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Jacques Lacan, Jacques-Alain Miller u.a. (Hrsg.): Die Kehrseite der Psychoanalyse

Rezensiert von Dr. Ulrich Kobbé, 16.05.2023

Cover Jacques Lacan, Jacques-Alain Miller u.a. (Hrsg.): Die Kehrseite der Psychoanalyse ISBN 978-3-98514-073-2

Jacques Lacan, Jacques-Alain Miller, Hans-Dieter Gondek (Hrsg.): Die Kehrseite der Psychoanalyse. Das Seminar, Buch XVII (1969-1970). Turia + Kant (Wien) 2023. 280 Seiten. ISBN 978-3-98514-073-2. D: 36,00 EUR, A: 36,00 EUR.

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Thema

Der vorliegende Band publiziert die Vorlesung des französischen Psychoanalytikers Lacan 1969/70 in deutscher Übersetzung.

Autor – Herausgeber – Übersetzer

Der Autor, Jacques-Marie Émile Lacan, bekannt unter dem Namen Jacques Lacan (1901-1981) war ein französischer Psychiater und Psychoanalytiker. Wesentlich sind seine prägenden Beiträge zur Psychoanalyse als Re-Lektüre der Werke Sigmund Freuds, die eine Kritik ich-psychologischer, objektbeziehungstheoretischer, kleinianischer u.a. neoanalytischer Strömungen der Psychoanalyse vertrat. Lacans Untersuchung und Diskussion freudscher Konzepte verstand Psychoanalyse als eine Praxis der Sprache wie des Sprechens und fußt auf strukturalistischen, topologischen, signifikantheoretischen und philosophischen Modellen.

Für den Verlag „interpetierte“ Lacan „die Schriften Sigmund Freuds neu und radikalisierte dessen Ansätze, u.a. unter Rückgriff auf die Philosophie“.

Der Quasi-Herausgeber Jacques-Alain Miller (geb. 1944), der – so die Diktion des Verlags – die „Texterstellung“ vornahm, ist französischer Psychoanalytiker, Schwiegersohn Jacques Lacans und alleiniger Herausgeber von dessen Seminaren und Schriften. Miller leitete ab 1981 die lacansche École de la cause freudienne (ECF) und gründete 1992 die lacanianische Association mondiale de psychanalyse (AMP).

Der Übersetzer Hans-Dieter Gondek wird vom Verlag als „Philosoph und Übersetzer in Deutschland“ benannt. Gondek übersetzte nicht nur mehrere Seminare Lacans, sondern ist auch Co-Autor von Arbeiten über diesen und hat zu Grundsatzfragen, Implikationen und kritischen Aspekten des Übersetzens publiziert.

Entstehungshintergrund

Das hier auf Deutsch publizierte Seminar XVII hat eine durchaus konflikthafte Geschichte: So wird der Titel des Seminars «La psychanalyse à l’envers» (Die Psychoanalyse von der Rückseite) in der Buchveröffentlichung Millers zu «L’envers de la psychanalyse» (Die Kehrseite der Psychoanalyse). Dass dies mehr als nur eine Akzentverschiebung ist, wird deutlicher, wenn man auf Rolf Nemitz‘ Website und Blog mit dem Titel Lacan entziffern den Link zu einer deutschsprachigen Arbeitsfassung von Gerhard Schmitz nutzen und dessen Textdokument (Lacan, 1997) herunterladen kann: Darin diskutiert der Übersetzer konsequent kritisch die erheblichen Differenzen zwischen online verfügbaren Mitschriften bzw. Tonaufnahmen der lacanschen Rede und der von Miller redigierten und publizierten Fassung. Schmitz konstatiert, hierbei werde „klar, dass das, was man hierzulande bisher für ›Lacan‹ halten zu dürfen glaubte, günstigstenfalls ein ›Millan‹ gewesen ist. […] Auch die behutsamste Etablierung wird um gewisse strukturierende Eingriffe nicht herumkommen; nicht zu legitimieren und von daher unannehmbar ist jedoch die zensurartige Beschneidung aller typischen Merkmale mündlicher Rede, die den Ursprung der Überlieferung aus dem gesprochenen Diskurs fast ausnahmslos tilgt. Von der Unterdrückung ‚politisch‘ brisanter Redeinhalte, wie sie der Versionenvergleich aufdeckte, muß hier erst gar nicht gesprochen werden“ (Lacan, 1997, S. 4). Insofern enthält auch der hier vorgelegte Text das den publizierten Seminaren Lacans immer zugrunde zu legende Diktum des Quasi-Herausgebers Miller.

Zum Entstehungshintergrund des Seminars gehört zugleich, was oben bereits anklingt: Lacan hielt dieses Seminar u.a. in Anwesenheit von protestierenden, ihn mitunter kritisch-provokant hinterfragenden Studierenden der 1968er Studentenbewegung. Der ebenfalls abgedruckte improvisierte Vortrag vom 3. Dezember 1969 ist entsprechend ein auch gesellschaftspolitisches Dokument … und zugleich politischer Alltag der herausgearbeiteten Herr-Knecht-Dialektik intersubjektiver Diskurse.

Aufbau und Inhalt

Das Buch folgt einerseits – wie auch in den andere Seminaren Lacans – chronologisch den Vorlesungen, nimmt jedoch (siehe Inhaltsverzeichnis oben) andererseits Ausnahmen davon vor: So wird die chronologisch dritte Veranstaltung vom 03.12.1969 mit dem Titel ‚Analyticon‘ ausgegliedert und als Anhang A an den Schluss gestellt, weiter die Veranstaltung vom 03.06.1970 als „ein von Miller entweder unterdrücktes oder ihm unbekanntes weiteres Impromptu“ nicht einmal erwähnt (Lacan, 1997, S. 169 Fn 263). Das veröffentlichte Seminar kompiliert auf diese Weise die inhaltlich-thematisch auf die Produktion der Diskurse und deren Kontexte fokussierten Vorträge Lacans und behandelt die improvisierenden „Stehgreifbeiträge“ («impromptus») als angehängtes Dokument bzw. erwähnt sie nicht.

Mit den Vorträgen dieses Seminars systematisiert Lacan die von ihm bereits vereinzelt thematisierten „Diskurse“ als ein, wie er später formuliert, „in der Sprache gründendes soziales Band“ (Lacan, 1975, S 21), als Verknüpfungen des symbolisch-intersubjektiven Netzes. Dabei unterscheidet er mit je eigenem „Algorithmus“ die Diskurse (1) des Herrn, (2) der Universität, (3) des Hysterikers, (4) des Analytikers, wobei die algebraischen Symbole für den Herrensignifikanten, für die „Batterie der Signifikanten“, d.h. des Wissens, für das Subjekt und für das Objekt (der Mehrlust) in Vierteldrehungen auf den Positionen des Agens, der Wahrheit, des anderen und der Produktion angeordnet werden.

Lacan beginnt mit der Erklärung, er habe gemeint, dieses Seminar „Die Psychoanalyse verkehrt herum“ betiteln zu müssen, denn es gehe „um eine Wiederaufnahme […] des freudschen Projekts verkehrt herum/von der Kehrseite her“ (S. 9), um den Versuch, „die Psychoanalyse anders herum/von hinten her [à l’envers] zu nehmen“ (S. 16). Was Lacan hierbei einleitend (voraus-)setzt, ist das Verhältnis des Wissens zum Genießen, zum Begehren als Wissbegierde und die Herr/Knecht-Dialektik Hegels. Über Aspekte der Hysterisierung des Diskurses, einer Erörterung der Wahrheit als – ungewusstes – Wissen, der Wiederholung als „Identifizierung des Genießens“ (S. 55) kommt Lacan mit den Verschiebungen der Positionen dazu, „den Drehwurm“ dieser diskursiven Plätze als Möglichkeit zu erörtern, „auf die Kehrseite überzuwechseln“ und zugleich lapidar einzuwerfen: „Die Kehrseite erklärt keine Vorderseite“ (S. 67). In der Version von Schmitz (Lacan, 1997, S. 61) wird deutlicher, worum es geht: „Die Kehrseite erklärt keinen Ort. Worum es geht, das ist eine Rahmen-, eine Text-Beziehung“, d.h. die sprachliche Textur der Diskurse. Wenn er dann „zu demonstrieren“ sucht, „was eine Kehrseite ist“, formuliert er laut Gondek: „Envers [Kehrseite] ist in Assonanz mit vérité [Wahrheit]“ (S. 68). Die Alternativübersetzung lautet: „Envers klingt an vérité an“ (Lacan, 1997, S. 62). Wahrheit sei, so Lacan, ein Mittel zum Genießen.

Dies lässt sich mit Wittgenstein auf Funktionen des Begehrens, des Mangels, der Wahrheit untersuchen, mit de Sade hinsichtlich des Mehrgenießens diskutieren, um dann „die Position der Wahrheit mit Blick auf das Genießen als geschwisterlich“ zu bezeichnen (S. 86). Die Thematik kan über Freud und Marx, über Masters & Johnson als interdependente Faktoren des Wissens, der Wahrheit, der Wiederholung, weiter des Schmerzes und der Unlust als Formen des Genießens bis hin zu jener Geschlechterdifferenz verfolgt werden, die „in breite[m] gesellschaftliche[m] Einverständnis […] in Sexualisierung der organischen Differenz invertiert“ wird (S. 99/100).

Spräche man von der Kehrseite der Psychoanalyse, stelle sich die Frage nach deren Platz im Politischen und sei dies „unter dem Titel des Diskurses des Herrn“ (S. 109) zu erörtern. Um ihn als kastrierten Herrn, um „die Beziehung des Kapitalismus zur Funktion des Herrn“ (S. 124), um den allenfalls „fernsten Bezug“ der Position des Herrn zur Vaterfunktion geht es, nämlich darum „dass der Vater, sobald er in das Feld des Diskurses des Herrn eintritt, […] von Beginn an kastriert ist“ (S. 128). Anders formuliert: „Daraus, dass die Wahrheit des Diskurses des Herrn maskiert ist, erhält die Analyse ihre Wichtigkeit“ (S. 129). Mehr noch: Um zu verstehen, „was mit dem Wissen auf dem Platz der Wahrheit im Diskurs des Analytikers geschieht“, müsse man mitnichten darauf warten, dass und wie sich der Diskurs des Herrn in „seiner kuriosen Kopulation mit der Wissenschaft“ im (5) Diskurs des Kapitalisten zu kulminieren (S. 139/140). Vielmehr gehe es um eine Auseinandersetzung mit dem Feld, mit der Struktur der von Lévi-Strauss durchgearbeiteten Mythen, das zwar „das Feld der Stussrednerei“, aber damit auch die Wahrheit sei (S. 141). Dieses Feld der Mytheme sei nicht nur die – eine Rückkehr zu Freud rechtfertigende – Arbeit über Totem und Tabu, sondern beträfe auch „diese frohe Botschaft“ Nietzsches, „dass Gott tot sei“ (S. 152) und die sich daraus ergebenden Irrtümer, Mythen und Paradoxien. [1] Unter der Überschrift einer „unerbittlichen Unwissenheit“ diskutiert Lacan die Auswirkungen dieser Ex-sistenz Gottes und bestreitet das Recht, dies zu negieren: „Warum nicht? Schlichtweg, weil es Jahwe gab, und weil ein gewisser Diskurs gestiftet wurde, den ich dieses Jahr als die Kehrseite des psychoanalytischen Diskurses abzuheben versuche, nämlich der Diskurs des Herrn, geau deswegen wissen wir nichts mehr davon“ (S. 175).

Die Auseinandersetzung mit einer „selbstgeschaffenen Mitwisserschaft“ fordere eine Auseinandersetzung jedes Einzelnen mit der „Clownerie“ mancher Veröffentlichung, mit der schamlosen „Niedertracht“ manchen Anspruchs auf Wahrheit im Wissen. Denn „wenn es das ist, die Kehrseite der Psychoanalyse, ist das für uns sehr wenig. Ich antworte Ihnen – Sie werden mehr als genug davon haben. […] Diese abgestandene Luft, welche die Ihre ist, Sie werden sehen, wie das bei jedem Schritt gegen eine enorme Scham zu leben stößt. Das ist es, das, was die Psychoanalyse entdeckt. Mit ein wenig Ernsthaftigkeit werden Sie erkennen, dass diese Scham dadurch gerechtfertigt wird, dass man sich nicht zu Tode schämt, das heißt dass Sie mit allen Ihren Kräften einen Diskurs des pervertierten Herrn aufrechterhalten – das ist der universitäre Diskurs. Rhegeln Sie’s, möchte ich behaupten“ (S. 240). Dieser letzte Neologismus „Rhegeln Sie‘s“, im französischen Originals «rhégélez-vous», von Schmitz (Lacan, 1997, S. 195) alternativ mit „Hegelisieren Sie sich wieder“ übersetzt, ist nicht nur Verweis auf einen anempfohlenen Rekurs „zu diesem irrsinnigen Pamphlet der Phänomenologie des Geistes“ von Hegel (S. 240), sondern – wie Schmitz vermerkt – zugleich an «se régaler» = es sich schmecken lassen (genießen also) sowie an «régler» = regeln,ordnen, einrichten erinnernde Wortbildung (Lacan, 1997, S. 195 Fn 310).

Wie diese Selbstregulierung in praxi (nicht) stattfindet, dass den Macht/Ohnmacht- bzw. Herr/Knecht-Dialektiken nicht zu entkommen ist, führen protestierende Studenten – und mit Ihnen der improvisierende Lacan – im letzten Kapitel quasi life vor. Der Tenor des Protests ist emotional, persönlich, provokant, wie folgender Zwischenruf dokumentiert: „Lacan, wir warten seit einer Stunde auf das, was Du uns durch die Blume ankündigst, die Kritik der Psychoanlyse. Deshalb schweigst Du, weil das da auch Deine Selbstkritik wäre“ (S. 261). Was eine Zeit später folgt, ist jene – immer wieder stereotyp und dekontextualisiert zitierte – Stehgreifsequenz, in der Lacan zu erläutern versucht, „dass das revolutionäre Beteben nur eine Chance hat, nämlich imme beim Diskurs des Herrn zu enden. Es ist das, was die Erfahrung bewiesen hat. Das, wonach Sie als Revolutionäre streben, das ist ein Herr. Sie werden ihn haben“ (S. 271).

Diskussion

Dieses Seminar stellt eine wesentlichen Beitrag Lacans inder Entwicklung seiner theoretischen Überlegungen zur sozialen Funktion und zum erkenntnistheoretischen Option von Psychoanalyse zur Verfügung. Indem die Kehrseite mit Konnotationen des Kehrichts/Kehraus assoziiert ist (Pieper & Wirtz, 2014, 11), bestimmt dies Ziel und Funktion psychoanalytischer Theorie und Praxis: Diesseits wie jenseits von Psychotherapie oder ‚Kur‘ dient sie dazu, Wahrheit zu artikulieren. Insofern war für LeserInnen ohne umfassende Französischkenntnisse diese deutschsprachige Ausgabe überfällig. Denn besondere Aktualität haben die nun über 50 Jahre alten Diskursanalysen angesichts virulenter gesellschaftspolitischer Selbstbestimmungsansprüche, Desinformationskampagnen, Manipulationsmythen und Klimaproteste weiterhin. Um so bedauerlicher ist nicht nur die Beschneidung der mehr als zeitpolitisch interessanten Stehgreifreden Lacans durch Miller als willkürlich agierenden Verwalter des geistigen Lacanerbes, sondern auch das Weglassen des in der französischen Ausgabe immerhin als Titelbild fungierenden Pressephotos[3]: Es zeigt Daniel Cohn-Bendit («Dany-le-Rouge») in der Konfrontation mit der paramilitärischen Polizei CRS («Compagnies Républicaines de Sécurité») und macht jenseits von – oft ‚wahren‘ – Klischees darauf aufmerksam, dass unter dem Pflaster der Strand liegt. Diese Kehr- bzw. Rückseite der Verhältnisse wenigstens plakativ zu illustrieren, verpasst die pseudoneutral gemusterte, sprich, nichtssagend neutralisierte Standardausstattung der vorliegenden Ausgabe definitiv.

Auch wenn Interessierte sich besser vermittels anderer Sammelarbeiten – wie der weiterhin aktuellen Einführung durch Widmer (1990) – über System und Inhalte lacanschen Denkens zu informieren suchen sollten, bedarf eine solche Übertragung ins Deutsche besonderer Aufmerksamkeit. Denn es gehe darum, formuliert Lacan selbst, „etwas im eigentlichen Sinne absolut Unerhörtes verständlich machen zu müssen“, zumal „zwischen dem, was unter Umständen Übersetzung von dem ist, was ich aussage, und dem, was ich eigentlich gesagt habe, ein Unterschied gemacht werden muss“ (S. 47). Mithin fordert Lacan (1969, S. 220) ein, „wesentlich“ sei „eine korrekte Übersetzung“, wie er „dies in den vergangenen Jahren mehrfach betont habe“. Dabei sei die Forderung von Laplanche & Pontalis (1967), man müsse Freud – oder hier Lacan – „kennen, bevor man ihn übersetzt“, paradox, mithin „unweigerlich“ eine „Dummheit“: Erst „der Versuch, ihn zu übersetzen, [sei] ein sich sicherlich als Vorbedingung aufdrängender Weg für jeden Anspruch, ihn zu kennen“ (Lacan, 1967, S. 110). Das Übersetzen selbst sei – auch wenn er mehrfach festgestellt habe, „dass es keine Metasprache gibt“ – als das Sprechen über die eine in einer anderen Sprache eben dies: „Was sollte ‚Metasprache’ besagen, wenn nicht Übersetzung?“ (Lacan, 1977a, S. 78). Solch scheinbaren Widerspruch löst Lacan im vorliegenden Seminar XVII auf: „Ich behaupte immer, dass es keine Metasprache gibt. Alles, von dem man glauben kann, dass es zur Ordnung einer Erforschung des Meta in der Sprache gehört, ist einfach immer nur eine Frage, die das [eben auch dem Übersetzen zugrunde liegende] Lesen betrifft“ (S. 250). Was dieses Übersetzen selbst betreffe, sei „nicht ganz einfach“ aber unverkennbar: „Man muss metasprechen“ (Lacan, 1977b, S. 5). Und dies impliziere – wie Lacan a.a.O. in einem homophonen Wortspiel von «langage» und «l’en-gage» [2] zuspitzt – den Gegenüber derart zu involvieren, den verbürgten Inhalt so zu verpfänden, dass es „das Unbewusste zum Verstummen bringt“ (Lacan, 1973, S. 539).

Was diesen Aspekt des Seminarbandes betrifft, hat der lacanerfahrene Übersetzer Gondek dessen sprachliche Eigenheiten – wie oben am (‚Hegel‘ und ‚Regeln‘ konfundierenden) Wortspiel „Rhegeln aufgezeigt – nicht nur angemessen erfasst und wiedergegeben, sondern auch stimmig und kreativ übertragen. Andererseits mutet er – siehe oben – ohne Not den Lesern zu, Begriffe „in Assonanz“ zueinander zu erkennen, anstatt das ursprünglich lateinische assonare mit ‚anklingen‘ wiederzugeben. Warum dabei die von Lacan „mit Bedacht Vier Impromptus genannt[en]“ Veranstaltungen, denen dieser „einen humoristischen Titel gab“ (S. 7), nicht als ‚Improvisationstheater‘ oder ‚Stehgreifreden‘, sondern bei Gondek weiter unter dem generell unvertrauten Musikgattungsbegriff „Impromptu“ firmieren, bleibt nicht nachvollziehbar. Denn nicht nur dem Autor Lacan und dessen Redetext ist die Übersetzung verpflichtet, sondern eben auch Leserinnen und Lesern. In früheren Übersetzungen, so der Seminare IV (2003), V (2006), VIII (2008), gab es Anmerkungen/Nachbemerkungen Gondeks; in der vorliegenden Übersetzung des Seminars XVII wird darauf verzichtet, adressiert sich der Übersetzer nicht (mehr) an die Leserschaft.

Was resultiert, ist die Empfehlung des Rezensenten,

  • diesen Seminartext, da Miller der von Lacan beauftragte Textbearbeiter ist, in der hier publizierten Fassung als Standard anzuerkennen und – anders geht es nicht – durchzuarbeiten,
  • hinzu (wegen des vollständigeren Transkripts wie aufgrund textkritischer Übertragungsvarianten) durch eine parallele Lektüre der Arbeitsübersetzung von Schmitz (Lacan, 1997) zu komplettieren.

Fazit

Das nach über 50 Jahren nun in deutscher Übertragung vorliegende XVII. Seminar Lacans stellt dessen Herleitung, Begründung und Dialektisierung der Diskurse (1) des Herrn, (2) der Universität, (3) des Hysterikers, (4) des Analytikers, (5) des Kapitalisten zur Verfügung. Diesseits wie jenseits von Behandlung fungiert Psychoanalyse als Artikulation von Wahrheit: Kehr- bzw. Rückseite ist ihr subversives, sowohl durch die – politische – Ordnung bestimmtes als auch dieselbe Ordnung hinterfragendes Potenzial.

Literatur

Kobbé, U. 2023. ogottogott… Des gebarrten Anderen Mangel: Lacan exploriert Gott. Kompilierte Exzerpte, deutschsprachige Übertragung, paradigmatische Adaptationen. DOI: 10.13140/RG.2.2.31581.69607. Online-Publ.: https://www.researchgate.net/publication/367392353.

Lacan, J. 1967. Séminaire XIV: Logique du fantasme. Leçon 13 du 01 Mars 1967 (S. 110–116). Online-Publ.: http://staferla.free.fr/S14/S14.htm.

Lacan, J. 1969. Les deux versants de la sublimation. Lacan, J. 2006. Le Séminaire, livre XVI: D’un Autre à l’autre (S. 217–233). Paris: Seuil.

Lacan, J. 1973. Télévision. Lacan, J. 2001. Autres écrits (509-545). Paris: Seuil.

Lacan, J. 1977a. Séminaire XXIV: L’insu que sait de l’une-bévue s’aile à mourre. Leçon 12 du 17 Mai 1977 (S. 77–80). Online-Publ.: http://staferla.free.fr/S24/S24.htm.

Lacan, J. 1977b. Séminaire XXV: Le moment de conclure. Leçon 1 du 15 Novembre 1977 (S. 4–7). Online-Publ.: http://staferla.free.fr/S25/S25.htm.

Lacan, J. (Übers. G. Schmitz). 1997. Das Seminar, Buch XVII: Die Kehrseite der Psychoanalyse. Nichtautorisierte Arbeitsübersetzung. Online-Publ.: https://de.scribd.com/doc/290452336.

Laplanche, J.& Pontalis, J.B. 1967. Connaître Freud avant de le traduire. Le Monde, n° 6884 (01.03.1967), S. viii.

Pieper, N. & Wirtz, B. (Hrsg.). 2014. Philosophische Kehrseiten. Eine andere Einleitung in die Philosophie. Freiburg, München: Alber.

Widmer, P. 1990. Subversion des Begehrens. Jacques Lacan oder Die zweite Revolution der Psychoanalyse. Frankfurt am Main: Fischer.


[1] Im Detail siehe die separate Lacan-Exegese (Kobbé, 2023).

[2] «langage» = Sprache; «l’en-gage» von «en gage» = verpfändet, «engage» = verpflichtet, engagiert, eingesetzt.

[3] Siehe: http://classes.bnf.fr/portrait/grande/phn6.htm.

Rezension von
Dr. Ulrich Kobbé
Klinischer und Rechtspsychologe, forensischer Psychotherapeut, Supervisor und Gutachter
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Zitiervorschlag
Ulrich Kobbé. Rezension vom 16.05.2023 zu: Jacques Lacan, Jacques-Alain Miller, Hans-Dieter Gondek (Hrsg.): Die Kehrseite der Psychoanalyse. Das Seminar, Buch XVII (1969-1970). Turia + Kant (Wien) 2023. ISBN 978-3-98514-073-2. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30629.php, Datum des Zugriffs 11.06.2023.


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