschen aus der sogenannten Mitte der Gesellschaft solidarisierten sich mit den Randalierern aus den Banlieues.

Es scheint sich auch hierzulande bis zur Unkenntlichkeit zu verflüchtigen, das schon längst angestaubte Bild vom vormaligen Polizeibeamten als „Freund und Helfer“. Woran das liegt (und einen Schlagschatten auf alle Polizeibeamt:innen wirft), ist über die Lektüre von „Simulative Souveränität“ zu entschlüsseln. Mit dem die Sache treffenden Untertitel des Buches, „Eine Soziologie politischer Ordnungsbildung“, werden implizit weitere Fragen eröffnet, nämlich ob nicht anwachsender Autoritarismus im Rahmen politischer Ordnungsbildung, was über Analysen dingfest zu machen ist, und sich verbreitende rechte Orientierungen nicht einen guten Nährboden dafür abgeben, dass es bei simulativer Souveränität, bei Formen und Inhalten polizeilicher Trainings so bleibt, wie es ist. An diesem Punkt werden politisch-emanzipatorische Diskussionen ansetzen, die auf Demokratie setzen.

Fazit

Andrea Kretschmann selbst möchte ihr Buch Kultursoziolog:innen, Kulturwissenschaftler:innen und kriminologisch Interessierten wie auch der Polizei empfehlen. Auch Vertreter:innen der „soziale(n) Bewegungsforschung“ werden einbezogen. Dem kann man nur zustimmen. Außer Frage steht, dass diese Studie an die politische Soziologie zu adressieren ist. In der Tat richtet sich das Buch an ein „heterogenes Publikum“ und insbesondere an eine „kritische Öffentlichkeit“ (S. 8), was hier mit Nachdruck unterstrichen werden soll.

Rezension von
Arnold Schmieder
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Zitiervorschlag
Arnold Schmieder. Rezension vom 27.07.2023 zu: Andrea Kretschmann: Simulative Souveränität. Eine Soziologie politischer Ordnungsbildung. Konstanz University Press (Göttungen) 2023. ISBN 978-3-8353-9155-0. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30617.php, Datum des Zugriffs 13.01.2025.


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