Hannes Hofbauer, Stefan Kraft (Hrsg.): Kriegsfolgen
Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 19.04.2023
Hannes Hofbauer, Stefan Kraft (Hrsg.): Kriegsfolgen. Wie der Kampf um die Ukraine die Welt verändert. Promedia Verlagsgesellschaft (Wien) 2023. 256 Seiten. ISBN 978-3-85371-511-6. D: 22,00 EUR, A: 22,00 EUR.
Bildung und Aufklärung gegen Krieg für Frieden
Die UNESCO hat 1989 in Yamoussoukro/​Elfenbeinküste einen internationalen Kongress durchgeführt, bei dem es um „Peace in the Mind of Men“, Frieden im Denken der Menschen, ging. Mit der Definition, was Frieden ist, wurde eine weitergehende Auffassung formuliert, dass „Frieden mehr als das Ende bewaffneter Auseinandersetzung“ ist, nämlich „Ehrfurcht vor dem Leben“ – „das kostbarste Gut der Menschheit“ – „eine ganz menschliche Verhaltensweise“ – „eine tiefverwurzelte Bindung an die Prinzipien der Freiheit, der Gerechtigkeit und der Solidarität zwischen allen Menschen“ -„eine harmonische Partnerschaft von Mensch und Natur“ (Deutsche UNESCO-Kommission, Internationale Verständigung, Menschenrechte und Frieden als Bildungsziel, Bonn 1992, S. 37ff).
Krieg ist ein „gewaltsamer Massenkonflikt, der alle folgenden Merkmale aufweist:
- an den Kämpfen sind zwei oder mehr bewaffnete Streitkräfte beteiligt, bei denen es sich mindestens auf einer Seite um reguläre Streitkräfte (Militär, paramilitärische Verbände, Polizeieinheiten) der Regierung handelt;
- (b) auf beiden Seiten muss ein Mindestmaß an zentralgelenkter Organisation der Kriegsführenden und des Kampfes gegeben sein, selbst wenn es nicht mehr bedeutet als organisierte bewaffnete Verteidigung oder strategisch-taktisch planmäßige Überfälle (Guerillaoperationen, Partisanenkrieg, usw.);
- (c) die bewaffneten Organisationen ereignen sich mit einer gewissen Kontinuierlichkeit und nicht nur als gelegentliche, spontane Zusammenstöße, d.h. beide Seiten operieren nach einer planmäßigen Strategie, gleichgültig ob die Kämpfe auf dem Gebiet eines oder mehrerer Gesellschaften stattfinden und wie lange sie dauern“ (Dierk Spreen/​Trutz von Trotha, Hrsg., Krieg und Zivilgesellschaft, 2012, www.socialnet.de/rezensionen/14580.php).
„Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt“, diese Aussage aus Schillers Tragödie „Wilhelm Tell“ verdeutlicht, dass Frieden bewahren und schaffen eine anthropologische, verpflichtende Aufgabe für alle Menschen darstellt. Sie zeigt sich in dem philosophischen und moralischen Bewusstsein, wie sie Immanuel Kant mit dem Kategorischen Imperativ zum Ausdruck bringt und im Sprichwort artikuliert: „Was du nicht willst, das man dir tu‘, das füg‘ auch keinen andern zu!“; und sie findet ihre Wahrheit in der von den Vereinten Nationen am 10. Dezember 1948 proklamierten Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: „Die Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie innewohnenden Würde und ihrer gleichen und unveräußerlichen Rechte bildet die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt“.
Entstehungshintergrund und Herausgeberteam
„Frieden schaffen ohne Waffen“ – mit dieser Parole versammelten sich Friedensbewegte aus der ganzen Welt und setzten sich für Abrüstung, Pazifismus und Friedfertigkeit ein (Margot Käßmann/Konstantin Wecker, Hrsg. Entrüstet euch! Warum Pazifismus für uns das Gebot der Stunde bleibt, 2015, www.socialnet.de/rezensionen/19490.php). Es sind die Gräueltaten und Unmenschlichkeiten, die Kriege hervorrufen, die sich in der historischen und aktuellen Kriegsberichtserstattung und -analyse darstellen (Michael St Maur Sheil, Fields of Battle, Lands of Peace, 2016, www.socialnet.de/rezensionen/20965.php), und in den lokalen und globalen Reaktionen und Sanktionen wirksam werden (wie z.B. durch die „Taskforce Freeze and Seize“ der EU-Kommission). Der Historiker Hannes Hofbauer und der Publizist Stefan Kraft, beide Verleger des Promedia-Verlags, geben den Sammelband „Kriegsfolgen“ heraus. 17 Autorinnen und Autoren setzen sich – „jenseits von ukrainisch-/westlicher und russischer Propaganda“ -auseinander mit der Entstehung des Konflikts, dem Kriegsverlauf, den Pro- und Contra-Positionen, Bündnissen und Feindschaften und Opfern. Sie kritisieren den Krieg, analysieren die Ziel- und Schuldzuschreibungen, verweisen auf Kriegstreiber, und sie diskutieren die jeweils einseitigen, politischen, propagandistischen öffentlichen Mediendarstellungen.
Aufbau und Inhalt
Der Sammelband wird in vier Kapitel gegliedert. Im ersten werden Beiträge eingebracht zur Thematik „Vom Konflikt zum Kriegsgang“; im zweiten geht es um „Kriegsgeheul und dem Vormarsch der Politischen Rechten“; im dritten um „Wirtschaftskrieg und Entwestlichung“; und im vierten Kapitel um die „Medien als treibende Kraft“.
Die Wiener Historikerin und Wirtschaftswissenschaftlerin Andrea Komlosy beginnt den ersten Teil mit der Analyse: „Historische Momente der ukrainischen Staatsbildung (1917 – 1991)“. Es sind Stationen, die bei der historischen Reichsgründung des „Kiewer Rus“ (9. – 13. Jh.) beginnt, sich in der Sowjetisierung der Ukraine fortsetzt und sich mit der Auflösung des „russischen Reichs“ und der ukrainischen Unabhängigkeit als ukrainisches Nationalbewusstsein etabliert. Die von Putin forcierte neue „allrussische Idee“ allerdings beförderte in der Ukraine „den antirussischen Rassismus als Grundkonstante ukrainischen Nationalbewusstseins“.
Der britische Journalist Thomas Fazi zieht Parallelen „Vom Krieg gegen Corona zum Krieg gegen Russland“. Er betrachtet die kapitalistisch-neoliberalen Krisensituationen und benennt sie als „Krisenkapitalismus“, gewissermaßen als „Blaupause für die Zukunft… die durch einen permanenten Krisen-/Notstands-/Kriegszustand gekennzeichnet ist“.
Der Gesellschaftswissenschaftler und Mitbegründer von attac, Peter Wahl, reflektiert: „Der Krieg, der vor dem Krieg begann“. Er zeigt die staatlichen, räumlichen, ökonomischen, geopolitischen und ideologischen Konfliktsituationen auf, wie sie sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion ereigneten, als hegemoniale, westliche, freiheitliche, demokratische Ansprüche als Gegenpole zur kommunistischen, sozialistischen Idee richteten und sich in der vereinfachenden Erzählung ausdrückt: „Ukraine ist gut, Russland ist böse“.
Hannes Hofbauer zeigt in seinem Essay „Von Vilnius 2013 nach Minak 2015“ auf, wie sich Europa auf die Konfrontation mit Russland vorbereitete. Die Fragen, welche geopolitischen und geoökonomischen Ziele und Anlässe dazu führten, dass sich in der Ukraine eine forcierte „West“-Orientierung und „Ost“-Konfrontation durch setzte, lassen sich nicht mit einem eindeutigen „Ja“ oder „Nein“ beantworten.
Der Schweizer Gesellschaftsanalytiker und ehemaliger Militärangehöriger Ralf Bosshard zieht mit dem Beitrag „Verlauf des Krieges in der Ukraine“ ein erstes Fazit. Er teilt die Entwicklung ein in die fragilen Vereinbarungen zum Minsker Abkommen von 2015, den Kriegsausbruch 2021 und Kämpfe um Mariupol, Charkiv, Cherson. Seine pessimistische Einschätzung: Ein Kriegsende hinterlässt eine zerstörte Ukraine.
Der Münchner Politikwissenschaftler und ehemalige Bundeswehr-Offizier Jochen Scholz reflektiert „Wer über die Weltinsel herrscht“ und bedenkt Konsequenzen für Europa. Der aktuelle, geopolitische Konflikt, wie er sich zwischen dem USA dominierten Westen und dem (russisch- und chinesisch) beherrschten Osten zeigt sich im russisch-ukrainischen (Stellvertreter-)Krieg. Sein Lösungsvorschlag: „Europa‚ ‚als westliche Halbinsel Groß-Eurasiens‘ kann nur dann eine unabhängige Zukunft haben, wenn darauf hingearbeitet wird, mit den Staaten dieses riesigen Kontinents eine gedeihliche politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit zu gestalten“.
Stefan Kraft leitet das zweite Kapitel mit dem Beitrag „Luxemburg, Lenin und Putins ‚Russki Mir‘“ ein. Es sind Stimmen und Konzepte, wie sie von der linken, sozialen Bewegung ausgingen, mit Rosa Luxemburgs Visionen, mit Lenins Thesen zur „Selbstbestimmung der Nationen“, bis hin zu Putins Fantasien eines erneuerten großrussischen Reichs“.
Die Medien- und Kommunikationswissenschaftlerin Olga Baysha lehrt als ethnische Ukrainerin an einer Moskauer Hochschule. Sie setzt sich kritisch auseinander mit „Selenskyjs autoritärem Populismus“ und sieht in dessen Politik und Ideologie Anlässe für den Krieg. Seine „Geschichte von Armageddon – der letzten Schlacht zwischen den Mächten des Lichts und den Mächten der Finsternis“ sei das Hindernis für eine friedliche Lösung des Konflikts.
Der russische Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler Boris Kagarlinsky gilt als Oppositioneller des autoritären, diktatorischen „Putinismus“. Mit dem Beitrag „Die Sackgasse des Krieges und die Bedrohung des Friedens“ plädiert er für einen „Putinismus ohne Putin“ – die Lösung?
Der Bundestagsabgeordnete von der Partei Die Linke, Andrej Hunko, informiert über „Kiews <Schwarze Listen>“. Er thematisiert damit propagandistische, ideologische und nationalistische Aktivitäten, die sich gegen die westlichen „Feinde der Ukraine“ richten.
Der Politikwissenschaftler Erhard Crome setzt sich mit dem Beitrag „Deutsche Kriegspfade“ mit den offiziellen, regierungsamtlichen Positionen, Zustimmungen und Beiträgen zum Ukraine-Krieg auseinander. Er kritisiert die medial und politisch gestützten Kampf- und Kriegs-Euphorien. Der Theologe und Psychoanalytiker Eugen Drewermann plädiert: „Ohne NATO leben – Ideen zum Frieden“. Es sind Appelle gegen Krieg und Gewalt, gegen Unmenschlichkeit und für Humanität: „Was wir Krieg nennen, was wir Militär nennen, ist das Untergraben von allem, was wir Kultur nennen“.
Der Journalist Florian Warweg deckt auf: „Nord Stream als Kriegsgrund“. Als am 26. 9. 2022 um 02:03 beim seismischen Institut in Dänemark die Überwachungsinstrumente der unterseeisch gelegten Nord-Stream-2-Pipeline Störungen anzeigten und sich herausstellte, dass die Leitungen auf einer Länge von 230 Metern gesprengt wurden, da schossen die Spekulationen über die Täter ins Kraut. Der Journalist Werner Rügemer sieht in der Ukraine ein „extremes Muster neoliberaler Neuordnung“. Er sieht in den westlichen, ökonomischen, fiskalischen, politischen und spekulativen Initiativen in der Ukraine Vorbereitungen für die „Eroberung Russlands“. Hannes Hofbauer spekuliert: „Vom US-/EU-Sanktionsregime gegen Russland zur Entwestlichung Eurasiens“. In der Bedrohung der (noch) Weltvormachtstellung des transatlantischen Raums im Weltsystem durch die „chinesisch-russisch-indische Achse“ ist real.
Das vierte Kapitel beginnt die Frankfurter Medienwissenschaftlerin Sabine Schiffer mit ihrem Text: „Das Narrativ von den Guten und den Bösen“. Sie setzt sich auseinander mit Kriegspropaganda und Kriegstreiberei. Im Ukraine-Krieg sieht sie das Land und ihre Bevölkerung als doppelte Opfer einer lokal- und global-konstruierten, medialen Politik. Die Politikwissenschaftlerin Sabine Sahir beendet mit ihrem Beitrag „Wording und Framing in Kriegszeiten“ den Sammelband. Es ist wie Blinde-Kuh-Spielen: „Während der Begriff des russischen Imperialismus in allen politischen Milieus inflationiert, spielt der des Neokolonialismus im Denken westlicher Linker kaum mehr eine Rolle“.
Diskussion
Der Anspruch, die Konflikt-Situationen und Entwicklungen im russisch-ukrainischen Krieg analytisch und „neutral“ mit dem Anspruch eines globalen Friedenswillens darzustellen scheint schier unmöglich zu verwirklichen zu sein. Das zeigen vor allem Reaktionen auf Bemühungen, den Krieg durch Friedensverhandlungen zu beenden: „Naivität“, oder „Zynismus“ (wie z.B. die Zurückweisung des Appells „Frieden schaffen! Waffenstillstand und Gemeinsame Sicherheit jetzt!“ <1. 4. 2023> durch die Ukraine). Es steht außer Zweifel, dass der russische Überfall auf die unabhängige Ukraine ein Völkerrechtsbruch ist. Der Internationale Gerichtshof der Vereinten Nationen hat Russland 2022 aufgefordert, den Angriffskrieg gegen die Ukraine sofort zu beenden. Ebenso wurden der russische Präsident Putin und seine Helfershelfer wegen der Verschleppung von ukrainischen Kindern nach Russland als Kriegsverbrecher zur Verhaftung und Verurteilung ausgeschrieben. Dadurch werden Argumentationen, es handele sich um einen „gerechten Krieg“, zurückgewiesen; nicht jedoch die Bemühungen, zu gerechten Friedensverhandlungen zu gelangen.
Die Dilemmata bleiben: Krieg ist nicht Frieden! Kriegstreiber sind keine guten Menschen! Diktaturen sind keine Demokratien! Kriegsverbrechen = Entmenschlichung! Zu- und Widersprüche zu gesellschaftspolitischen Aktivitäten, wenn sie nicht auf Fake News fußen, sondern sich demokratisch und freiheitlich bestimmen, sind legitime, notwendige, kritische, kommunikative Reaktionen. Bewertung, Wahrheits- und Wirklichkeitsgehalt vollziehen sich in der intellektuellen, dialogischen Fähigkeit des Individuums und des Kollektivs. Eine Lösung bietet sich an: Pragmatismus als Antiautoritarismus zu begreifen und die Conditio Humana als menschliches Ziel für ein friedliches, gleichberechtigtes Miteinander in der EINEN WELT zu leben (Richard Rorty, Pragmatismus als Antiautoritarismus, 2023, www.socialnet.de/rezensionen/30605.php).
Fazit
Krieg als bewaffneter Angriff ist immer Ausdruck von Unmenschlichkeit und Machtmissbrauch. Die Ideologie der Zuordnung von Tätern und Opfern in kriegerischen Konflikten muss hinterfragt und kritisch bedacht werden. Es sind immer Personen, Gruppen und Parteien, nicht „das Volk“, die Krieg führen. Vom Verhaltensforscher Konrad Lorenz (Das sogenannte Böse“, 1963) stammt die Erkenntnis: „Kein Mensch kann ein Volk hassen, von dem er mehrere Einzelmenschen zu Freunden hat“ – eineÜberzeugung, die auch bei der Bewertung und Auseinandersetzung mit dem Krieg in der Ukraine getroffen werden sollte.
Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Zitiervorschlag
Jos Schnurer. Rezension vom 19.04.2023 zu:
Hannes Hofbauer, Stefan Kraft (Hrsg.): Kriegsfolgen. Wie der Kampf um die Ukraine die Welt verändert. Promedia Verlagsgesellschaft
(Wien) 2023.
ISBN 978-3-85371-511-6.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30626.php, Datum des Zugriffs 02.12.2024.
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