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Gabriele Rosenthal: Erlebte und erzählte Lebensgeschichte

Rezensiert von Paula Witzel, 07.11.2024

Cover Gabriele Rosenthal: Erlebte und erzählte Lebensgeschichte ISBN 978-3-593-51853-4

Gabriele Rosenthal: Erlebte und erzählte Lebensgeschichte. Gestalt und Struktur biographischer Selbstbeschreibungen. Campus Verlag (Frankfurt) 2024. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. 278 Seiten. ISBN 978-3-593-51853-4. D: 36,00 EUR, A: 37,10 EUR.

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Autorin

Prof. Dr. Gabriele Rosenthal besitzt die Professur für Qualitative Methoden und ist Inhaberin des Lehrstuhls für Interpretative Sozialforschung am Institut für Methoden und methodologische Grundlagen der Sozialwissenschaften an der Georg-August-Universität Göttingen (Georg-August-Universität Göttingen, 2024). Ihre Arbeit bezieht sich hauptsächlich auf methodische Schwerpunkte „im Bereich der qualitativen Methoden, der Biografie- und Generationenforschung“ sowie Themengebiete der Migration, Ethnizität, soziopolitischen Konflikten, kollektiver Gewalt und Traumabearbeitung, speziell in Regionen des Globalen Südens (Deutsche Gesellschaft für Soziologie, 2024).

Sie befasst sich grundsätzlich mit der Art und Weise von Menschen, ihre individuellen und familiären Erfahrungen in Geschichten darzustellen. Sie untersucht theoretisch- empirisch die Wechselwirkungen zwischen den Erinnerungen, den Erlebnisweisen sowie deren Repräsentationen zu verschiedenen Zeitpunkten der Vergangenheit und Gegenwart und rekonstruiert dadurch die unterschiedlichen biografischen Verläufe. Ein grundlegendes Anliegen ist es, ein Verständnis für die Entwicklung, Reproduktion und Wandlung sozialer Phänomene zu entwickeln, indem sie aktiv versucht, Erklärungen zu finden. Die Publikation ist eine erweiterte Neuauflage ihrer bereits 1995 im Campus Verlag veröffentlichten Habilitation aus dem Jahr 1993. Sie verfügt über eine modifizierte Einleitung sowie ein weiteres Kapitel, um den seit der Erstauflage anhaltenden Einfluss der Figurationssoziologie nach Norbert Elias einzubinden.

Thema

Das Thema des Buches bezieht sich vorrangig auf die Erörterung individueller Beweggründe, theoretisch-empirischer Bestandteile sowie der Erfolgspotenziale ihres Ansatzes einer soziologischen Biografieforschung, den sie unter dem Terminus einer sozialkonstruktivistisch-figurationssoziologischen Biografieforschung deklariert. Die Bedeutsamkeit der prozessualen Dialektik zwischen Erleben, Erinnern und Erzählen stellt einen thematischen Schwerpunkt dar.

Aufbau

Die Publikation umfasst 279 Seiten und ist in sieben Kapitel gegliedert. Ein Vorwort sowie eine Vorbemerkung der Autorin zu der Neuauflage werden der Abfolge der Kapitel vorangestellt. Im einleitenden Kapitel wird die Problemstellung erörtert und die Sinnhaftigkeit einer gestalttheoretischen Betrachtung von Lebensgeschichten debattiert. Das zweite, dritte und vierte Kapitel thematisieren die Gestalthaftigkeit sowohl des Erlebens, der Erinnerung und Erzählung sowie erzählter Lebensgeschichten. Die heilende Wirkung biografischen Erzählens wird im fünften Kapitel behandelt. Methodische Implikationen finden im sechsten Kapitel Erwähnung. Die Aneinanderreihung geht anschließend in das siebte Kapitel über, dass die Konzeption einer sozialkonstruktivistisch-figurationssoziologischen Biografieforschung beschreibt. Der Inhalt schließt mit dem Anhang sowie dem Literaturverzeichnis.

Inhalt

Gabriele Rosenthal erläutert im Vorwort ihrer Neuauflage die Grundstruktur sowie die Leitmotive ihrer Forschungsarbeiten im Hinblick auf die Untersuchung dialektischer Verhältnisse des Erzählens und Erlebens in Vergangenheit und Gegenwart. Sie skizziert den Verlauf und Wandlungsprozess ihrer Forschungsorientierung und konkretisiert Einflussfaktoren und Modifikationen ihrer Forschung zugunsten einer stärkeren Fokussierung der Verflechtungszusammenhänge zwischen Individuen, Kollektiven sowie den wandelnden Machtbalancen und -ungleichheiten. Zentrale Personen und deren Einflüsse werden in der Vorbemerkung gewürdigt.

1. Kapitel: Einleitung

Gabriele Rosenthal betont im einleitenden Kapitel die Bedeutsamkeit und Potenziale biografischer Forschung für das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft. Sie übt Kritik an der bestehenden dualistischen Konzeption der Sozialforschung und der unzureichenden Berücksichtigung der Wechselwirkung aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Gründe für eine gestalttheoretische Betrachtungsweise von Lebensgeschichten werden ausgeführt.

2. Kapitel: Zur Gestalthaftigkeit des Erlebens

Im zweiten Kapitel bezieht sich die Autorin auf die Darstellungen, die sich der Wahrnehmung von Menschen präsentieren. Dazu bezieht sie sich auf Gegenstände der materiellen Welt sowie (alltäglicher) sozialer Prozesse. Die Autorin verweist aus einer gestalttheoretischen Perspektive auf Ereignisse und Erlebnisse, die in Abhängigkeit an verschiedenste Einflussfaktoren individuell wahrgenommen und erinnert werden und thematisiert die Relevanz des Aktes der Zuwendung zum jeweiligen Gegenstand. Die formale Organisation des Dargebotenen wird differenziert nach der Art und Weise, wie sich die Organisationsstruktur und deren Bestandteile aus Themen, Feldern und Rändern zusammensetzen, durch Lernprozesse beständig variieren und sich dynamisch (weiter-) entwickeln. Die thematische Feldanalyse einer Lebenserzählung wird praktisch veranschaulicht.

3. Kapitel: Zur Gestalthaftigkeit von Erinnerung und Erzählung

Im dritten Kapitel erörtert Gabriele Rosenthal die Gestalthaftigkeit von Erinnerung und Erzählung. Sie bezieht sich darin auf ein Kontinuum und Verhältnis aus Erlebnis und Erinnerung. Sie wendet sich der Annahme der Konstanz entgegen und plädiert dazu, dass die stetigen Reproduktionsprozesse der Menschen, die Erinnerungen kontinuierlich verzerren und modifizieren. Die Beziehung zwischen Erinnerung und Erzählung wird von ihr ebenfalls aufgegriffen. Darin erwähnt sie den Einflussfaktor sozialer Kommunikation auf die Ausgestaltung der erzählerischen Tätigkeit.

4. Kapitel: Zur Gestalt erlebter Lebensgeschichten

Gabriele Rosenthal widmet sich im vierten Kapitel der Gestalt der erzählten Lebensgeschichte. Dazu werden die Gestaltungsvoraussetzungen in Bezug auf erlernte Muster, kognitive Kompetenzen, zunehmende gesellschaftliche Erwartungen und Ansprüche, biografische Handlungsspielräume und Lebenswandlungen, sowie kritische Lebensereignisse, thematisiert. Sie betrachtet weiterhin Wendepunkte im Lebenslauf, die als zeitliche Einschnitte, die Konstitution einer erzählten Lebensgeschichte beeinflussen können und differenziert zwischen entwicklungspsychologisch relevanten Wendepunkten, Statusübergängen sowie jenen, die als tiefe Einschnitte erlebt werden. Sie analysiert die formalen Faktoren dieser Wendepunkte unter Einbeziehung persönlicher Hypothesen und veranschaulicht die Interpretationspunkte an einem Beispiel.

5. Kapitel: Die heilende Wirkung biografischen Erzählens

Die Autorin befasst sich im fünften Kapitel mit der heilsamen Wirkung biografischen Erzählens. Sie bezieht sich in der Erörterung auf die Möglichkeit, die erlebte Lebensgeschichte mehrdeutig auszugestalten und den Erzählprozess nach persönlichen Belangen umstrukturieren zu können. Die Wirksamkeit veranschaulicht sie anhand ihres empirischen Materials mit Überlebenden des Holocausts.

6. Kapitel: Methodologische Implikationen

Inhalt des sechsten Kapitels ist die Benennung zentraler Prinzipien der Gesprächsführung, um Erzählende zu der narrativen Arbeit an einer Lebenserzählung anzuregen. Darin inbegriffen ist die Bedeutsamkeit einer günstigen Erzählatmosphäre, die Förderung von Erinnerungsprozessen, Unterstützung zur Thematisierung kritischer Themenbereiche, die Nutzung einer zeitlichen und offenen Erzählaufforderung, die Einnahme einer aktiven und aufmerksamen Haltung des Zuhörens, Formulierung sensibler und erzählfördernder Nachfragen sowie Hilfestellungen, die szenische Erinnerungsprozesse erzeugen. Prinzipien für die Durchführung einer rekonstruktiven Fallanalyse werden ebenfalls ausgeführt. Die Autorin erklärt das Abduktionsverfahren für die Rekonstruktion erlebter und erzählter Lebensgeschichte, die Schritte der Vorgehensweise einer sequenziellen Analyse für die Rekonstruktion der zeitlichen und thematischen Struktur sowie die Notwendigkeit, die Ausgestaltungsweisen der erlebten und erzählten Lebensgeschichte miteinander zu vergleichen.

7. Kapitel: Sozialkonstruktivistisch-figurationssoziologische Biografieforschung

Die Aneinanderreihung der Beiträge mündet in ein Kapitel, welches Gabriele Rosenthal gemeinsam mit Artur Bogner verfasst hat. Es dient der Repräsentation ihres weiterentwickelten Ansatzes einer sozialkonstruktivistisch-figurationssoziologischen Biografieforschung. Das Kapitel beinhaltet die theoretischen Bezüge einer sozialkonstruktivistischen Biografieforschung, eine kritische Stellungnahme zum Trugschluss, Individuen übermäßig zu fokussieren und die herrschenden Machtverhältnisse unzureichend zu berücksichtigen, befürwortende Argumente zur Verknüpfung der sozialkonstruktivistischen und figurationssoziologischen Perspektive sowie die Ableitung methodologischer Konsequenzen für die praktische Arbeit.

Diskussion

Die Aneinanderreihung von Vorwort, Vorbemerkung und Einleitung bietet eine verständliche Hinführung zum Themenkomplex und den nachfolgenden theoretischen sowie praktischen Aspekten. Die Inhalte, speziell deren relationale Gegenüberstellungen, sind in ihrem Hintergrund anspruchsvoll und vielschichtig. Die Autorin begegnet dem Aspekt mit der Einbindung von Abbildungen, Literaturbezügen sowie Praxisbeispielen empirischen Materials, so erklärt sie unter anderem die Fachbegriffe des noematischen Systems anhand eines Vergleichs zwischen einer Architektin und Fensterreinigerin in Bezug darauf, ein Fenster zu betrachten. Ihre Formulierungen zu Abstraktionen sind sorgfältig ausformuliert, um Lesenden das » Mitschwingen « mit ihren Gedanken zwar zu ermöglichen, aber die anspruchsvolle Essenz der Inhalte zugleich jedoch nicht zu reduzieren.

Es ist ersichtlich, dass Gabriele Rosenthal sich nicht auf »die« Konzeption oder »das « soziale Phänomen beschränkt, in einen Zustand der Statik verfällt oder sich auf ihren bereits erzielten Ruhm ausruht. Ihre Positur vermittelt Offenheit, Mut, Flexibilität, Ehrfurcht gegenüber neuen sozialen Phänomenen, Erfahrungen und andersartigen Strängen. Ihre kritische Betrachtungsweise und ungescheute Motivation sowie Fähigkeit zu der respektvollen Thematisierung wissenschaftlicher und gesellschaftlicher Trugschlüsse, Fehlerquellen sowie gesellschaftlicher Machtverhältnisse ist bemerkenswert. Die Zuwendung zu marginalisierten Personengruppen sowie Wertschätzung und Würdigung empirischen Arbeiten und Erkenntnisse junger wissenschaftlicher Nachwuchsgenerationen ergänzt ihre fachliche Größe um eine menschliche Dimension.

Es lässt sich mit Erleichterung festhalten, dass sich Gabriele Rosenthal der internationalen Relevanz und Bedeutsamkeit ihrer Studien und biografie-theoretischen Aufsätze bewusst ist. Es ist nicht auszudenken, wenn Gegenteiliges der Fall wäre und ihre tiefgreifenden, innovativen und bereichernden Überlegungen nicht dem kollektiven Bewusstsein zugänglich gemacht werden würden. Die Neuauflage stellt einen weiteren Profit für die Wissenschaft dar, sowohl konzeptionell als auch personenbezogen.

Fazit

Gabriele Rosenthals Werk zur soziologischen Biografieforschung bietet eine tiefgehende Analyse der Dialektik zwischen Erleben, Erinnern und Erzählen, wobei sie soziale Dynamiken und Machtverhältnisse kritisch beleuchtet. Die Neuauflage verdeutlicht die Relevanz ihrer Forschung für das Verständnis individueller und kollektiver Lebensgeschichten und leistet einen wertvollen Beitrag zur wissenschaftlichen Diskussion. Ihr Ansatz fördert nicht nur das Bewusstsein für marginalisierte Perspektiven, sondern auch die Methodologie der biografischen Forschung.

Literatur

Deutsche Gesellschaft für Soziologie (DGS) (2024) (Hg.). Prof. Dr. Gabriele Rosenthal. Online: https://soziologie.de/gremien/​konzil/​gabriele-rosenthal [20.10.2024].

Georg-August-Universität Göttingen (2024) (Hg.). Personal der Professur für qualitative Methoden. Gabriele Rosenthal. Online: https://www.uni-goettingen.de/de/28238.html [20.10.2024].

Rezension von
Paula Witzel
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Es gibt 3 Rezensionen von Paula Witzel.

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Zitiervorschlag
Paula Witzel. Rezension vom 07.11.2024 zu: Gabriele Rosenthal: Erlebte und erzählte Lebensgeschichte. Gestalt und Struktur biographischer Selbstbeschreibungen. Campus Verlag (Frankfurt) 2024. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. ISBN 978-3-593-51853-4. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30637.php, Datum des Zugriffs 13.12.2024.


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