Suche nach Titel, AutorIn, RezensentIn, Verlag, ISBN/EAN, Schlagwort
socialnet Logo

Senta Brandt: Kritik der Positiven Psychologie

Rezensiert von Prof. Dr. Christian Philipp Nixdorf, 03.09.2024

Cover Senta Brandt: Kritik der Positiven Psychologie ISBN 978-3-8379-3239-3

Senta Brandt: Kritik der Positiven Psychologie. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2023. 270 Seiten. ISBN 978-3-8379-3239-3. D: 36,90 EUR, A: 38,00 EUR.
Reihe: Diskurse der Psychologie.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.
Inhaltsverzeichnis bei der DNB.

Kaufen beim socialnet Buchversand
Kaufen beim Verlag

Autorin

Dr. Senta Brandt ist Psychologin (M. Sc.). Sie promovierte an der Ruhr-Universität Bochum und befindet sich derzeit in Ausbildung zur Psychoanalytikerin.

Thema

In »Kritik der Positiven Psychologie« nimmt die Psychologin Senta Brandt eine umfassende, kritische Auseinandersetzung mit der Positiven Psychologie (PP), einer Strömung in der Psychologie, vor. Die PP stellt das Wohlbefinden und die Förderung positiver Aspekte des menschlichen Lebens in den Vordergrund. Brandt analysiert die Grundlagen, Annahmen und Anwendungen der Disziplin und beleuchtet dabei verschiedene problematische Aspekte. Sie gibt einen Überblick über die Entstehung und die Verbreitung der Positiven Psychologie und zeigt auf, wie diese sich in den letzten Jahrzehnten etablieren konnte. Brandt kritisiert die theoretischen Grundlagen der Positiven Psychologie, indem sie argumentiert, dass die Konzepte oft zu vereinfacht und unkritisch übernommen werden. Sie hinterfragt im Buch, inwieweit die Forschungsergebnisse tatsächlich wissenschaftlich fundiert sind und ob sie ausreichend empirisch untermauert werden. Brandt kritisiert, dass der Druck, ständig glücklich und positiv zu sein (bzw. sein zu sollen), zur Unterdrückung negativer Gefühle führen könne, was nicht nur persönliche, sondern auch gesellschaftliche und politische Implikationen mit sich bringe. Die ideologische Fokussierung individuellen Glücks und Wohlbefindens könne zudem begünstigen, strukturelle und gesellschaftliche Probleme zu ignorieren und die Verantwortung für das persönliche Glück zu subjektivieren. Daher sei eine kritische Auseinandersetzung mit der PP nötig. Senta Brandt liefert diese.

Aufbau und Inhalt

Die 392 Seiten umfassende Publikation ist 2024 im Psychosozial-Verlag erschienen. Es handelt sich dabei gleichzeitig um eine 2023 am Lehrstuhl für Sozialtheorie und Sozialpsychologie der Ruhr-Universität Bochum eingereichte Dissertation. Das Buch umfasst 4 Kapitel mit diversen Unter-Abschnitten und beginnt mit einem Vorwort von Jürgen Kaube, der lobend hervorhebt, dass es sich beim der Publikation um eine aufklärende, psychologiegeschichtliche Erzählung auf Grundlage psychologischen Sachverstandes und analytischen Scharfsinns handele. Dabei böte das Werk die bislang ausführlichste Auseinandersetzung mit der »Positiven Psychologie« im deutschsprachigen Raum.

„Dem Unbehagen mit der Positiven Psychologie auf der Spur“ lautet der Titel des ersten Kapitels. Die Autorin beginnt ihre Ausführungen mit Blick in die Vergangenheit. Sie blickt rund 25 Jahren zurück und legt dar, dass das Phänomen der Positiven Psychologie (im weiteren Textverlauf oft PP abgekürzt) um die Jahrtausendwende die „Bühne“ der psychologischen Fachwelt betreten habe. Positiv konnotierte Begriffe wie »Glück« und »Aufblühen« hätten im Fokus des Phänomens ebenso gestanden wie die Erforschung »positiver Emotionen«, »positiver Charaktereigenschaften« und »positiver Institutionen« (S. 25). Sie selbst habe erstmals im Bachelorstudium von der PP gehört, als diese noch eher eine Art Schattendasein gefristet habe. Das aber hätte sich ein paar Jahr später dann geändert. Die PP habe in kurzer Zeit eine enorme Bekanntheit und Verbreitung erlangt, kritische Stimmen dazu seien indes kaum vernehmbar gewesen, schreibt Brandt.

Die um das Jahr 1998 in den USA entstandene PP sei ein typisch nordamerikanisches Phänomen. Es fänden sich heute nationale und internationale Fachgesellschaften der PP – und seit 2015 gäbe es die Deutsche Gesellschaft für Positiv-Psychologische Forschung. Auch weitere Institutionen in verschiedenen Ländern seien gegründet worden, die alle Beziehungen untereinander pflegten. Zudem verliehen viele der Gesellschaften Preise und Auszeichnungen und veranstalteten regelmäßig Tagungen, Konferenzen und Kongresse (S. 32). Obgleich sie nunmehr auch in Europa verbreitet sei, fände die PP den größten Anklang weiterhin in den USA. Das könne zum einen auf die amerikanische Mentalität zurückgeführt werden, läge aber auch an öffentlichkeitswirksamen Auftritten ihrer Kernvertreter:innen. Der Siegeszug der PP sei umso erstaunlicher, wenn man sich vor Augen halte, dass diese erst seit etwas mehr als 20 Jahren bestehe. Zu fragen sei, „wie ein so junges Phänomen in dieser relativ kurzen Zeitspanne so erfolgreich werden konnte“ (S. 36).

Die gesamten Sozialwissenschaften sind heute stärker auf das sogenannte »Positive« ausgerichtet. Die PP operiere im Modus der Möglichkeiten nach der Prämisse: „Du kannst dich und dein Leben ändern!“ Diese Verheißung sei es, für welche die PP Mittel und Wege bereitstelle Dem freundlichen Versprechen folge aber ein dunkler Schatten, schreibt Brandt, denn wer „die unterstellte Freiheit zur Lebens- und Selbstoptimierung nicht ergreift, ist selbst schuld. Obendrein verfehlt er oder sie damit allgemeine Ziele der Menschheit, die die PP fest im Blick hat“ (S. 44). Die PP vertrete das Bild, dass jeder seines Glückes Schmied sei, auch wenn er manchmal Hilfestellungen brauche. Selbst-Kontrolle, Selbst-Bestimmtheit, Selbst-Wissen, Selbst-Verbesserung und Selbst-Verantwortung stünden im Fokus. Kurzum: Das Selbst als Zentrum der Welt, das es zu stärken gelte.

Das zweite Kapitel ist betitelt mit „Rekonstruktion eines irritierenden Phänomens: die Anfänge der PP“. Die Autorin setzt sich hier zunächst mit dem Leben und Wirken von Autoren auseinander, die die PP maßgeblich geprägt haben: Martin E. P. Seligman, Mihaly Csikszentmihalyi, Raymond D. Fowler und Donald O. Clifton werden genannt, wobei die Auseinandersetzung mit dem Wirken von Seligman mit Abstand den größten Teil einnimmt, da dieser als Begründer der PP gilt. Brandt beschreibt anhand der Zitation diverser seiner Aussagen und Schriftstücke Seligmans Psychologie- und Wissenschaftsverständnis wie auch sein Menschenbild. Zudem zeichnet sie nach, was ihn in seinem Wirken beeinflusst habe und welche Wirkung er auf andere Autor:innen gehabt habe. Ebenso wird aufgezeigt, aus welchen Finanzquellen die PP Unterstützung in Form von Forschungsgeldern, der Finanzierung von Events etc. erhalten habe und weiterhin erhält. Des Weiteren analysiert die Autorin in diesem Kapitel mehrere Originaltexte von Vertreter*innen der PP, um so einen Eindruck von der in der PP verbreiteten Rhetorik und programmatischen Ausrichtung zu vermitteln.

Ausschlaggebend für die Gründung der PP seien gemäß der Schilderungen Seligmans zwei Erlebnisse gewesen: „Das erste sei, wie er sagt, die Langeweile, die er auf einem Präventions-Meeting verspürte: Zu dem Zeitpunkt, als er noch dachte, dass das Thema seiner Präsidentschaft Prävention sein würde, habe er führende WissenschaftlerInnen auf diesem Gebiet zu einem Meeting eingeladen, darunter auch Csikszentmihalyi“ (S. 120). Das zweite Erlebnis, das dieses Problem offenbar gelöst habe, hätte Seligman als seine Erleuchtung bezeichnet. Während des Unkrautjätens habe ihn „seine kürzlich fünf Jahre alt gewordene Tochter Nikki darauf aufmerksam gemacht, dass sie an ihrem fünften Geburtstag den Vorsatz gefasst habe, nicht mehr zu jammern und sich seitdem daran halte. Daher erwarte sie von ihrem Vater, dass auch er aufhöre, ein Miesepeter zu sein“ (S. 121). Diese Erfahrung hätte bei Seligman zur Folge gehabt, dass er erkannt habe, dass er – so seine Selbstproklamation – tatsächlich ein Miesepeter gewesen sei. Zudem habe er seine persönlichen Annahmen über Kindererziehung revidiert und dies gleichsam als allgemeingültige Revision der Psychologie verstanden.

Seligman betrachte die Psychologie als halb leer, konstatiert Brandt (S. 122). „Statt nun seinen pessimistischen Blick, den er ja eigentlich ablegen will, zu reflektieren, hebt er seine individuelle Beobachtung auf ein allgemeines Niveau – ohne kritische Reflexion und sorgfältige Überprüfung seiner »Diagnose«. Statt zu versuchen, ein Phänomen besser zu verstehen und angemessen zu beschreiben, „kennt Seligman die Ursache sofort und hat (daher) auch gleich eine Lösung parat: die andere Seite backen beziehungsweise die Idee einer Positiven Psychologie in die Welt tragen“ (S. 123). Es gäbe denn auch kaum eine Rede oder einen Text von Seligman über die PP, wo nicht davon die Rede sei, dass die Psychologie bisher zu negativ gewesen sei. Diese habe sich zu stark, ja fast ausschließlich, auf die Erforschung und Behandlung von psychischen Störungen konzentriert. Dieses Narrativ werde heute vielfach übernommen und nicht nur von Vertreter:innen der PP rezipiert, schreibt die Autorin (S. 123).

Seligman mache, so kritisiert Brandt, „sein Unbehagen mit der Psychologie nicht an strukturellen – zum Beispiel der allgemeinen (meta-)theoretischen und methodologischen Ausrichtung der nomologischen Psychologie –, sondern an angeblichen inhaltlichen Schwerpunkten und Einseitigkeiten fest“ (ebd.). Seine Geburtsstunde habe die Positive Psychologie dann mit Erscheinen der ersten Sonderausgabe des »American Psychologist« (Vol. 55/1) in Jahr 2000 gehabt. Diese sei mit dem Einleitungsartikel »Positive Psychology: An Introduction« von Seligman und Csikszentmihalyi eröffnet worden und stelle bis heute den wirkmächtigsten Artikel der PP dar, ja gelte als deren »Manifest« (S. 127). Essenzielle Themen der PP seien das (vermeintliche) Ideal des erfüllten Individuums und die aufblühende Gesellschaft. Ihr konkretes Forschungsfeld auf subjektiver Ebene sei das positive Erleben. Wohlbefinden und Zufriedenheit, Hoffnung und Optimismus, Flow und Glück stünden im Fokus.

Auf einer individuellen Ebene gehe es um positive Persönlichkeitseigenschaften wie „die Fähigkeit zur Liebe, Begabung, Mut, zwischenmenschliche Fähigkeiten, ästhetische Sensibilität, Beharrlichkeit, Versöhnlichkeit, Originalität, Zukunftsbewusstsein, Spiritualität, Talent und Weisheit“ (S. 128). Auf überindividueller Ebene gehe es „um zivile Tugenden und positive Institutionen, die das Individuum zu einem besseren Bürger beziehungsweise einer besseren Bürgerin machen: Verantwortung, mitmenschliche Sorge, Altruismus, Höflichkeit, Mäßigung, Toleranz und Arbeitsmoral“ (ebd.). Artikel, die sich thematisch mit subjektivem Wohlbefinden, Optimismus, Zufriedenheit und Weisheit oder mit dem Zusammenhang von intrinsischer Motivation, gesellschaftlicher Entwicklung und Wohlbefinden befassen, seien typisch für die PP. Seligman und Csikszentmihalyi selbst hätten drei Kernthemen der PP ausgemacht. Positive Erfahrungen, positive Persönlichkeit sowie positive Gemeinden und Institutionen (S. 133). Typische Kernfragen der PP seien beispielsweise die folgenden:

  • Wie kann Wohlbefinden kalkuliert werden?
  • Wie kann »Positivität« entwickelt werden?
  • Wie verhält es sich mit der Vererbung und den neuronalen Grundlagen von »Positivität«
  • Wie bzw. wodurch lassen sich »Wohlergehen und Freude unterscheiden?
  • Wie lässt sich kollektives Wohlbefinden erlangen?
  • Wie können Werte zugunsten der Allgemeinheit handlungsleitend werden?
  • Was ist Authentizität und wie ist sie zu erreichen?
  • Wieso gelten negative Emotionen häufig als authentischer als positive?
  • Kann zu viel positive Erfahrung eine fragile und brüchige Persönlichkeit begünstigen?
  • Wie lässt sich Optimismus stärken und Depression verhindern?
  • Ist die Positive Psychologie be- oder vorschreibend?
  • Ist die Welt zu tragisch, um einen weisen Menschen glücklich werden zu lassen?

Summa summarum basiere die ganze Mission der PP „auf dem Versprechen, wissenschaftliche Aussagen zum Positiven zu machen“, hält Brandt fest (S. 138). Um das durchzusetzen, bestehe Seligmans Idee darin, die Wissenschaft der psychischen Störungen auf die positive Seite zu übertragen. „Statt der Vermessung »des Negativen« soll nun eine Vermessung »des Positiven« stattfinden. Das langfristige Ziel sei ein Manual, welches die Stärken und Tugend sowie die Wege ihrer Vermessung beschreibt – ein Un-DSM (Akumal III, 2001, S. 10)“, beschreibt die Autorin das Ansinnen des Begründers der PP. Ein weiteres Ziel von ihm sei gewesen, die Klassifikation mit Entwicklungsprogrammen für Jugendliche zu koordinieren (S. 140). Im Jahr 2004 schließlich sei dann das Un-DSM unter dem Titel »Character Strengths and Virtues: A Handbook and Classification« erschienen, das 24 »character strengths« beinhalte, die sich in sechs Tugenden untergliederten.

Charakterstärken würden hier definiert als psychologische Bestandteile (Prozesse oder Mechanismen), die die Tugenden definieren. Sie „verkörperten die unterschiedlichen Wege, um eine Tugend zu erreichen. Zum Beispiel könne die Tugend der Weisheit durch Stärken wie Kreativität, Neugier, die Liebe zu lernen, und Aufgeschlossenheit erreicht werden. Eine Person würde kaum alle 24 Charakterstärken aufweisen, jedoch müsse sie dies auch nicht“ (S. 151 f.). Die moralische Bewertung einer Person könne laut Seligman gemäß des Stärkenkatalogs der PP erfolgen – und die Frage nach dem guten Leben hänge zentral vom (guten) Charakter einer Person ab. Umweltfaktoren und deren Einflüsse würden außen vor gelassen. „Situative Bedingungen würden ein gutes Leben natürlich beeinflussen, aber das gute Leben erfordere stets auch Wahl- und Willensfreiheit“ – so beschreibt Brandt die Vorstellung Seligmans (S. 152). Die Autorin erklärt, dass der Klassifikationsversuch des Un-DSMs deutlich mache, „wie WissenschaftlerInnen geradezu wild mit althergebrachten Konzepten und Begriffen um sich werfen und jede systematische Analyse (zum Beispiel der Alltagssprache) durch willkürliche Festlegungen kompensieren“ (S. 154).

Im dritten Kapitel, das überschrieben ist mit „Der Diskurs zwischen Humanistischer Psychologie und Positiver Psychologie“, beleuchtet die Autorin den Diskurs zwischen Humanistischer Psychologie und Positiver Psychologie, der in den Kinderjahren der PP eine wichtige Rolle gespielt habe. Bei ihrem Erstauftritt in der Öffentlichkeit habe sich die PP scharf von der Humanistischen Psychologie (HP) abgegrenzt. Ebenso wie die PP sei auch die Humanistische Psychologie einmal angetreten, die Psychologie zu verändern. Langfristig indes sei diesbezüglich eine eher bescheidene Wirkung zu konstatieren. Brandt hebt hervor, im Rahmen ihrer Untersuchung keinen systematischen Vergleich der beiden Psychologien anzustreben. Sie wolle lediglich zu einem groben Verständnis der Begriffe beitragen und auf den allgemeinen gesellschaftlichen Rahmen wachsender Optimierungsbestrebungen eingehen, der mit der HP assoziiert werde.

Die Autorin führt bezugnehmend auf Froh (2004) aus, die HP habe sich von der Philosophie der Phänomenologie und des Existenzialismus beeinflussen lassen. Sie habe sich aufgrund der Ignoranz des Mainstreams gegenüber positiven Phänomenen wie Liebe, Mut und Glück von dieser abgespalten (S. 163). Gleichsam habe sich die humanistische Psychologie auch von der Psychoanalyse wie dem Behaviorismus abgewandt. In der HP werde der Mensch als ein Ganzes betrachtet, das mehr sei als die Summe seiner Teile sei (S. 166). Das Kapitel ist dergestalt strukturiert, dass die Autorin zunächst die Hauptkritikpunkte der PP an der HP darstellt. Im Anschluss daran reflektiert sie den „Schlagabtausch“ zwischen den beiden Psychologien, „der zeigt, wie (wenig) Seligman und Csikszentmihalyi auf die Kritiken eingehen. Darauffolgend werden die oben erwähnten einflussreicheren Reaktionen von VertreterInnen der HP auf die PP im Zeitraum bis 2005 untersucht und ein kurzes Zwischenfazit gezogen“ (S. 167)

Danach geht Brandt auf das Verhältnis der beiden Psychologien ein und legt dar, wie dieses sich im Zeitverlauf aus Sicht der PP verändert habe, was schließlich dazu geführt habe, dass sich Seligman im Jahr 2019 bei den VertreterInnen der HP entschuldigt habe. U. a. hebt die Autorin hervor, dass es keine wertfreie Wissenschaft gäbe. Werte flössen in Forschung ein, was „bei der Aushandlung von »heißen Themen«, wie der Frage nach dem »guten Leben« besonders deutlich“ sei (S. 193). Insgesamt sei der Diskurs, in dem Vertreter:innen der HP ihre Stimme erheben, „geprägt von Affektartikulation, Begriffsverwirrung und Unklarheit bezüglich der Konzepte der PP – aber offenbar auch der eigenen“ (S. 205). Wissenschaftlich innovative Potenziale für eine produktive Kooperation seien eher dürftig und rar, vieles in der Debatte zwischen PP und HP bleibe an der Oberfläche. Präzise komparative Studien oder kritische Analysen der Methodologie und Methodik empirischer Forschungen und ihrer Befunde bildeten eine Ausnahme (ebd.)

Im weiteren Diskursverlauf um die Unterschiede von PP und HP hätte sich bei manchen Vertreter:innen der HP die Überzeugung etabliert, dass die PP lediglich eine HP in neuer Verpackung sei und Wurzeln in der HP habe (S. 210). Ein Unterschied zwischen HP und PP betreffe laut Waterman (2013) „die Frage nach der Willensfreiheit und Autonomie. Während das Individuum in der HP als frei und autonom konzipiert werde und die humanistische Philosophie auch Überlegungen zum Körper-Geist-Problem enthalte, würden in der PP Stellungnahmen zu diesen Themen fehlen (S. 212). Ein weiterer Unterschied zwischen HP und PP betreffe Waterman zufolge die Rolle von Intersubjektivität und Beziehungserfahrungen, die in der HP wichtig seien, in der PP aber nicht. Letztlich zeige sich an der Analyse von Watermans Text, dass sich beide Psychologien auf unterschiedliche Philosophien beriefen.

Das Verhältnis zwischen HP und PP sei nach Csikszentmihalyi, „dass beide denselben Bereich (das Positive) beforschen, sich aber bezüglich der Methodik unterscheiden“ (S. 227). Mit dieser Behauptung weiche er von der Vorstellung Seligmans ab. Peterson und Park (2003) wiederum betonten, „dass das Ziel der PP nicht das Bewerten, sondern das wissenschaftliche Beschreiben und Erklären sei“ (ebd.). Hierin indes komme das reduktionistische und teilweise geradezu naiv positivistische Wirklichkeitsverständnis der PP-VertreterInnen zum Ausdruck – die unbeirrbar von der Gegebenheit einer subjekt- und theorieunabhängigen objektiven Faktenwirklichkeit überzeugt seien. „Vor so einem epistemischen Hintergrund können sie gar nicht erkennen, dass die eigenen impliziten Grundannahmen die Forschungsergebnisse beeinflussen und mitkonstituieren“, schreibt Brandt (S. 228).

Das vierte und letzte Kapitel hat die Autorin mit „Potenzialanalyse: Ist die Mission gelungen?“ als Frage formuliert, auf die sie hier eine ausführliche Antwort gibt. Brandt bescheinigt der PP in diesem Kapitel, nunmehr „volljährig“ zu sein. Sie analysiert die Bilanz, die Seligman von dieser zieht und kommentiert diese kritisch. Zunächst indes beginnt das Kapitel damit, dass die Autorin die wichtigsten Vereine und VertreterInnen der PP in Deutschland vorstellt. Daran anschließend gibt Brand einen Einblick in ausgewählte Vorträge und stellt die Vortragenden und ihr einschlägiges Engagement kurz vor. Sie beendet ihre Darlegungen damit, dass sie nochmals hervorhebt, dass die PP eine enorm einflussreiche Größe in der internationalen Psychologie des 21. Jahrhunderts sei. Sie sei „zugleich eine der stärksten Kräfte im Feld der Normierung und Optimierung des Menschen“ und bediene sich „psychologischer Erkenntnisse, Methoden und Techniken. Das verlangt die Aufmerksamkeit nicht zuletzt der wissenschaftlichen Psychologie selbst“ (S. 319).

Es sei noch nie harmlos gewesen, wenn Wissenschaftler:innen erklärten, einen neuen Menschen schaffen zu wollen. Ihre Bedenken daran habe sie, schildert Brandt, im Buch ausführlich dargelegt, indem sie die sich selbst »positiv« nennenden Psychologie und ihre Weltanschauung zu rekonstruieren versucht habe. „Was ich in diesen wissenschaftsgeschichtlichen, -soziologischen sowie sozial- und kulturpsychologischen Untersuchungen habe herausfinden können, dürfte vielen PsychologInnen – und auch anderen WissenschaftlerInnen – nicht oder allenfalls ansatzweise bekannt sein“ (S. 320). Die Kenntnisnahme dessen sei aber notwendig, um sich ein umfassendes Bild von der PP zu machen und ein begründetes Urteil über sie treffen zu können. Als Fazit schließlich formuliert die Autorin, dass die PP ein historisches, gesellschaftliches und kulturelles Phänomen sei, dem ein Menschenbild bzw. eine Annahme vom Menschen (oder auch ein Postulat dessen) zugrunde liege, das als allgemeine Natur der Gattung aufzufassen keiner anthropologischen Erkenntnis oder sonstigem wissenschaftlichen Wissen zugrunde liege, sondern schlichtweg Ideologie. Diese habe sie aufzuzeigen versucht.

Diskussion

Was lässt sich zum hier vorgestellt Werk nun festhalten? Wie liest es sich? Wer ist die Zielgruppe und wie ist es im Fachdiskurs zu verorten? Der Rezensent kann seiner subjektiven Wahrnehmung nach darauf folgende Antwort geben:

Es ist sicher nicht falsch, zu postulieren, dass die Positive Psychologie wie kaum eine andere Strömung der Psychologie heutzutage auch außerhalb der Wissenschaft im Mainstream angekommen ist. Unzählige Lifestyle-Ratgeber und populärwissenschaftliche »Feelgood«-Formate zeigen das täglich. Das verwundert nicht, denn das Konzept der PP ist anschlussfähig an Glaubenssätze, die in der westlichen, hochgradig individualisierten Welt heute verbreitet sind. Gleichwohl – oder gerade deshalb – findet sich Kritik aus wissenschaftlicher, philosophischer und gesellschaftlicher Perspektiven an der Positiven Psychologie. Dieser Kritik nimmt sich Senta Brandt in ihrem Fachbuch sehr ausführlich an. Sie analysiert die in der PP so prävalente Vereinfachung komplexer psychologischer Prozesse und kritisiert, dass die Positive Psychologie oftmals komplexe menschliche Erfahrungen und Emotionen auf einfache Kategorien wie „Glück“ oder „Wohlbefinden“ reduziere. Diese Vereinfachung aber könne der Komplexität menschlicher Erfahrungen nicht gerecht werden und wichtige negative oder ambivalente Emotionen ignorieren.

Ebenso neige die Positive Psychologie dazu, negative Emotionen und schwierige Lebensumstände zu übersehen oder zu marginalisieren. Dass dies zu einer Art „Tyrannei des positiven Denkens“ führen kann, schwingt in Brandts Analysen immer wieder mit. Aus gesellschaftspolitischer Sicht kann diese Tyrannei fatale Folgen haben, denn die dahinterliegende Ideologie kann bewirken, dass strukturelle und gesellschaftliche Probleme, die das Wohlbefinden beeinflussen, ignoriert oder heruntergespielt werden. Kritik äußert Brandt auch an der bisweilen zweifelhaften wissenschaftlichen Fundierung der Positiven Psychologie. Sie argumentiert, dass viele der zugrunde liegenden Konzepte wie „Flow“ oder „Glück“ abstrakte Größen – und damit schwer messbar – seien sowie sich häufig auf anekdotische Angaben bezögen, indes nicht ausreichend durch empirische Daten gestützt seien.

Eine weitere Kritik, die Brandt in ihrem Buch aufzeigt, ist die Tatsache, dass die Positive Psychologie teilweise erheblich kommerzialisiert wurde. Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass dies in manchen Fällen Züge dergestalt annimmt, dass die Anwendung der PP in erster Linie darauf abzielt, Menschen allein aus wirtschaftlichen Gründen leistungsfähiger und produktiver zu machen, anstatt tatsächlich zu ihrem Wohlbefinden beizutragen. Zu guter Letzt wird auch die Gefahr dessen im Buch angesprochen, dass die Positive Psychologie zur Pathologisierung von normalen negativen Gefühlen und Erfahrungen beitragen kann, indem sie Menschen dazu drängt, immer glücklich und positiv zu sein, was schlicht nicht der Natur des Menschen entspreche, was bewirken könne, dass normale menschliche Erfahrungen als behandlungsbedürftig angesehen werden.

Brandts Analyse besticht durch eine sehr hohe Informationsdichte, wobei hervorzuheben ist, dass dem Werk anzumerken ist, dass es sich auch um eine Dissertation handelt. Das Buch ist geprägt durch eine wissenschaftliche Sprache, was die Lektüre bisweilen herausfordernd macht. Das Werk ist anspruchsvoll und liest eindeutig nicht mal eben nebenbei. Der Rezensent kam mit einer Kritik an der Positiven Psychologie zum ersten Mal 2009 durch die Lektüre des Buches »Smile or die« (2009) der Journalistin Barbara Ehrenreich in Berührung. Beim Vergleich beider Werke fällt auf, dass Brandts Buch wesentlich ausführlicher ist, stärker ins Detail geht und einem wissenschaftlichen Standard genügt. Eben dadurch ist es aber auch „trockener“ und weniger spannend zu lesen als die journalistische Auseinandersetzung, die Ehrenreich vornimmt. Wer Ehrenreichs Buch gelesen hat und Brandts Werk gerade deshalb zur Hand nimmt, weil er/sie darin ähnlich gelagerte Ausführungen erwartet (wie der Rezensent das tat), könnte in Folge des komplett anderen Schreibstils und der divergenten Zielgruppe eher enttäuscht sein.

Das heißt wohlgemerkt nicht, dass Brandts Buch schlechter ist. Es ist nur völlig anders, da ihm ein wissenschaftlicher Anspruch zugrunde liegt. Während Ehrenreich die „Abgründe“ und negative Konsequenzen der Positiven Psychologie beispielhaft offenlegt, ist Brands Analyse – typisch Dissertationsschrift – deutlich zurückhaltender, weniger aufgeregt und rundum sachlich. Beide Autor:innen machen dabei in ihrem jeweils eigenen Stil gut deutlich, dass die Positive Psychologie individuelles Wohlbefinden oftmals in den Vordergrund stelle, wobei die Verantwortung dafür gemäß dem Credo, dass jeder Mensch seines Glückes Schmied sei, allein dem Individuum zugeschrieben werde. Zu bedenken ist freilich, dass abstrakten Konzepten wie individuellem Glück und Selbstverwirklichung immer auch eine kulturelle Voreingenommenheit zu eigen ist, sodass sie – anders als manche Vertreter:innen der PP behaupten – nicht universell auf alle Kulturen übertragbar ist. Diese und weitere Aspekte, welche die Positive Psychologie aufwirft, werden in Brandts Buch umfassend beleuchtet.

Fazit

Senta Brand legt mit »Kritik der Positiven Psychologie« eine anspruchsvolle wissenschaftliche Analyse des Phänomens der Positiven Psychologie vor, die hinsichtlich Umfang und Tiefgang ihresgleichen sucht. Die Lektüre regt dazu an, die in der Gesellschaft verbreiteten Annahmen über Glück und Wohlbefinden zu hinterfragen und die Positive Psychologie kritischer zu betrachten, als das zumeist geschieht. Die Autorin zeigt auf, dass – und warum – das Positive an der Positiven Psychologie nicht immer positiv ist.

Rezension von
Prof. Dr. Christian Philipp Nixdorf
Sozialwissenschaftler, Diplom-Sozialarbeiter/-pädagoge (FH), Sozial- und Organisationspädagoge M. A., Case Management-Ausbilder (DGCC), Systemischer Berater (DGSF), zertifizierter Mediator, lehrt Soziale Arbeit und Integrationsmanagement an der Hochschule der Wirtschaft für Management (HdWM) in Mannheim.
Website
Mailformular

Es gibt 58 Rezensionen von Christian Philipp Nixdorf.

Besprochenes Werk kaufen
Sie fördern den Rezensionsdienst, wenn Sie diesen Titel – in Deutschland versandkostenfrei – über den socialnet Buchversand bestellen.


Zitiervorschlag
Christian Philipp Nixdorf. Rezension vom 03.09.2024 zu: Senta Brandt: Kritik der Positiven Psychologie. Psychosozial-Verlag GmbH & Co. KG (Gießen) 2023. ISBN 978-3-8379-3239-3. Reihe: Diskurse der Psychologie. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30641.php, Datum des Zugriffs 15.09.2024.


Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt. Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns. Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.


socialnet Rezensionen durch Spenden unterstützen
Sie finden diese und andere Rezensionen für Ihre Arbeit hilfreich? Dann helfen Sie uns bitte mit einer Spende, die socialnet Rezensionen weiter auszubauen: Spenden Sie steuerlich absetzbar an unseren Partner Förderverein Fachinformation Sozialwesen e.V. mit dem Stichwort Rezensionen!

Zur Rezensionsübersicht