Elke Garbe: Trauma und Lebenswege
Rezensiert von Mag.a Barbara Neudecker, 31.07.2023
Elke Garbe: Trauma und Lebenswege. Über die Wirksamkeit tiefenpsychologisch fundierter Traumatherapie. Klett-Cotta Verlag (Stuttgart) 2023. 224 Seiten. ISBN 978-3-608-98442-2. D: 30,00 EUR, A: 30,90 EUR.
Thema
Das Buch widmet sich der Frage der nachhaltigen Wirksamkeit tiefenpsychologisch fundierter Traumatherapien über die Lebensspanne hinweg, betrachtet aus der Perspektive ehemaliger Patient*innen.
Autorin
Elke Garbe ist psychologische Psychotherapeutin und Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin mit tiefenpsychologischem Hintergrund. Ihr Arbeitsschwerpunkt ist die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen mit Entwicklungstraumata. Bekannt sind ihre Bücher „Das kindliche Entwicklungstrauma verstehen und bewältigen“ (2015) und „Martha. Psychotherapie eines Mädchens nach sexuellem Missbrauch“ (1991).
Entstehungshintergrund
Am Ende ihrer psychotherapeutischen und sozialpädagogischen Berufstätigkeit stellte sich die Autorin die Frage, inwiefern psychotherapeutische Erfahrungen bei ihren Klient*innen auch nach Beendigung der psychotherapeutischen Behandlung nachwirkten und als Ressourcen bei späteren belastenden Lebenserfahrungen hilfreich waren. Diese Frage nahm sie zum Anlass, mit ehemaligen Patientinnen und Patienten Kontakt aufzunehmen und sie um ein Interview zu bitten.
Aufbau und Inhalt
Zu Beginn des Buches beschreibt die Autorin, wie es zur Idee für dieses Buch kam und nach welchen Kriterien die Patient*innen für die Interviews ausgewählt wurden. Ebenso werden die Leitfragen für die Durchführung der Interviews erläutert sowie die zugrundeliegende Hypothese, dass die in einer tiefenpsychologisch fundierten Traumatherapie gemachten Erfahrungen auch nach dem Ende der Behandlung als internalisierte hilfreiche Selbstanteile weiterwirken. Nach der Beschreibung des methodischen Vorgehens erfolgt ein kurzer theoretischer Überblick über Traumatherapie und die von der Autorin praktizierte Methode der tiefenpsychologisch fundierten Traumatherapie (TfT). In einem nächsten Abschnitt werden Bewältigungs- und Überlebensstrategien Betroffener sowie der Aspekt der Resilienz nach traumatischen Erfahrungen behandelt. Dabei werden mögliche Reaktionen auf traumatische Ereignisse auch mithilfe neurobiologischer Konzepte erklärt. Die „resilienten Leistungen“ (S. 39) der Patient*innen werden auch in der Interpretation der Fallgeschichten eine bedeutende Rolle spielen. Zum Abschluss der theoretischen Einführung wird anhand unterschiedlicher Erklärungsmodelle dargelegt, wie traumatische Erfahrungen über Generationen hinweg weitergegeben werden können.
Das Herzstück des Buches bilden jedoch die sieben Fallgeschichten, die als Narrativ der Patienten und Patientinnen, unterbrochen von Überlegungen und Interpretationen der Autorin wiedergegeben werden. Den Anfang macht Martha, die Protagonistin von Elke Garbes erstem Buch gleichen Namens (1991). Dass die Patientin mit ihrer ehemaligen Psychotherapeutin wieder Kontakt aufnehmen wollte, war Anstoß für die Idee, Interviews mit ehemaligen Klienten und Klientinnen zu führen. Die Darstellungen enthalten die Lebensgeschichten von Patient*innen, die als Kind bei Elke Garbe in Behandlung waren (wie Martha, Anna und Emil), aber auch von Patient*innen, die im Erwachsenenalter eine Psychotherapie aufnahmen (Julia, Monika und Angelo). Besonders berührend ist die Darstellung der Geschichte von Emil, einem aus Äthiopien stammenden jungen Mann, der im Alter von etwa einem Jahr von einer deutschen Familie adoptiert wurde. Die psychotherapeutische Behandlung, die im Alter von fünf Jahren begann, endete nach vier Jahren, als Emil aufgrund seiner Verhaltensauffälligkeiten in einer sozialpädagogischen Einrichtung fremduntergebracht wurde. Aus dem zu Forschungszwecken gedachten Interview, in dem Emil sehr offen über die Schwierigkeiten seiner Kindheit und den Schmerz über das fehlende Wissen über seine leibliche Mutter spricht, wird eine Intervention, als die Therapeutin gemeinsam mit Emil die Entscheidung trifft, auch Gespräche mit Emils Adoptivvater und ein abschließendes gemeinsames Interview mit beiden zu führen (diese Gespräche wurden aber nicht in die Auswertung einbezogen). Im abschließenden gemeinsamen Gespräch finden beide Männer einen Weg, ungeklärte Themen und Konflikte miteinander anzusprechen und „ein bisschen Frieden“ (S. 162) miteinander zu machen. Das siebte Interview ist ein Gespräch mit der Pflegemutter des 11jährigen Jonny, die seit mehreren Jahren bei der Autorin in Supervision ist.
In der abschließenden Auswertung werden für jedes Interview Kernsätze extrahiert, die die Ausgangshypothese, dass die in einer tiefenpsychologisch fundierten Traumatherapie erarbeiteten Erfahrungen auch nach Behandlungsende als internalisierte hilfreiche Selbstanteile wirken, belegen. Die Autorin hebt hervor, dass alle Gesprächspartner*innen die besondere Bedeutung der therapeutischen Beziehung betonen. Zu jedem Gespräch werden spezifische hilfreiche Selbstanteile, die mit der psychotherapeutischen Erfahrung assoziiert sind, herausgearbeitet. Die Ergebnisse werden von der Autorin im Kontext theoretischer Erklärungsmodelle diskutiert: „Auf dem Boden der Verinnerlichung einer tragfähigen therapeutischen Beziehung bilden Erfahrungen aus der Therapie vermutlich neue neuronale Netzwerke, die sich bei jeder erneuten Aktivierung verstärken können. Daraus entstehen hilfreiche Verhaltens-, Denk- und Fühlmuster, die in belastenden und traumatischen Situationen hilfreich und unterstützend wirken können.“ (S. 211)
Diskussion
Es gibt mittlerweile viele Studien zur Wirksamkeit von psychotherapeutischen Behandlungen im Allgemeinen und zur Nachhaltigkeit der Wirkung im Besonderen. Dieses Interviewprojekt zeichnet sich durch seinen besonderen Zugang aus. Die Autorin selbst räumt selbstkritisch ein: „Das ganze Vorgehen entspricht sicherlich nicht in allen Aspekten sauberer, vor allem aber kontrollierbarer Forschungstätigkeit“ (S. 212), doch macht gerade der subjektive Charakter das Besondere der Untersuchung aus. Eine Psychotherapeutin nimmt mit früheren Patient*innen Kontakt auf, durchaus mit Zweifeln, ob diese dafür bereit sein würden, und stellt fest, dass alle gerne auf die Anfrage eingingen und sich durch die Initiative geschätzt fühlten (ob auch Patient*innen angeschrieben wurden, die dazu nicht bereit waren, wird allerdings nicht erwähnt). Gemeinsam halten sie Rückschau auf die gemeinsame Zeit der Psychotherapie, die Zeit davor und die Zeit danach. Auch die Therapeutin wird durch die Gespräche mit Neuem konfrontiert, etwa als die Patientin Anna offenbart, wie sie als Mädchen zur Zeit der Behandlung von ihrer Pflegemutter unter Druck gesetzt wurde, in der Therapie nichts von den Missständen in der Pflegefamilie zu erzählen. So werden die Gespräche zu sehr persönlichen Begegnungen. Die Autorin betont, wie leicht es fiel, an die früheren Erfahrungen anzuknüpfen, auch wenn in manchen Fällen Jahrzehnte vergangen waren: „Erstaunlich war, dass bereits in den ersten Minuten im Raum für beide Teilnehmenden eine Atmosphäre spürbar war, die an das erinnerte, was sich damals zwischen beiden herstellen ließ.“ (S. 213) Nun ließe sich methodisch (etwa zur Selektivität der Auswahl der Befragten oder zu möglichen Schwierigkeiten, der früheren Therapeutin in der Interviewsituation Kritisches rückzumelden) und inhaltlich (etwa die etwas eigenwillige Interpretation der Konzepte von Übertragung und Gegenübertragung) einiges hinterfragen, doch das schmälert die Kernaussage des Buches nicht: wie zentral die Bedeutung der therapeutischen Beziehung ist und wie sehr verinnerlichte Beziehungserfahrungen mit der Therapeutin, dem Therapeuten auch Jahre überdauern können. Viele der interviewten Patient*innen schildern, dass sie auch nach dem Ende der Therapie mit äußerst widrigen Lebensumständen konfrontiert waren, aber dennoch die Psychotherapie als hilfreich in Erinnerung behalten konnten. Die Patientin Martha etwa berichtet, dass sie auch Jahre später innerlich mit ihrer Therapeutin im Dialog blieb: „Oft habe ich mich gefragt: Was würdest du sagen, wenn ich in schwierigen Situationen war?“ Vielleicht zeichnet gerade dies eine erfolgreiche Traumatherapie aus: Ist eine traumatische Erfahrung gekennzeichnet durch den Verlust des Vertrauens in die Präsenz guter Objekte und die Erwartbarkeit von Empathie (Bohleber 2000), so ist die dauerhafte Verinnerlichung eines guten (therapeutischen) Objekts, das auch in schwierigen Lebenssituationen reaktiviert und als zugewandt und empathisch erlebt werden kann, eine heilsame Erfahrung, die die Gefahr reduziert, dass die späteren schwierigen Situationen als ebenso traumatisch erlebt werden wie die traumatischen Situationen der Kindheit.
Sehr offen geht die Autorin auch mit ihren Zweifeln um, als Therapeutin damals für ihre Patient*innen good enough gewesen zu sein – eine Erfahrung, die vermutlich jede Psychotherapeutin und jeder Psychotherapeut kennt. Dass die befragten Patient*innen durchwegs bestätigen, dass sie es war und dass diese Erfahrung über viele Jahre hinweg bestehen konnte, mag eine wichtige Botschaft für andere Psychotherapeut*innen sein, die mitunter auch an der Bedeutung der von ihnen angebotenen Beziehung für das weitere Leben ihrer Patient*innen zweifeln.
Fazit
Ein berührendes und lehrreiches Buch – nicht nur für Psychotherapeut*innen (und andere Fachkräfte im psychosozialen Bereich), sondern auch für Betroffene. Auch für sie eignet sich das Buch aufgrund seines klaren, leicht verständlichen Sprachstils, und vielleicht kann es manche dazu anregen, die Chancen einer hilfreichen therapeutischen Beziehung ebenfalls zu nutzen.
Literatur
Bohleber, W. (2000): Die Entwicklung der Traumatheorie in der Psychoanalyse. In: Psyche 61, S. 293–321.
Garbe, E. (1991): Martha. Psychotherapie eines Mädchens nach sexuellem Missbrauch. Münster: Votum.
Garbe, E. (2015): Das kindliche Entwicklungstrauma verstehen und bewältigen. Stuttgart: Klett-Cotta.
Rezension von
Mag.a Barbara Neudecker
MA, Psychotherapeutin (IP) und psychoanalytisch-pädagogische Erziehungsberaterin, Leiterin der Fachstelle für Prozessbegleitung für Kinder und Jugendliche in Wien, Lehrbeauftragte an den Universitäten Wien und Innsbruck, eigene Praxis
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Zitiervorschlag
Barbara Neudecker. Rezension vom 31.07.2023 zu:
Elke Garbe: Trauma und Lebenswege. Über die Wirksamkeit tiefenpsychologisch fundierter Traumatherapie. Klett-Cotta Verlag
(Stuttgart) 2023.
ISBN 978-3-608-98442-2.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30621.php, Datum des Zugriffs 13.12.2024.
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