Julia Samuel: Jede Familie hat eine Geschichte
Rezensiert von Prof. Dr. Georg Auernheimer, 24.04.2023

Julia Samuel: Jede Familie hat eine Geschichte. Wie Liebe und Schmerz uns prägen und was wir daraus machen. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2023. 389 Seiten. ISBN 978-3-407-86760-5. D: 24,00 EUR, A: 24,70 EUR.
Thema
Der besondere Ansatz der Autorin ist die Fokussierung der Familiengeschichte in der Therapie, die als je einzigartige Geschichte gesehen wird. Konflikte, unterdrückte Gefühle, Krankheit oder Verlust eines Kindes oder Elternteils prägen die einzelnen Familienmitglieder viel tiefer, als ihnen bewusst ist. Die Autorin geht davon aus, dass wir uns die besondere Dynamik der Familie ansehen müssen, wenn wir mögliche psychische Belastungen und Störungen verstehen wollen. Aufgabe der Therapeutin oder des Therapeuten ist es, hilfesuchenden Familien dafür Anstöße zu geben. Welche Themen beschäftigen die Familie oder einzelne? Gibt es bestimmte Themen, seelische Verletzungen oder Traumata, die sich durch mehrere Generationen ziehen? Samuel geht davon aus, dass störenden Beziehungs- und Verhaltensmuster oft Generationen übergreifend weitergegeben werden.
Die Autorin
Julia Samuel ist eine britische Psychotherapeutin mit dreißig Jahren Berufserfahrung speziell als Kinder- und Familientherapeutin. Früh fand sie Beachtung mit Hilfen zur Trauerarbeit. Ihr Einsatz für trauernde Eltern fand Anerkennung mit einem Orden des British Empire.
Inhalt und Aufbau
Nach einem Vorwort der deutschen Therapeutin Gitta Jacob erläutert Samuel in der Einführung, ausgehend von ihrer eigenen Familie, ihre Sicht auf Familie in der heutigen Gesellschaft und ihre Grundannahmen. Zwei Aspekte sind das familiäre Rollensystem und die intergenerationelle Geschichte.
Im Kapitel Therapie informiert sie über die Auswahl ihrer Klient:innen, das heißt der Familien, und über das Setting. Einige Familien hätten bereits vorher zu ihrer Klientel gehört. Alle Sitzungen mussten wegen der Coronapandemie online als Videokonferenzen stattfinden, wobei drei bis vier Generationen eingebunden waren. Samuel betont entgegen der Erwartung: „Ich bin keine Spezialistin für Familiensystemtherapie… Meine Arbeit beruht jedoch auf den Theorien dieser Richtung“ (28). Besondere Bedeutung für ihre Arbeit hätten die Annahmen von Daniel Goleman über „emotionale Intelligenz“ (27).
Dann folgt der Hauptteil mit acht Fallschilderungen aus ihrer Praxis, die jeweils Einblick in die Familiengeschichte geben. Bei jeder Fallschilderung wird am Anfang die Familienstruktur über mehrere Generationen hinweg graphisch dargestellt.
Die Therapie ist von der Prämisse geleitet, dass familiäre (Konflikt-)Muster intergenerationell „vererbt“ werden. Um diese zu verändern, sollen die Klient:innen lernen, einander auf neue Art zuzuhören (157). Ein Ziel ist es, „eine gemeinsame Vision zu entwickeln“ (170).
Im ersten Fall ist ein 51-Jähriger, verheiratet, zwei Kinder, schon seit langem mit der Frage beschäftigt, wer sein leiblicher Vater ist oder gewesen ist. Einiges nährt seinen Verdacht, dass sein angeblicher Vater nicht sein Vater ist. Die Familie hat Jahrzehnte mit einer Täuschung gelebt.
Im zweiten Fall begleitet die Therapeutin zwei verheiratete Homosexuelle bei ihren hindernisreichen und deshalb belastenden Bemühungen, ein Kind adoptieren zu dürfen. Die Adoption schafft eine neue Familienkonstellation und bringt neue Herausforderungen im Kontakt mit dem sozialen Umfeld mit sich.
Im Mittelpunkt des dritten Falls steht der sehr alltägliche Kummer einer 51-Jährigen mit zwei Töchtern, weil die 18-jährige Tochter zum Studium das Haus verlässt. Überschrift: „Empty Nest“.
Den vierten Fall, überschrieben „Konfliktreiches Patchwork“, liefert das Problem, wie die Beziehungen zwischen zwei Ex-Partnern, ihren neuen Familien und ihren gemeinsamen Kindern aus der ersten Ehe möglichst konfliktarm ausgehandelt und gestaltet werden können.
Wie kann die Familie mit dem Tod eines Kindes, eines dreijährigen Mädchens, zurecht kommen? Das bildet den Inhalt der Familienkonferenz in der fünften Fallgeschichte.
Bei Fall sechs ist der Jahrzehnte zurückliegende, kaum verarbeitete Suizid des Vaters Thema der Sitzungen. Die drei inzwischen erwachsenen Töchter sollen gemeinsam mit der Mutter, unterstützt von der Therapeutin, bisherige Bewältigungsstrategien überprüfen und neue finden.
Die Selbstdarstellung einer orthodoxen jüdischen Familie fällt aus dem Rahmen; denn es wird keine therapeutische Arbeit geschildert. Frauen aus vier Generationen schildern, wie sie mit dem Holocaust-Trauma umgehen. Die Matriarchin hat als Kind das Grauen von Auschwitz erlebt und dort alle Angehörigen verloren. Die Familie hatte sich auf eine Anzeige von Julia Samuel hin gemeldet, die den intergenerationellen Verarbeitungsprozess exemplarisch studieren wollte (259).
Den Abschluss bildet der Fall eines unheilbar kranken 54-Jährigen, dem die Ärzte wegen mehrerer Tumore nur noch ein Jahr Zeit geben. Für ihn und seine Partnerin bietet die Psychologin ihre fachliche Hilfe. Der Abbruch der Kontakte mit Rücksicht auf das Buchprojekt der Autorin (327 f.) ist etwas befremdlich.
An die acht Familiengeschichten schließen sich Schlussbetrachtungen an. Die Verfasserin verdeutlicht das Ziel ihres Buches. „Ich hoffe, dass Sie beim Lesen der acht Fallstudien Aspekte bei sich selbst und Ihrer Familie wiedererkannt haben und einige Einsichten und Methoden zur Veränderung… gewinnen können“ (330). Wichtig ist ihr die Entlastung der und des einzelnen durch das Aufmerksamwerden auf die Hinterlassenschaften vorausgegangener Generationen (336).
Es folgen „Zwölf Tipps für eine glückliche Familie“ und „Eine kurze Geschichte der Familie“, mit der die Autorin der Leserschaft klar machen will, dass sich das, was „Familie“ ist, wer dazu gehört und wie die innerfamiliären Beziehungen sind, im Lauf der Geschichte geändert hat und wieder ändern wird.
Der Textteil wird ergänzt um einen Anhang mit drei Fragebögen zur Anamnese oder zur Selbstklärung und um eine umfangreiche Literaturliste mit den Referenzen für die verschiedenen Kapitel.
Diskussion
Julia Samuel richtet sich mit ihrem Buch primär an das allgemeine Publikum. Aber die Fallstudien sind auch für die unterschiedlichen Fachleute aus sozialen Diensten von Interesse, nicht zuletzt im Blick auf die Herangehensweise der Therapeutin.
Eine wichtige Einsicht für jede Leserin und jeden Leser ist zum Beispiel die Einsicht in die langfristigen Folgen einer traumatischen Erfahrung, wie sie etwa mit dem Suizid eines Elternteils verbunden ist (245). Bei Fall eins gewinnen die Leser:innen Verständnis dafür, wie die Ungewissheit der Herkunft jemanden belasten kann, weil er sich beispielsweise fragt: Wer ist mein leiblicher Vater? An zwei Fallgeschichten dürfte auch deutlich werden, wie belastend Rassismuserfahrungen sind, oder wenn man wegen abweichender sexueller Orientierung der öffentlichen Aufmerksamkeit ausgesetzt ist. Tröstlich kann die Erkenntnis sein: „Wir brauchen im Grunde nur eine einzige Person in unserem Leben, die zum entscheidenden und schützenden Faktor für unser Gelingen wird“ (155, vgl.167, 195). So weit Beispiele für allgemein wertvolle Einsichten.
Für Fachkräfte, die therapeutisch oder beratend tätig sind, ist zunächst aufschlussreich, wie Julia Samuel die Onlinesitzungen nutzt und gestaltet, zu denen die Pandemie zwang. Beachtung verdient dabei ihre Aufmerksamkeit für das Outfit der Klient:innen und für kleine Gesten, Blicke und Körpersprache. Auffallend stark ist auch ihre Sensibilität für die eigene Prägung durch frühere Erfahrungen und ihr Eingeständnis, dass sie als Therapeutin eigene Verletzungen mitbringt (297). Bemerkenswert ist andererseits die Beachtung gesellschaftlicher Wertvorstellungen, Vorurteile oder Familienbilder. Ein Merksatz von ihr: „Therapie findet nicht in einem Vakuum statt“ (205). Deshalb bezieht sie Informationen über soziale Verhältnisse, darunter soziale Daten, als Hintergrundwissen mit ein, was oft fallbezogene Vorbereitung verlangt. Wissen über allgemeine Verhältnisse, zum Beispiel über die Situation von Alleinerziehenden soll unter anderem Klienten moralisch entlasten (163). In einem Fall legt Samuel ihren Klient:innen die Lektüre einer wissenschaftlichen Studie nahe, damit sie ihr Verhalten besser verstehen (241). Sie umgeht in der Familientherapie nicht das scheinbar banale Thema Geld (180 ff., 198 f.).
Fazit
Die Publikation ist zum einen für alle eine nützliche Lektüre, die sich und ihre Familienbeziehungen besser verstehen wollen, zum anderen aber auch für Fachkräfte in sozialen Diensten von Interesse. Durch Trivialitäten, über die man in dem Buch auch einige Male stolpert, sollte man sich nicht vom Weiterlesen abhalten lassen. Extremes Beispiel: „Menschen brauchen andere Menschen“ (210). Solche Platituden rutschen anscheinend auch oder gerade einer Bestsellerin in die Tastatur.
Rezension von
Prof. Dr. Georg Auernheimer
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Zitiervorschlag
Georg Auernheimer. Rezension vom 24.04.2023 zu:
Julia Samuel: Jede Familie hat eine Geschichte. Wie Liebe und Schmerz uns prägen und was wir daraus machen. Beltz Juventa
(Weinheim und Basel) 2023.
ISBN 978-3-407-86760-5.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30625.php, Datum des Zugriffs 11.06.2023.
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