Gilles Michaux, Martine Hoffmann: Kein Stress mit der Entspannung
Rezensiert von Dr. phil. Bärbel Schümann, 14.10.2024

Gilles Michaux, Martine Hoffmann: Kein Stress mit der Entspannung. Praxisbezogene Vermittlung psychologischer Erholungstechniken.
Psychiatrie Verlag GmbH
(Köln) 2023.
176 Seiten.
ISBN 978-3-96605-097-5.
D: 35,00 EUR,
A: 36,00 EUR.
Reihe: Fachwissen. .
Thema
Zielsetzung des Buches ist die sach- und fachverständliche Vermittlung von praxisnahen Entspannungsverfahren, das sich gleichermaßen an Behandelnde, Durchführende von Entspannungskursen (pflegerisch/-pädagogische Fachpersonen) sowie an Personen richtet, die Entspannungsübungen trainieren möchten. Gleichwohl das Buch den Anspruch eines Fachbuches hat und wissenschaftlichen Kriterien entspricht, sind die lebensweltlichen Beispiele und umgangssprachlichen Beschreibungen zur Erklärung für nicht-medizinisches Personal sehr hilfreich. Hervorzuheben ist, dass sowohl Nutzen als auch die Kontraindikationen der Entspannungstechniken anhand empirischer Studien mit aktuellen Literaturquellen vorgestellt werden. Die Entspannungstechniken reichen von Progressiver Relaxation nach Jacobson (PR) und Autogenem Training nach Schultz (AT) über Methoden der Hypnose sowie Biofeedback- und Neurofeedback, bis hin zu digitalen Möglichkeiten mittels Apps, Videospielen und Virtual Reality.
Autoren
Die promovierte Naturwissenschaftlerin und diplomierte Psychotherapeutin Hoffmann leitet die Abteilung für angewandte Forschung des GERO-Kompetenzzentrums in Luxemburg. Das Zentrum wurde vor über 30 Jahren auf Initiative des Luxemburger Familienministeriums gegründet und arbeitet bis heute eng mit dem Ministerium zusammen. Das Kompetenzzentrum koordiniert landesweit Impulse hinsichtlich einer positiven Lebensgestaltung im Alter. Als System- und Hypnotherapeutin forscht Martine Hoffmann im Präventions- und Interventionsbereich zur Emotionsregelung und Stressbewältigung.
Der ebenfalls promovierte Naturwissenschaftler und diplomierte Psychotherapeut Gilles Michaux arbeitet im gesundheitspsychologischen Dienst des Kompetenzzentrums für Präventivmedizin. Als klinischer Hypnotherapeut und Biofeedback-Supervisor leitet er Kurse für Entspannungsverfahren (PR u. AT) und lehrt Entspannungsmethoden sowie klinische Psychophysiologie an der Universität Luxemburg.
Entstehungshintergrund
In den letzten Jahren wurde eine Vielzahl systematischer Entspannungsmethoden entwickelt, und das Angebot an Entspannungskursen ist nach Inkrafttreten des Präventionsgesetzes (PrävG 2015) noch einmal deutlich gestiegen. Um die Methoden effektiv und adäquat nutzen zu können, ist die korrekte Vermittlung der Technik von großer Bedeutung. Denn beim Einsatz von Entspannungstechniken kann es zu Lernschwierigkeiten, Vermittlungsfehlern und unerwünschten Nebenwirkungen, wie entspannungsinduzierte Angst, kommen. Anliegen der Autoren ist, aktuelle Methoden vorzustellen sowie die Indikation und Kontraindikation der jeweiligen Verfahren aufzuzeigen.
Aufbau und Inhalt
Auf den rund 170 Seiten werden nach einer Einleitung die Ursprünge von Entspannungs-verfahren unter Berücksichtigung der griechischen Mythologie beleuchtet. Nach dem Umgang mit unerwünschten Nebenwirkungen, wie entspannungsinduzierter Angst und anderen Paradoxien, schließen sich psychophysiologische Erläuterungen an. Der nächste Abschnitt widmet sich der Resilienzentwicklung aus theoretischer Sicht und der Definition verschiedener Stressformen. Die folgenden Passagen fokussieren nacheinander die unterschiedlichen Bereiche möglicher Entspannungsverfahren und der letzte Teil schließt mit einer Traumreise. Die abschließenden fünfzehn Seiten beinhalten Empfehlungen zu Fachportalen und Literaturhinweisen.
Inhalt
Wie genannt, ist das Anliegen der Autoren, die Beschreibung aktueller Verfahren und Aspekte der korrekten Anwendung verschiedener Entspannungsmethoden, um damit das Auftreten von Nebenwirkungen zu vermeiden. Dementsprechend liegt bei der theoretischen Einführung in die Stressphysiologie und der Entstehung von stressbedingten Erkrankungen, die Betonung auf dem „[…] Zusammenwirken von körperlicher, sprich genetischer und physiologischer, sowie psychischer, lebensgeschichtlicher Disposition und Umwelteinflüssen“ (vgl. Seite 12).
Daher sollen die Vorschläge als:
- Anregung gelten,
- keineswegs in dogmatischer Weise umgesetzt werden,
- stattdessen stringent auf Praxistauglichkeit und Passung hinterfragt werden,
- abzuwägen, welche Stressphase vorliegt sowie,
- abzuklären ist, ob es sich um Vorbeugung, Behandlung, Rehabilitation oder Rückfall-vermeidung handelt.
Die Autoren benennen stringent Studien, die die Wirksamkeit von Entspannungsmethoden belegen. Da es neben der Wirkung auch zu Nebenwirkungen kommen kann, beschäftigt sich der Abschnitt „Keine Panik! Zum Umgang mit entspannungsinduzierter Angst und anderen Paradoxien“, mit den psychophysiologischen Grundlagen von Entspannungseffekten.
Nachfolgende Auflistung zeigt, dass jede Entspannungsmethode neben der Beschreibung und Übungsanleitung, mit Nutzen und etwaigen Gegenanzeigen vorgestellt wird.
Progressive Relaxation (PR) (vgl. Seite 35–46)
- Nutzen (PR): Der Fokus liegt auf dem über den Muskelsinn erfühltes Entspannungsempfinden und kann bei Muskelverspannungen ohne Schmerzen angewendet werden.
- Gegenanzeige: Bestehende Muskelschmerzen werden durch PR zusätzlich verstärkt.
- Anwender*in/Behandler*in: Therapeut*in/Übungsleiter*in von Entspannungskursen (Präventionsgesetz).
Autogenes Training (AT) (vgl. Seite 50–60)
- Nutzen (AT): Beruhigung der Gedanken mit Bezug der bewussten Wahrnehmung der Organe (z.B.: Das Herz schlägt ruhig, kräftig und regelmäßig).
- Gegenanzeige: Akute und/oder sich anbahnende Migräneattacke; Personen mit depressiven Störungen und Personen, die sich in akuten Belastungssituationen und/oder in Trauerphasen befinden, sollten auf AT verzichten.
- Anwender*in/Behandler*in: Therapeut*in/Übungsleiter*in von Entspannungskursen (Präventionsgesetz).
Atementspannung (vgl. Seite 62–67)
- Nutzen: Entspannte Atmung fördert Entspannung und Gelöstheit. Die Atmung öffnet die Tür zur inneren Herzregulation.
- Gegenanzeige: Bei Atemwegserkrankungen kann es zur Verengung der Bronchien und Atemnot kommen.
- Anwender*in/Behandler*in: Therapeut*in.
Meditation (vgl. Seite 70–78)
- Nutzen: Beruhigung des Geistes und des Gedankenflusses, wodurch sich psychische und physische Entspannung einstellt.
- Gegenanzeige: Bestehende Versagensangst kann verstärkt werden. Ebenso kann Meditation eine depressive Verstimmtheit oder Ängste auslösen.
- Anwender*in/Behandler*in: Therapeut*in.
Hypnose (vgl. Seite 89–89)
- Nutzen: Ganzheitliches, ressourcen- und lösungsorientiertes, personenzentriertes Behandlungsverfahren, welches den Zugang zur emotionalen Lösungsfindung erleichtert. Wird im Rahmen von Schmerzbehandlungen eingesetzt.
- Gegenanzeige: Bei akuter Suizidalität; bei beginnenden und akuten Psychosen sowie bei Anzeichen einer psychotischen Dekompensation ist Hypnose kontraindiziert.
- Anwender*in/Behandler*in: Ausgewiesene Psychotherapeut*in oder Mediziner*in mit der Zusatzqualifikation Hypnose.
Biofeedback (vgl. Seite 92–99)
- Nutzen: Fördert den Anstoß von Lernprozessen in Form von Neukonditionierung und gedanklich – verhaltensmäßiger Neuausrichtung. Wird erfolgreich bei chronischen Schmerzen eingesetzt.
- Gegenanzeige: Bei Clusterkopfschmerz sowie bei schweren psychiatrischen Erkrankungen, wie hochgradige Zwangsstörung ist vom Einsatz der Methode abzuraten.
- Anwender*in/Behandler*in: Therapeut*in.
Neurofeedback (vgl. Seite 102–111)
- Nutzen: Eine Variante des Biofeedbacks, die zur Verbesserung der Selbstregulationsfähigkeit des Gehirns eingesetzt wird (kann beispielsweise mittels EEG erfolgen).
- Gegenanzeige: Ist grundsätzlich eine nebenwirkungsarme, nichtinvasive Behandlungsmethode. Allerdings sollte die Methode bei Vorliegen einer akuten psychotischen Störung und Suizidalität nicht angewandt werden.
- Anwender*in/Behandler*in: Therapeut*in.
Digitale Entspannung via Apps, Videospielen, Virtual Reality (vgl. Seite 113–121)
- Nutzen: Webbasierte Interventionen zur mentalen Gesundheit und zu Selbsthilfe-programmen und eine Ergänzung zur medizinisch/​therapeutischen Versorgung zur Reduktion von Stress, Angst- und Depressionsbeschwerden. Die Krankenkassen zahlen neben klassischer Psychotherapie, präventiv/​therapeutische Angebote, wie auch digitale Anwendungen.
- Gegenanzeige: Informationen dazu finden sich im Verzeichnis für digitale Gesundheitsanwendung (DiGA) des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte. Abrufbar, unter: https://diga.bfarm.de/de
- Anwender*in/Behandler*in: Selbsthilfeprogramme mit und ohne professionelle Begleitung.
Entspannungstipps für U18 (vgl. Seite 123–128)
- Nutzen: Fantasiereisen (AT u. PR) können wegen der ausgeprägten kindlichen Fantasie, die Lernmotivation steigern und eignet sich für Kinder und Jugendliche mit ADHS und Hyperaktivitätsstörung. Das „Schildkrötenfantasieverfahren“ zu Beginn des Unterrichts, kann zum Abreagieren motorischer Unruhe sowie zur Beruhigung/​Schutz in Situationen von Krisen- und Notfällen beitragen.
Achtsamkeitsbasierter Ansatz, wie beispielweise die „Superheldentherapie nach Scarlet“ (2021) ist abrufbar unter: http://www.superhero-therapy.com.
- Gegenanzeige: Keine Körperreisen, da bei Kindern das Körperschema noch nicht voll ausgereift ist. Es sollte keine monotone Sprache verwendet werden, wegen einer möglichen Hypnosegefahr.
- Anwender*in/Behandler*in: Therapeut*in/Übungsleiter*in von Entspannungskursen (Präventionsgesetz).
Entspannungstipps für Ü66-jährige Personen (vgl. Seite 129–131)
- Nutzen: AT hat sich bei Arthrosen und PR insbesondere bei chronischen Rückenschmerzen bewährt. Die Methoden verbessern die Konzentration und Merkfähigkeit der Übenden und tragen zur Linderung von verhaltensmäßigen/psychologischen Symptomen bei.
- Gegenanzeige: Keine autodidaktische Vermittlung, da vorab zu prüfen ist, ob beim Tragen von Zahnprothesen Kiefermuskelübungen durchgeführt werden können.
- Anwender*in/Behandler*in: Therapeut*in/Übungsleiter*in von Entspannungskursen (Präventionsgesetz).
Michaux und Hoffmann resümieren, dass Entspannungsverfahren zwar nicht als Allheilmittel gelten, sie jedoch durch ihre gesundheitsfördernde, salutogenetische Wirkung zur Linderung von körperlichen und psychischen Beschwerden beitragen und Verschlimmerungen vorbeugen können.
Diskussion
Die historischen Bezüge und die einzelnen Entstehungsgeschichten der jeweiligen Verfahren sowie deren Entwickler*innen sind sehr unterhaltsam skizziert. Ebenso sind die Erklärungen der Methoden in deren Ursprungsversion höchst interessant.
Inwieweit die unterschiedlichen Weiterentwicklungen der Methoden von Progressiver Relaxation und Autogenem Training von Bedeutung sind, oder vielmehr irritierend für Laien und Durchführende von Entspannungskursen, ist fraglich. Innerhalb des Buches wird deutlich, welche Entspannungsmethode zwingend von Therapeut*innen durchzuführen sind und welche Methode von Entspannungskursleitungen durchgeführt werden kann. Hier wäre eine deutliche Kennzeichnung bzw. Abgrenzung der Behandler*innen/Übungsleiter*innen hilfreich (siehe oben dargestellte Auflistung).
Insgesamt stellen die Autoren mit ihrer Fachexpertise und der wissenschaftlichen Grundlage, sowohl Behandler*innen als auch Übungsleiter*innen wie Trainierenden ein wertvolles Fachbuch zur Verfügung, welches dazu beiträgt, den Nutzen von Entspannungsverfahren effektiv und adäquat auszuschöpfen. Insbesondere die Benennung von Vermittlungsfehlern und Kontraindikationen trägt bei Beachtung zur Vermeidung von Nebenwirkungen bei.
Fazit
Aufgrund der einerseits wissenschaftlichen Aufbereitung und andererseits alltagssprachlichen Erläuterungen eignet sich das Buch hervorragend als Nachschlagewerk für Behandler*innen, Übungsleiter*innen von Entspannungskursen (§ 20 SGB V) und Studierende, die sich im Studienkontext mit Entspannungsverfahren beschäftigen. Ebenso gibt das Buch hilfreiche Tipps zu Fachportalen sowie zur Anwendung/​Materialien für Interventionen zur mentalen Gesundheit und Selbsthilfeprogrammen. Die sehr anschauliche Darstellung des Nutzens und der Gegenanzeigen der jeweiligen Verfahren machen das Buch, insbesondere für Übungsleiterkurse von Entspannungskursen, zu einer unverzichtbaren Lektüre.
Rezension von
Dr. phil. Bärbel Schümann
Diplom Pflegewirtin (FH), Entspannungs- und Suchtpädagogin (gemäß § 20 SGB V), Lehrbeauftragte Hochschule Koblenz.
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