Franz Herrmann: Intuition und Improvisation in der Praxis der Sozialen Arbeit
Rezensiert von Prof. Dr. René Börrnert, 17.10.2023

Franz Herrmann: Intuition und Improvisation in der Praxis der Sozialen Arbeit. Verlag W. Kohlhammer (Stuttgart) 2023. 116 Seiten. ISBN 978-3-17-042170-7. 19,00 EUR.
Thema
Professionelles Handeln in der Sozialen Arbeit wird in der Fachliteratur als ein reflektiertes Vorgehen beschrieben. Was ist aber, wenn die Fachkraft spontan reagieren muss. Während beim erstgenannten Vorgehen ein gewisser Abstand zur Situation gewonnen werden kann, bleibt im zweiten Fall dafür oft keine Zeit oder kein Raum. Insofern stellt das Fachkräfte vor Herausforderungen, die sie entweder routiniert oder mit einem gewissen Maß an „gesundem Menschenverstand“ lösen müssen. Ob und wie das gelingen kann und was es dafür braucht, ist bislang wenig in der Fachliteratur thematisiert.
Das vorliegende Buch widmet sich nun der Problematik und beschreibt die Kompetenzen Intuition und Improvisation für situativ-spontanes Handeln und wie sich diese sich gegebenenfalls entwickeln lassen. Dabei konzentriert sich der Autor auf theoretische Aspekte, greift aber zur Veranschaulichung auch auf Fallbeispiele und Aussagen von Praktiker:innen zurück.
Autor und Entstehungshintergrund
Prof Dr. Franz Herrmann lehrt an der Hochschule Esslingen mit den Schwerpunkten Jugendhilfe, Sozialplanung, Praxisforschung und Qualitätsentwicklung.
Das Buch erscheint in der Reihe „Soziale Arbeit – kompakt und direkt“, die auf Studierende ebenso wie auf Berufseinsteiger:innen und Praktiker:innen ausgerichtet ist, die autodidaktisch oder in Fortbildungen Anschluss an den aktuellen wissenschaftlichen Diskurs halten wollen.
Aufbau und Inhalt
Nach einer Einleitung baut Herrmann seine Ausführungen in sieben Kapiteln aus, die sich folgendermaßen nachzeichnen lassen.
Teil 1 _ Professionelles Handeln im Spannungsfeld von Wissen, Können und begrenzter Rationalität: Die Unterschiedlichkeit in der Logik von Wissenschaft als Erkenntnis- und Reflexionssystem (Disziplin) und Praxis als System praktischen Handelns (Profession) wird am Anfang klar beschrieben, wobei sich der Autor auf den Ansatz der „reflexiven Professionalität“ von Dewe/Otto bezieht. Anschließend wird die Bedeutung von Organisationen sowie von kollegialer Zusammenarbeit („Ko-Produktion sozialer Dienstleistungen“) für professionales Handelns erläutert, wobei das „Prinzip der begrenzten Rationalität und Handlungskontrolle“ in den Blick gerät.
Teil 2 _ Intuition und Improvisation als zentrale Begriffe zur Analyse situativen Handelns: Während Intuition als Wahrnehmungsform (nach innen und nach außen) zu sehen ist, stellt Improvisation eine entsprechende spontane, nicht geplante Handlungsform dar. Herrmann ruft hier das Gleichnis einer Jazzmusik-Session auf, um diese Art situativ-spontaner Reflexion zu beschreiben.
Teil 3 _ Intuition als Phänomen in Wissenschaft und Praxis Sozialer Arbeit: Für die theoretische Erklärung von Intuition werden hier die Bezugsdisziplinen der Sozialen Arbeiten herangezogen. Vorgestellt wird Intuition als „gefühltes Wissen“, als „Resonanzphänomen zwischen Menschen“ und als „unbewusste Form des Erkenntnisgewinns“. Praxiserfahrungen von Fachkräften ergänzen auch hier die Ausführungen. So schildert einer der Befragten „intuitiv entstehende Gefühle im Körper“ als Anlässe für bestimmtes Verhalten in dem Sinne: ‚Ich glaube, jetzt wäre es gut, das und das zu tun und das mal lieber zu lassen‘ (47). Aus diesem Theorie-Praxis-Kontext heraus erörtert Herrmann dann geschulte und reflektierte Intuition als fachliche Ressource in der Sozialen Arbeit.
Teil 4 _ Situatives Handeln als Improvisation: Das zumeist dem künstlerischen Bereich zugeordnete improvisierte Handeln wird hier als allgemeiner menschlicher Handlungsmodus im Alltag und Beruf konzipiert. Anschließend diskutiert Herrmann Intuition als Element professionellen Handelns im Kontext Sozialer Arbeit. Bestandteile sind u.a. organisationale Strukturen und Regeln, die als Orientierungspunkte und Ressourcen für das Handeln der Fachkraft dienen samt der zur Verfügung stehenden Handlungsspielräume. Das sind „zum einen diejenigen, die ihr die Organisation zugesteht, zum anderen diejenigen, die die Fachkraft situativ erkennt und nutzt“ (65). Entsprechend befragte Fachkräfte beschreiben weitere Faktoren und Situationen, die Improvisationen bedingen und verlangen, z.B. Notfall- und Krisensituationen.
Teil 5 _ „Der Fall steht nicht im Buch“ – Reflexive Wissensverarbeitung im situativen Handeln: Wie wird das Wissen von Fachkräften für die situativ-spontane Reflexion (vgl. Kapitel 3) genutzt? Nach der Erläuterung von vier relevanten Wissensformen (situatives, theoretisches, prozedurales, köperbezogenes) steht die Beantwortung dieser Frage im Fokus. Weil die jeweiligen Fallsituationen vorab nicht bestimmbar sind, können auch keine Pläne für ein konkretes Handeln gemacht werden. Hermann verdeutlicht, wie Fachkräfte dennoch agieren können. Er bezieht sich hierbei auf ein Modell von D.A. Schön, der drei Prozesse reflexiver Wissensgewinnung/​-verarbeitung formulierte: (1) „Knowing-in-action“, (2) „Reflection-in-action“ und (3) „Reflection-on-action“.
Teil 6 _ Die Entwicklung situativer Handlungskompetenzen im beruflichen Alltag: Die Grundfrage dieses Kapitels lautet: Wie entwickelt sich situative Handlungskompetenz im beruflichen Alltag? In Zusammenführung des Vierstufen-Modells von Stuart und Hubert Dreyfuß und empirischen Praxisschilderungen wird diese Frage beantwortet. Intuition ist hier „eine Form von Verstehen, die sich mühelos einstellt, wenn eine aktuelle Situation vergangenen Ereignissen ähnelt. Intuition und logisches Denken sind dabei keine Gegensätze: Es geht um eine von Intuition geleitete Praxis“ (103).
Teil 7 _ Weiterführende Überlegungen: Schließlich werden aus den vorherigen Schilderungen Anregungen für soziale Einrichtungen zur Gestaltung von Einarbeitungsmodellen und für Hochschulen zur Erweiterung von Formen und Settings für erfahrungsbasiertes Lernen entwickelt.
Diskussion
Was tun, wenn in der Kita eine Mutti die Fachkraft anschreit oder sich in der Wohngruppe der pubertierende Jugendliche aus Frust in deren Oberschenkel festbeißt? In beiden Fällen sind der Fachkraft die Hände insofern gebunden, als dass sie nicht so reagieren kann und darf, wie sie es im privaten Kontext tun würde. Also reagiert jede:r anders: Einige reagieren „auf Augenhöhe“, andere reagieren über und noch andere sind so schockiert, dass sie nach solchen Erlebnissen dauerhaft leiden (vgl. Börrnert 2023).
Neben der Ausbildung von persönlichen Kompetenzen, wie Mut, Entscheidungskraft oder Ambiguitäts- und Frustrationstoleranz braucht es also immer mehr die Vorbereitung auf unerwartete oder ungewisse Situationen. Aber wie können wir als Dozierende auf solche Situationen vorbereiten? Üblicherweise sind Fallbeispiele eine gute Form, Verhaltensweisen zu reflektieren und durchzusprechen. Neben dem Vorteil der illustrativen differenzierten Darstellung haben diese aber immer auch den Nachteil, dass sie ein Übermaß an Wissen vermitteln, was in der reellen Situation (noch) gar nicht vorhanden ist. Die Diskussion solcher Fälle zeigt dann jedoch eines: Alle Lernenden reagieren in den Situationen anders, weil sie auf unterschiedliche Weise ihr Wissen (Theorie, Erfahrung), ihr Können (Erkennen, Nachfragen) und ihre Haltung (Moral) in das Gespräch einbringen. Bei der Auseinandersetzung mit solchen Fallbeispielen, die sich dieser Trias nach gut ordnen und „professionelles Handeln“ klar benennen lassen, hat aber einen blinden Fleck: die spontane Situation bzw. das intuitive Verhalten. Das lässt sich schwer über solche Fälle rekonstruieren, weil ich immer schon auf Abstand und zudem unter Beobachtung des Dozierenden und der Gruppe bin.
Herrmann hat somit ein Thema in den Blick genommen, was längst der Thematisierung bedarf. Üblicherweise klären Autor:innen dieses Manko über die Ausbildung einer entsprechenden professionellen Grundhaltung, über Beziehungsstruktur oder Vertrauen. Doch reicht dieser Rahmen in der gegenwärtig immer komplexer werdenden Praxis oft nicht mehr aus. Das zeigt der Autor, indem er Expert:innen zu Wort kommen lässt. Sie ergänzen auf inhaltliche und gut lesbare Weise die theoretischen Ausführungen. Hermann leitet die Kapitel jeweils mit einem Überblick ein und fasst die wichtigsten Informationen am Ende auf den Punkt hin zusammen, um dann zum einen für Studierende und zum anderen für Fachkräfte Übungsfragen zu formulieren. Das alles macht den schmalen Band zu einem lesenswerten und weiterverwendbaren Aus- und Weiterbildungsbuch.
Ein Kernsatz in seinem Buch aber ernüchtert: „Eine plan- und methodisierbare ‚Technologie‘ von Interventionen mit verlässlichen Ziel-Mittel-Verbindungen ist in der Sozialen Arbeit – anders als in technischen Berufen – nicht möglich“ (16). Insofern könnte es Auftrag für nachfolgende Lehrbücher zum Themen- und Problemfeld „Professionelles Handeln“ sein, den im vorliegenden Buch skizzierten Ansatz in alle weiteren Überlegungen mit einzubeziehen.
Fazit
Das Buch ist unbedingt empfehlenswert sowohl für Fachkräfte in der Sozialen Praxis als auch für Studierende entsprechender Fächer.
Zitierte Quellen
Börrnert, R. (2023): Wie kann eine Ausbildung von Sozialen auf den „Praxisschock“ vorbereiten?; in: M. Görtler, G. Taube, N. Thielemann (Hrsg.): Soziale Arbeit und Professionalität. Reflexionen zwischen Theorie, Lehre und Praxis, Verlag Barbara Budrich (Opladen) 2023, S. 171-182.
Rezension von
Prof. Dr. René Börrnert
Fachhochschule des Mittelstands (Rostock)
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Zitiervorschlag
René Börrnert. Rezension vom 17.10.2023 zu:
Franz Herrmann: Intuition und Improvisation in der Praxis der Sozialen Arbeit. Verlag W. Kohlhammer
(Stuttgart) 2023.
ISBN 978-3-17-042170-7.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30631.php, Datum des Zugriffs 11.12.2023.
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