Suche nach Titel, AutorIn, RezensentIn, Verlag, ISBN/EAN, Schlagwort
socialnet Logo

Lydia Hantke, Hans-Joachim Görges: Handbuch Traumakompetenz

Rezensiert von Alexander Korittko, 27.10.2023

Cover Lydia Hantke, Hans-Joachim Görges: Handbuch Traumakompetenz ISBN 978-3-7495-0390-2

Lydia Hantke, Hans-Joachim Görges: Handbuch Traumakompetenz. Basiswissen für Therapie, Beratung und Pädagogik. Junfermann Verlag GmbH (Paderborn) 2023. 624 Seiten. ISBN 978-3-7495-0390-2. D: 54,00 EUR, A: 55,60 EUR.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.
Inhaltsverzeichnis bei der DNB.

Kaufen beim socialnet Buchversand

Thema

In ihrer überarbeiteten Neuauflage (Erstauflage 2012) stellen Hantke und Görges einen aktualisierten theoretischen Teil vor, in welchem Erkenntnisse der Traumatheorie, Entwicklungspsychologie und Neurowissenschaften leicht verständlich zusammengefasst werden. Im umfangreichen Übungsteil stehen Selbstfürsorge, Hier-und-jetzt-Bezug und die ressourcenorientierte Arbeit mit Traumatisierten im Mittelpunkt.

Autor:in

Beide Autor:innen sind in einem Institut für Traumapädagogik und Traumatherapie in Berlin tätig und bieten seit vielen Jahren Weiterbildungen in diesen Bereichen an, ebenso Trauma-sensible Supervision und Fachberatung. Ihr professioneller Hintergrund bildet unter anderem die Psychologie sowie Hypno-systemisches Denken.

Entstehungshintergrund

Anlass zum Verfassen dieser Neuauflage waren Veränderungen und Konkretisierungen von ursprünglich zaghafter beschriebenen Konzepten und Interventionen. Vor allem die deutlichere Orientierung am Hier-und-Jetzt und eine veränderte Sichtweise von Dissoziation war den Autor:innen wichtig. Zusätzlich werden Übungen in Einzelschritten erklärt, durch Beispiele veranschaulicht und für die Arbeit mit unterschiedlichen Altersstufen und in interkulturellen Kontexten erläutert. Das Buch wurde verglichen mit der früheren Auflage im Umfang um mehr als 100 Seiten erweitert.

Aufbau

In dreizehn Kapiteln wird auf 606 Seiten das Trauma-Thema erörtert, in Teil 1 auf 205 Seiten die theoretischen Grundlagen des Autoren-Teams, in Teil 2 auf 401 Seiten Übungen. Im ersten Teil geht es um die Entwicklung des Menschen, um einige Begriffsdefinitionen und um die Konsequenzen für die Praxis. Im zweiten Teil werden vor allem stabilisierende Übungen für die Arbeit mit Traumatisierten vorgestellt und in ihren unterschiedlichen Aspekten detailliert erörtert.

Inhalt

Mit diesem Handbuch wollen die Autor:innen den unterschiedlichen Professionen der Trauma-Therapie, der Trauma-Beratung und der Trauma-Pädagogik ein Basiswissen vermitteln, sowohl in Theorie als auch in Praxis.

In Teil Eins wird nach einer Einleitung beschrieben, wie sich unser Gehirn nutzungsbedingt entwickelt (2. Abschnitt), wie sich der Mensch als soziales Wesen sowohl Selbstregulierung als auch die Fähigkeit zu Empathie entwickelt (3. Abschnitt), von welcher Trauma-Definition ausgegangen wird (4. Abschnitt). Sehr ausführlich wird in diesem Abschnitt abgehandelt, wie dissoziative Phänomene einzuordnen sind, und wie Symptome nach Traumatisierungen als Überlebensstrategien verstanden werden können. Immer wieder tauchen zur Veranschaulichung der neurobiologisch bedingten Reaktionen als gezeichnete Figuren die Denker*in (Großhirnrinde) und das Häschen (Limbisches System) auf.

Im 5. Abschnitt werden die Konsequenzen für die Praxis beschrieben und das macht den überwiegenden Umfang des ersten Teils aus. Detailreich erfahren Lesende etwas über die konsequente Orientierung im Hier und Jetzt, über die Erarbeitung von Stabilität, über die Erklärung von Notfallreaktionen des Körpers und des Gehirns, über die Notwendigkeit neue Strukturen anzubieten, über die Einbeziehung von zwischenmenschlichen Systeminteraktionen, über Grundsätze im Kontakt mit traumatisierten Menschen, über die Förderung von Selbstfürsorge und schließlich über Standards der Trauma-bezogenen Arbeit.

Teil Zwei des Buches widmet sich einer Vielzahl von Übungen, die bei der Arbeit mit Menschen mit Traumafolgestörungen Anwendung finden können. Schon zu Beginn dieses Teils zeigt sich erneut die hervorragende Strukturierung des Buches: bezogen auf die theoretischen Aspekte des vorangegangenen Teils wird hier eine logische Reihenfolge vorgeschlagen, wann welche Übungen Anwendung finden könnten. Ohne jetzt die Vielzahl der Interventionen detailliert zu beschreiben, scheint mir die folgende Auflistung von Übungsgruppen hilfreich:

  • Hier und jetzt Orientierung (zur Beruhigung des „Häschens“)
  • Überblick für die Denker*in – Modelle erklären
  • Raum und Zeit verfügbar machen – Gedächtnisbildung
  • Distanzierung statt Dissoziation
  • Arbeit mit Anteilen
  • Den Ressourcenbereich erweitern
  • Die anderen einbeziehen (systemischer Kontext)
  • Übungen für den Unterschied in Raum und Zeit

Wer sich für die verwendete Literatur interessiert, findet am Ende des Buches eine kommentierte Literaturliste. Als Audio-Download wird anschließend noch für eine Hörbuch-Version „Traumakompetenz und Selbstfürsorge“ (5 Folgen) mit mehr als 50 verschiedenen Übungen geworben. In der Umschlag-Rückseite ist ein farbiges Faltblatt mit den Buchillustrationen zu finden, in welchem eine nochmalige Begegnung mit der Denker*in und dem Häschen erfolgt.

Diskussion

Ohne Frage legen Hantke und Görges mit diesem Handbuch nicht nur Basiswissen für Therapie, Beratung und Pädagogik zur Traumakompetenz vor, sondern haben mit viel Fleiß und enormer Fachkenntnis ein detailreiches Fachbuch geschrieben, das seinesgleichen sucht. Sicher hat ihnen geholfen und die Arbeit erleichtert, dass sie 2012 schon ein fast so umfangreiches Kompendium vorgelegt haben. Auch im vorliegenden Werk wird der Fokus eindeutig auf Psychoedukation und Stabilisierung gesetzt, Trauma-Exposition wird in den Hintergrund gedrängt. „Es geht nicht darum zu erfragen, was passiert ist … Es geht vielmehr darum zu erfragen, wohin etwas gehört, das ohnehin da ist: Gefühle, Gedanken, Konzentrationsstörungen, Neben-sich-stehen. Es geht darum, das einzuordnen, was den Alltag stört“ (S. 358). In vielen Übungen geht es also um das Einsortieren des im Hier-und-Jetzt wahrgenommen Gefühls, des Gedankens oder der Körperreaktion, nicht um die intensive Vergegenwärtigung traumatischer Ereignisse, in welchen diese Fragmente gespeichert wurden. Lediglich die Übung „Storyboard“ streift die Nähe zur Trauma-Exposition. Das stellt keinen Mangel dar, sondern ist Beweis für die langjährige Erfahrung der beiden Fachleute, die offensichtlich davon ausgehen, dass die Mehrheit der sequenziell Traumatisierten heilfroh ist, wenn sie störungsfrei den Alltag bewältigen können und nicht an einer raschen Exposition interessiert sind.

Beinahe könnte man auf die Idee kommen, dass eine intensive Lektüre dieses umfangreichen Buches ausreichen könne, um Spezialist:in für Beratung und Therapie mit Traumatisierten zu werden. Weit gefehlt! Auch wenn die Übungen in aller Tiefe beschrieben und ihre Fallstricke und Besonderheiten in unterschiedlichen Kontexten erörtert werden, kann doch kein Fachbuch den Selbsterfahrungsanteil, den Übungsteil und die Reflexion unter fachlicher Anleitung ersetzen. Daher – und so ist es wohl auch entstanden – liegt hier ein Buch vor, in welchem parallel zu Weiterbildungen die grundsätzlichen Ideen und praktischen Interventionen im Trauma-Bereich ausführlich und umfangreich nachzulesen sind.

Handbücher zeichnen sich ja häufig auch in ihrer Größe und Seitenzahl dadurch aus, dass sie nicht mal eben aus der Hosen- oder Jackentasche zur Hand genommen werden. Trotzdem gehört es mit einem Preis von 58 € zu den erschwinglichen Werken mit einer Fülle von gut sortierten Informationen.

Fazit

Ein äußerst gut gelungenes Buch, welches sich auch für Theoretiker:innen und Praktiker:innen eignet, die sich noch nicht intensiv mit dem Trauma-Thema befasst haben. Es kann darüber hinaus für Erfahrene als Nachschlagewerk dienen, welches immer mal wieder zu Hand genommen werden kann, um eigene Überlegungen mit den Definitionen und Theorien von Hantke und Görgens zu vergleichen, aber vor allem, um die klar beschriebenen Übungen zu vergegenwärtigen. Der freundlich-sachliche Ton trägt zur Verständlichkeit des Buches bei und – trotz des ernsten Themas – auch zum Lesevergnügen. Ich kann das Buch ohne Abstriche rundum empfehlen.

Rezension von
Alexander Korittko
Dipl. Sozialarbeiter, Systemischer Lehrtherapeut, Autor von zahlreichen Zeitschriftenartikeln zum Trauma-Thema und vier Fachbüchern.
Website
Mailformular

Es gibt 2 Rezensionen von Alexander Korittko.

Besprochenes Werk kaufen
Sie fördern den Rezensionsdienst, wenn Sie diesen Titel – in Deutschland versandkostenfrei – über den socialnet Buchversand bestellen.


Zitiervorschlag
Alexander Korittko. Rezension vom 27.10.2023 zu: Lydia Hantke, Hans-Joachim Görges: Handbuch Traumakompetenz. Basiswissen für Therapie, Beratung und Pädagogik. Junfermann Verlag GmbH (Paderborn) 2023. ISBN 978-3-7495-0390-2. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30622.php, Datum des Zugriffs 11.12.2023.


Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt. Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns. Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.


socialnet Rezensionen durch Spenden unterstützen
Sie finden diese und andere Rezensionen für Ihre Arbeit hilfreich? Dann helfen Sie uns bitte mit einer Spende, die socialnet Rezensionen weiter auszubauen: Spenden Sie steuerlich absetzbar an unseren Partner Förderverein Fachinformation Sozialwesen e.V. mit dem Stichwort Rezensionen!

Zur Rezensionsübersicht