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Werner Vogd: Welten ohne Grund

Rezensiert von Dipl.-Pädagogin Bettina Wichers, 26.09.2023

Cover Werner Vogd: Welten ohne Grund ISBN 978-3-8497-0036-2

Werner Vogd: Welten ohne Grund. Buddhismus, Sinn und Konstruktion. Carl-Auer Verlag GmbH (Heidelberg) 2022. 2. Auflage. 269 Seiten. ISBN 978-3-8497-0036-2. D: 36,00 EUR, A: 37,10 EUR, CH: 47,90 sFr.
Reihe: Systemische Horizonte.

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Thema

Welten ohne Grund – der Titel weist auf die (wissenschaftliche) Essenz der Bestrebungen einer Welt- und Sinnerklärung sowohl des Buddhismus als auch des biologischen Konstruktivismus hin, die mit zwar unterschiedlichen Vorgehensweisen, doch sehr ähnlichen Intentionen wie Motivationen, die menschliche Existenz als Seinserfahrung „ohne Grund“ beschreiben und zu erklären versuchen.

Autor

Werner Vogd hat den Lehrstuhl für Soziologie an der Fakultät für Gesundheitswissenschaften an der Universität Witten-Herdecke inne und forscht u.a. zu Medizinsoziologie, Systemtheorie, Wissenssoziologie und Religionssoziologie, letzteres mit Schwerpunkt Buddhismus, zuletzt DFG-Forschungsprojekt „Buddhismus im Westen“.

Aufbau und Inhalt

Der Inhalt des Buches wird dem Leser in drei Kapiteln präsentiert, die sich wiederum in zahlreiche Unterkapitel untergliedern, was in Ermangelung einer Nummerierung (welche allerdings auch eine Linearität des Inhalts suggerieren würde, die naturgemäß nicht gegeben ist) für ein wirkliches Nachvollziehen der Gedankenführung in dem hier gegebenen Rezensionsformat eine Detailfülle erfordern würde, die unangemessen scheint. Daher beschränke ich mich auf das (immer noch umfangreiche) Herausgreifen einiger Aspekte und Zitate eines jeden Kapitels.

Teil 1: Erkenne Dich selbst – westliche Perspektiven

Der Baum der Erkenntnis – der Apfel ist vergiftet: Im Erkennen des eigenen Seins wird das Objekt der Erkenntnis zum Subjekt, und das Subjekt der Erkenntnis zum Objekt; so entstehen Selbstreferentialität und Zirkularität – logische Paradoxien, die von der klassischen Logik abgelehnt werden (Zirkelschluss) vs. den selbstreferentiellen Erkenntnissystemen, die diese rekursive Natur des Erkennens anerkennen, und damit auch die Natur der Eigentheorie: „Eine vollständige Eigentheorie des Erkennens hat die Aufgabe, im Einklang mit unserer empirischen Erfahrung zu zeigen, wie der Prozess des Erkennens einer Wirklichkeit eine Wirklichkeit erschafft, in der Selbsterkenntnis möglich ist“ (25). Folgend erörtert der Autor einige „Lösungsversuche des Subjekt-Objekt-Problems“, u.a. den materiellen Objektivismus, den subjektiven Idealismus, den Dualismus, und schließlich selbstreferenzielle Erkenntnistheorien: „Den Beobachter erklären“.

Sich selbst steuernde Maschinen – Selbstreferenz und Unbestimmtheit: Kybernetische Systeme leiten über zum Informationsbegriff, der in Anlehnung an Bateson aufzeigt, „dass Informationen etwas nicht materiell Fassbares darstellt“, aber dennoch etwas bewirken, was in der Folge zu dem Schluss führt: „Selbst das Nichts kann im entsprechenden Kontext eine Information enthalten.“ (38); ferner erörtert der Autor nicht-triviale Maschinen und das kybernetische Gedächtnis, welche beide als argumentative Grundlagen für spätere Ausführungen dienen.

Autopoiesis – die Unterscheidung von Selbst und Nicht-Selbst organisieren: Von den theoretischen Systemen zu den lebenden Systemen führt das Verständnis der Autopoiesis von Maturana und Varela weiter zum neurobiologischen Konstruktivismus; der Schöpfungsprozess scheint seine ursprüngliche Bedeutung, die Trennung zwischen Schöpfer und Geschöpf, zu verlieren – Lebewesen sind im Prinzip der Selbstorganisation Schöpfer und Geschöpf zugleich, ihre beständige Selbsttranszendenz dem Selbstschöpfungsprozess immanent, wodurch immer neue Formen entstehen. Die Skizze dissipativer Strukturen in der Chemie mit den Prinzipien der Autokatalyse und der wechselseitigen Katalyse als eine Art Vorstufe leiten über zur Autopoiesis als Selbstorganisationsprinzip in der biologischen Welt und der Funktionsweise autopoietischer Einheiten und autopoietischer Systeme.

In weiteren Abschnitten über die westlichen Perspektiven der Selbsterkenntnis erörtert der Autor in „Embodiment – das (Er-)Finden der Wirklichkeit“ u.a. die Gestaltwahrnehmung und die Selbstorganisation der visuellen Wahrnehmung und Mustererkennung und geht damit in den Bereich der Hirnforschung; die „Psyche – kohärente Wirklichkeiten als Selffulfilling Prophecy“, die Konstruktion von Wirklichkeit: „Unsere erlebte Wirklichkeit ist ein Konstrukt, aber wir bemerken dies in der Regel nicht, da Welt normalerweise unsere Konstruktionen duldet.“ (64) – und die Abhängigkeit dieser Konstruktionen von Koproduktion, Kommunikation und Resonanz; „Soziale Selbstorganisation – Sprechen und die unentrinnbaren Folgen“, u.a. mit Bezug auf Luhmann, Watzlawick, und auf Günthers polytexturale Logik.

Der Abschnitt „Selbst-bewusst-Sein – Spaltungen und der Versuch, sie zu reparieren“ widmet sich vertieft u.a. dem „Ich-Bewusstsein“, der „Zeitlichen Kohärenz“ (mit einer ausführlichen Erörterung der Phänomenologie des Zeitbewusstseins und der Neurophänomenologie des Zeiterlebens), und dem Zusammenhang von „Bewusstsein und Tod“.

Das „Geheimnis der Koproduktion“ beendet die westlichen Perspektiven auf die Welten ohne Grund – u.a. mit dem Verständnis, „das Selbst als eigenständigen Systemtyp aufzufassen, der sich dadurch auszeichnet, dass mit ihm sprachlich verfertigte Verkettungen – also sich selbst fortschreitende Texte – durch Erzählbarkeit, durch Narrativität verbunden und integriert werden“ (117), eingebunden in soziale, kulturabhängige Kon-Texte, die als Umwelt des Ich als lebendiges System fungieren.

Teil 2: Kein Selbst – buddhistische Perspektiven

Aus der Theravāda-Tradition, der ursprünglichsten Richtung des Buddhismus, heraus legt der Autor in diesem Kapitel den „ganzheitliche[n] Prozess der Geistes- und Wirklichkeitsentfaltung“ dar:

„Die Natur des Selbst erkennen“ – in das grundlegende Ansinnen des Buddhismus, durch gründliche Geistesschulung in zumeist jahrelangen Prozessen die Natur des eigenen Geistes, des eigenen Bewusstseins zu erforschen bzw. zu erschauen, wird mit einer Erörterung des Seelenwesens eingeführt: „Ein erkennendes Seelenwesen ist nicht anzutreffen.“ (124), und leitet weiter zu einem einfachen Modell des Buddhismus: „Die fünf Aggregate des Geistes (khandha)“ – Körperlichkeit, Bewusstsein, Wahrnehmung, Gefühl (eher als Empfindung zu verstehen) und die Geistesformationen. Der Beobachter, der bereits an früherer Stelle des Buches diskutiert wurde, „erscheint jetzt vielmehr als eine sukzessive Kette aneinander anschließender Momente eines fortdauernden Prozesses des Bewusstwerdens. Innerhalb dieses Prozesses gibt es keinen Wesenskern, kein isolierbares Ich-Bewusstsein mehr.“ „Das Gesetz der bedingten Entstehung (paṭicca samuppāda)“ erörtert u.a. die doppelte Bedeutung der Wiedergeburt, sowohl den Gedanken einer „Wiederverkörperung einer Lebensform nach dem physischen Tod“ (132) als auch „die Neuentstehung eines künftigen Bewusstseinsmoments“ (ebd.), aber auch den Körper als materialisiertes Wirken. „Die drei Daseinsmerkmale (tilakkhaṇa)“ – Unbeständigkeit, Ichlosigkeit und Leiden und „Die vier edlen Wahrheiten (ariya-sacca)“ sind zentrale Konzepte der buddhistischen Lehre, werden hier aber nur kurz skizziert.

Der Abschnitt „Den Geist schulen“ erläutert eingehend das Verständnis von Samadhi und zeigt verschiedene „Methoden zur Kultivierung von Sammlung (samādhi)“ auf. „Stadien der Vertiefung (jhāna)“ gibt einen sehr kurzen Überblick über die acht jhanis, die vier feinkörperlichen Vertiefungen sowie wie die vier Vertiefungen im „unkörperlichen Gebiet“; schließlich folgt die „Sammlung als Mittel zu Einsicht und Selbsterkenntnis (vipassanā)“, wo neben den vier Grundlagen der Áchtsamkeit auch mögliche Fallstricke eines buddhistischen Übungsweges erläutert werden: „Tiefe Versenkungs-, Trance- und Verzückungszustände können die Illusion nähren, dass diese Erfahrungen etwas Substanzielles, Unvergängliches und damit Göttliches im Sinne der Befreiung besäßen“ (143).

„Heilsam handeln“ zählt u.a. die kammisch (karmisch) wirksamen Faktoren des Bewusstseins auf, unheilsame (Verblendung, Begierde, Hass), neutrale (z.B. Kontakt, Willensregung, spontane Aufmerksamkeit) und heilsame Faktoren (u.a. klare Bewusstheit, rechte Rede, rechtes Handeln, liebevolle Güte, die Vernunft). „Erkennen und Handeln zusammenbringen – Der edle achtfache Pfad (magga)“ beschreibt eben diesen als den „Weg der Befreiung als eine sukzessive Harmonisierung von Handeln, Erkennen und Geisteszustand“ (155) mit dem Ziel der „Auflösung der Individualität im Individuum der Befreiung“ (158).

Teil 3: Vom Sein zum Werden – westliche und buddhistische Perspektiven im Dialog

Das dritte Kapitel nun strebt an, die Parallelen herauszuarbeiten zwischen den beiden vorangehend dargelegten Modellen der Welt- und Seinserklärung. „Die Natur des geistigen Prozesses“ zeigt das Selbst „als ein relationales Gebilde, das im Fluss des Stromes des Daseins als Artefakt einer virtuellen Projektion erscheint“ (161) – im Buddhismus, bzw. „keine inhärente Substanz“ (ebd.) hat – wie es im neurobiologischen Konstruktivismus dargestellt wird: „Auf jeder noch so subtilen Ebene existiert ein Lebewesen als Ich nur für die Dauer eines Gedanken“ (162).

Nur Taten und kein Täter vertieft eben diese Annahme, Nachhausekommen im Sein ohne Sinn sieht weiterführend „die Sinnfrage als eine epistemologische Pathologie“ (181). Fühlen und Erinnern betrachtet u.a. die edle Wahrheit von der Auflösung des Leidens: „Sobald man Geburt bzw. Wiedergeburt nicht mehr auf den biologischen Lebenszyklus bezieht, sondern auf den von Moment zu Moment neu aufleuchtenden Bewusstseinsprozess, wird klar, was mit der Befreiung gemeint ist“ (188). „Todloses“ nimmt die „Hoffnung auf Unsterblichkeit der Persönlichkeit“ (198). „Relative Wahrheit, absolute Wirklichkeit“ betrachtet „implizite Ordnungen statt expliziter Wahrheiten“ (204). „Die Mitwelt – interbeing is peace“ setzt sich mit dem Vorwurf des Solipsismus an den Frühbuddhismus auseinander, betont die Bedeutung von „mitfühlendem In-Beziehung-Sein“ (207) im Buddhismus und das Plädoyer Humberto Maturanas für eine Biologie der Liebe bzw. dafür, „die Emotion Liebe als die Grundbedingung menschlicher Entwicklung aufzufassen“ (208). Kommunikation fasst abschließend zusammen: „Ein von seiner sozialen, semantischen und kulturellen Einbettung isolierbares Selbst lässt sich nirgendwo finden.“ (213), und widmet sich abschließend der „Erleuchtung in diesseitiger gemeinschaftlicher Praxis“ (217).

Epilog, Anmerkungen, Abkürzungen der Pāli-Quellen, Personenregister, Literatur und ein ganz kurzer Abschnitt „Über den Autor“ schließen das Buch ab.

Diskussion

Ein Buch mit oftmals komplexer Sprache zu einem komplexen Inhalt, für das ich mir als Leserin mehr orientierende Struktur gewünscht hätte, auch wenn ich sehe, dass es (nicht nur) aufgrund der Non-Linearität des betrachteten Gegenstandes – Welten ohne Grund – eine Herausforderung ist, diesen Stoff so zu untergliedern, dass ein jeder Leser und eine jede Leserin, die ihr angemessene Orientierung im Leseprozess findet.

Für sowohl im Konstruktivismus als auch im Buddhismus (oder zumindest in einem der Felder) sicher verankerte Leser ist dies vielleicht ein sich leicht zu erschließendes Buch – auf mich trifft dies nicht zu, denn obwohl ich beide Felder in meinen bisherigen Studien bzw. Forschungen nicht nur gestreift habe, musste ich feststellen, dass ich in der Terminologie nicht bewandert genug war für eine flüssige Lektüre dieses Buches, sondern es mir wirklich erarbeiten musste – habe ich doch als Rezensentin den Anspruch, alles gelesen und einigermaßen erfasst zu haben, was einiges an Zeit kostete.

Die teilweise komplexeren Formulierungen dagegen habe ich als anregend und dem Inhalt angemessen empfunden, doch mag dies nicht für jeden Leser gelten. Dies ist kein Manko des Buches, nur ein Warnhinweis für interessierte Leser.

Wenn man das Buch nicht aus einem wissenschaftlichen Interesse heraus liest und die dargelegten Konzepte nicht in der Tiefe verstehen will und muss, scheint es angeraten, das Buch eher aus der Position des dort inhaltlich betrachteten Beobachters zu lesen und sich während der Lektüre der Bodenlosigkeit der „Welten ohne Grund“ zu überlassen und zu beobachten, wo die Detailfülle an Erkenntnissen die Strukturen des eigenen Systems bestätigt oder als Perturbation anstößt – immer wird es die eigene Autopoiesis beeinflussen, was mehrfach deutlich dargelegt wird.

Und so ist das Buch als Gewinn im Ganzen zu verstehen, dass der Autor sich der Aufgabe gestellt hat, die Parallelen von neurobiologischem Konstruktivismus und Buddhismus so ausführlich darzulegen, und damit auch einen neuen Impuls für die wissenschaftliche Bewusstseinsforschung setzt, die Erkenntnisse des Buddhismus aufmerksamer in die Erörterungen miteinzubeziehen. Ich zumindest habe insbesondere für meine aktuelle Forschung zu Bewusstseinsentwicklung etliche Anregungen erhalten, sodass ich das Buch deutlich bereichert abschließen konnte.

So ende ich mit einem Zitat der Verlagsbeschreibung: „Es geht um die Kunst des Lebens als Kultivierung der Fähigkeit, das Geschenk der Vergänglichkeit annehmen zu können und auf einer tiefen Ebene glücklich zu sein.“, und nehme aus dem Bewusstsein der Vergänglichkeit meiner Lebenszeit, die ich mit der Lektüre verbracht habe, als Geschenk viele kleine und für meine persönliche Erkenntnis relevante Einsichten aus diesem Buch mit, ohne jedoch den großen Bogen zwischen den Kapiteln wirklich gefunden zu haben.

Fazit

Ein detailreicher Ansatz, die vorhandenen Verbindungen und geteilten Annahmen von Buddhismus und neurobiologischem Konstruktivismus aufzuzeigen, das jedoch vielen, vielleicht den meisten Lesern eine gewisse Sorgfalt, Konzentration und Zeit abfordern wird, um sich die Inhalte zu erschließen. Kein Buch für den leichten Lesegenuss, sondern letztlich ein wissenschaftliches Werk eines Wissenschaftlers, der hier zwei Erkenntnis-Welten zusammenbringt, die sich beide auf ihre Weise der Beschreibung der Grund-Losigkeit der menschlichen Existenz widmen.

Rezension von
Dipl.-Pädagogin Bettina Wichers
Gerontologin (M.Sc.), Dipl.-Pädagogin & Coach
CommuniCare. Kommunikation im Gesundheitswesen, Göttingen
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Es gibt 35 Rezensionen von Bettina Wichers.

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Zitiervorschlag
Bettina Wichers. Rezension vom 26.09.2023 zu: Werner Vogd: Welten ohne Grund. Buddhismus, Sinn und Konstruktion. Carl-Auer Verlag GmbH (Heidelberg) 2022. 2. Auflage. ISBN 978-3-8497-0036-2. Reihe: Systemische Horizonte. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30628.php, Datum des Zugriffs 10.10.2024.


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