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Fritz B. Simon: Stalin und der Apparat

Rezensiert von Dr. Wolfgang Rechtien, 09.06.2023

Cover Fritz B. Simon: Stalin und der Apparat ISBN 978-3-8497-0489-6

Fritz B. Simon: Stalin und der Apparat. Die Organisation der Diktatur und die Psyche des Diktators. Carl-Auer Verlag GmbH (Heidelberg) 2023. 262 Seiten. ISBN 978-3-8497-0489-6. D: 34,95 EUR, A: 36,00 EUR.
Reihe: Systemische Horizonte.

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Thema

Das Wiederentstehen autoritärer Gesellschaften rückt die Bedeutung von Persönlichkeiten wie Putin, Trump und Orban in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Simon geht in seinem Buch anhand des Beispiels Stalin der Frage nach, welchen Einfluss einerseits die Psychodynamik eines Menschen auf die Strukturen und Dynamiken des ihn umgebenden sozialen Systems hat, wie andererseits soziale Strukturen und Dynamiken auf die Person und ihre Entwicklung einwirken.

Autor

Fritz B. Simon ist systemischer Organisationsberater, Psychiater und Psychoanalytiker und als Professor für Führung und Organisation an der Universität Witten/​Herdecke tätig.

Aufbau und Inhalt

Das Buch beginnt mit einer Erläuterung der theoretischen Grundlagen des von Simon verwendeten systemtheoretischen Modells: Psychische und soziale Systeme werden als autopoietische Systeme verstanden, die durch ihre inneren Prozesse eine Einheit bilden und sich gegen die Umwelt abgrenzen. Während die Strukturen sozialer Systeme auf Kommunikation beruhen und durch die Spielregeln der Kommunikation charakterisiert und unterschieden werden können, sind psychische Systeme durch Bewusstseinsoperationen (Denken, Fühlen, Wahrnehmen usw.) gekennzeichnet; für seine Analyse greift Simon (trotz zugestandener Bedenken) auf psychoanalytische Konzepte zurück.

Bei der Unterscheidung verschiedener sozialer Systeme orientiert sich Simon an den Entscheidungsprämissen ihrer Mitglieder; beispielhaft verweist er auf die in einer Familie vorwiegende Orientierung an Personen (Kommunikationsorientierung), während sich ein Mitglied des Rechtssystem an Verfahrensregeln (z.B. Gesetzen) orientiert. Diese Entscheidungsprämissen bilden eine der wesentlichen Grundlagen der vorliegenden Analyse.

Um den Aufstieg Stalins verstehbar zu machen, ist eine zunächst eine Betrachtung des kulturellen Kontextes des Zarenreiches und der Sowjetunion notwendig (Kapitel 2), bevor seine persönliche und politische Entwicklung (Kapitel 3 bis 10) ausführlich und detailreich nachvollzogen wird – beginnend mit Kindheit und Jugend (Familiendynamik, Schule, Priesterseminar), über die vorrevolutionäre Zeit (u.a. Untergrundtätigkeit, Gründung der sozialdemokratischen Partei Russlands, Verbannungen und Gefängnisaufenthalt, Stalins Paarbeziehungen und Überlebensstrategien), Revolution und Bürgerkrieg, Machtergreifung und Willkürherrschaft, den „Großen Vaterländische Krieg“ (einschließlich der Beziehung zu Hitler), die Beziehung Stalins zu seinen Söhnen, die Weltpolitik der Nachkriegszeit (Kalter Krieg) und Stalins letzten Jahre. Stalins psychische Strukturen und die sozialen Strukturen in ihrem Zusammenwirken werden im 11. Kapitel beleuchtet.

Simon zieht sowohl zeitgenössische als biografische Quellen heran. Durchgehend nutzt er die eingangs erläuterten Konzept der Systemtheorie und Psychoanalyse für das Verstehen dieser Entwicklungen.

„Wer Putin verstehen will, muss Stalin verstehen“, schreibt Simon im abschließenden Ausblick (S. 252). Es ist die Ko-Operation zwischen dem Herrscher und dem Apparat, der ersteren an die Macht bringt und seine Macht sichert. Putin ist mächtig nicht aufgrund von Kompetenz und Leistung, sondern durch die Prozesse eines unpersönlichen Apparates. „Und es war nicht er, der diesen Apparat geschaffen hat, sondern der Apparat hatte ihn geschaffen“(Simon, S. 255).

Diskussion

Um den Aufstieg Stalins und das Entstehen der Diktatur (eigentlich Wiedererstarken in der Tradition des Zarenreiches) in Russland versteh- und erklärbar zu machen, nutzt Simon drei wesentliche Analyseinstrumente:

  • die Historiographie: die Beschreibung und das Nachvollziehen der sozialen und politischen Entwicklung einschließlich der Biographie Stalins;
  • die systemtheoretische Analyse dieser Dynamiken – mit besonderem Augenmerk auf die diversen persönlichen und sozialen Entscheidungsprämissen;
  • die psychodynamische Analyse der Person Stalins und dessen Fähigkeit, die politischen und sozialen Dynamiken zu erkenne und zu nutzen.

Der Detailreichtum der Analyse mag gelegentlich überhöht erscheinen, trägt aber zu einem fundierten Verstehen bei. Dabei wird deutlich, dass eine (naheliegende?) Pathologisierung des Diktators zu kurz greift. Simon betont, dass es bei den Ergebnissen seiner Untersuchung selbstverständlich um Hypothesen, allerdings um solche mit hoher Wahrscheinlichkeit handelt – und dass sich Parallelen zu aktuellen Entwicklungen zwar anbieten, dass jedoch die jeweils verschiedenen gesellschaftlichen und politischen Traditionen zu beachten sind.

Fazit

Das Buch belegt den Nutzen systemtheoretischer und psychodynamischer Perspektiven für das Entstehen und die Entwicklung autoritärer politischer Strukturen und ist angesichts der aktuellen weltpolitischen Lage zu empfehlen.

Rezension von
Dr. Wolfgang Rechtien
Bis 2009 Vorstandsmitglied und Geschäftsführer des Kurt Lewin Institutes für Psychologie der FernUniversität sowie Ausbildungsleiter für Psychologische Psychotherapie.
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Es gibt 38 Rezensionen von Wolfgang Rechtien.

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Zitiervorschlag
Wolfgang Rechtien. Rezension vom 09.06.2023 zu: Fritz B. Simon: Stalin und der Apparat. Die Organisation der Diktatur und die Psyche des Diktators. Carl-Auer Verlag GmbH (Heidelberg) 2023. ISBN 978-3-8497-0489-6. Reihe: Systemische Horizonte. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30639.php, Datum des Zugriffs 25.01.2025.


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