Kari Bischof-Schiefelbein, Anke Petersen et al.: Partizipation ist Kinderrecht
Rezensiert von Prof. i.R. Manfred Baberg, 28.11.2023

Kari Bischof-Schiefelbein, Anke Petersen, Jessica Schuch: Partizipation ist Kinderrecht. Ein Reflexions- und Methodenbuch für die Kitapraxis. Carl Link (Kronach) 2022. 330 Seiten. ISBN 978-3-556-09181-4. D: 29,95 EUR, A: 30,80 EUR.
Verfasserinnen
Die Verfasserrinnen haben alle eine Ausbildung als Erzieherin und einen pädagogischen Hochschulabschluss mit unterschiedlichen Schwerpunkten. Kari Bischof-Schiefelbein ist Multiplikatorin für die „Vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung“, Anke Petersen Trauma-Pädagogin/​Traumafachberaterin und Jessica Schuch Theaterpädagogin mit dem Schwerpunkt Improvisationstheater.
Wesentliche Ansprüche der Autorinnen sind die Respektierung von Vielfalt und die persönlich-fachliche Weiterentwicklung.
Aufbau
Der Band ist in 16 Kapitel gegliedert, in welchen zahlreiche Fragestellungen zu Kinderrechten, Organisationsproblemen und pädagogischen Handlungsmöglichkeiten besprochen werden. Die einzelnen Beiträge werden manchmal durch „Gedankensplitter“ ergänzt, in welchen eine Kollegin den Beitrag der Verfasserin durch eigene Erfahrungen mit diesem Thema kommentiert.
Inhalt
Kickstart – Auf die Partizipation, fertig, los (Kari Bischof-Schiefelbein)
Einleitend verweist die Verfasserin auf die UN-Kinderrechtskonvention als juristische Basis und deren Umsetzung in Deutschland. Sie unterscheidet „Soziale Partizipation“ und „Demokratische Partizipation“ als wichtigste Formen von Teilhabe. Erstere wird vorwiegend durch das Spiel als Haupttätigkeit des Kindes realisiert. Letztere setzt auf demokratische Bildung und Mitgestaltung. Sie wird durch vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung ergänzt, die Kindern die Erfahrung von Vielfalt und Ablehnung von Diskriminierung ermöglicht.
Sollten wir mehr über Macht diskutieren? (Jessica Schuch)
Zur Förderung von Partizipation müssen auch die Machtverhältnisse zwischen Kindern und Erwachsenen diskutiert werden. Nach einer theoretischen Einführung mit Analyse von Machtdefinitionen werden an Praxisbeispielen Handlungsmöglichkeiten für die Umsetzung legitimer Macht dargestellt, die auch berücksichtigen, dass Vielfaltsperspektiven und Inklusion nicht mit traditionellen Machtstrukturen umgesetzt werden können. Am Praxisbeispiel „Das Turnen fällt aus“ wird verdeutlicht, dass es nicht ausreicht, im Stuhlkreis anzukündigen, dass Turnen am nächsten Tag wegen Personalmangels ausfällt. Die mit dem Turnen verbundenen Wünsche und Bedürfnisse der Kinder müssen vielmehr ausführlich besprochen werden und Alternativen gefunden werden, die diese Bedürfnisse in veränderter Form in der Praxisplanung berücksichtigen.
Verlieren Fachkräfte durch Partizipation an Macht? (Jessica Schuch)
Kinderrechte müssen von den Erwachsenen ernst genommen werden, damit Machtverhältnisse demokratisch organisiert werden. Eine Möglichkeit hierzu bieten Kinderkonferenzen. Nach Hannah Arendt ist Macht unter anderem die Fähigkeit, sich mit anderen zusammenzuschließen. In diesem Sinne können Kinderparlamente, Konferenzen und Beschwerderäte Kindern zu mehr Macht verhelfen.
Wie erfahren Kinder von ihren Rechten? (Anke Petersen)
Kinder haben verschiedene Rechte, die unterschiedlich erworben werden können: Selbstbestimmungsrechte, Mitbestimmungsrechte, Anhörungsrecht und Informationsrecht. Die Zugänge zu diesen Rechten müssen vermittelt werden. Möglichkeiten hierzu bieten unter anderem Vollversammlungen und Gruppenkonferenzen. Verbale Erklärungen können durch Ausstellungen mit Fotos, gemalte Bilder und Sprachaufnahmen ergänzt werden. Auch Plakate und Fotocollagen sind geeignete Mittel der Veranschaulichung.
Wie bilden sich Kinder eine Meinung? (Kari Bischof-Schiefelbein)
Meinungsäußerungen sind Ausdruck von individuellen Wünschen, Gefühlen und Bedürfnissen. „Für die demokratische Entwicklung eines Kindes ist es von entscheidender Bedeutung ob und wie das Lebensumfeld des Kindes auf die Meinungsäußerungen und die daraus resultierenden Entscheidungen reagiert“ (79).
Als Beispiel für Meinungsbildung in der Kita wird die Frage der Kleiderwahl für die Kinder näher beleuchtet. Alle Kinder haben das Recht, selbst zu entscheiden, wie sie sich im Außenbereich anziehen. Notwendig hierzu ist jedoch die Vermittlung von Informationen über Wärme, Kälte und Nässe. Dies soll möglichst konkret und anschaulich geschehen.
Wie, Partizipation setzt Augen auf die Ohren? (Anke Petersen)
Es ist wichtig mit Kindern über ihre eigenen Themen zu sprechen und ihre Interessen ernst zu nehmen. Hierzu ist Respekt erforderlich und die Notwendigkeit, Kindern Anerkennung und Wertschätzung entgegenzubringen.
Impulsfragen für die Arbeit können hierzu einen wichtigen Beitrag leisten, zum Beispiel
- „Wie wirken meine Gestik und Mimik auf andere?“ (106).
- Ebenso wichtig sind Reflexionsfragen wie
- „Welche Inhalte sind Ihnen im Gespräch mit der Mutter wichtig?“ (109).
Passt Partizipation in unseren Plan? (Kari Bischof-Schiefelbein)
Für Partizipation ist es wichtig, die professionelle pädagogische Arbeit mit Kinderrechten und Bedürfnissen in Einklang zu bringen. Dies geschieht durch Berücksichtigung von Alter, Entwicklungsstand, den sprachlichen Fähigkeiten, der Lebenssituation, den Bedürfnissen und auch der ethnischen Herkunft der Kinder.
Je umfangreicher der Katalog an Bildungszielen und Programmen ist, desto stärker ist die Gefahr, sich von den Bedürfnissen der Kinder zu entfernen und ihnen die Erfahrung von Selbstwirksamkeit zu nehmen. Deswegen ist ein Perspektivenwechsel nötig, um die Alltags- und Bildungspläne bedürfnisorientiert zu gestalten.
Bildung muss als Selbstbildung verstanden und umgesetzt werden. Der Kitalltag muss dazu durch Fragen wie: „Wo fühlt sich das Kind wahrscheinlich eingeschränkt und fremdbestimmt?“ (126) reflektiert und verändert werden.
Dazu können regelmäßige Gespräche, aber auch zum Beispiel Erkundungstouren mit dem Fotoapparat durch die Kita durchgeführt werden. Als Resultat müssen Pläne entrümpelt und Vorgaben auf zwingend notwendige Tagesordnungspunkte reduziert werden. Zentrale Fragen sind in diesem Zusammenhang: „Was ist nicht verhandelbar?“, „Was ist verhandelbar?“
Wie können Kinder sich beschweren? (Anke Petersen)
Das Kinderschutzgesetz legt fest, dass Kinder und Jugendliche ein Recht auf Beschwerde in persönlichen Angelegenheiten haben. Durch Beschwerden werden Kinder dazu befähigt, sich gegen das zur Wehr zu setzen, was sie bedrückt.
An mehreren Beispielen wird ausführlich dargestellt, wie Beschwerden ablaufen können und wie Ergebnisse umgesetzt werden. Eine Möglichkeit ist die Einrichtung einer Kindersprechstunde, an welcher auch die Leitung teilnimmt. Eine Kindergruppe beschwert sich hier zum Beispiel über das Frühstück, das nicht ihren Erwartungen entspricht. Gemeinsam mit der Hauswirtschaftsmeisterin wird nach Lösungen gesucht.
Leitfragen, die hier auszugsweise dargestellt werden, eröffnen dem Team differenzierte Möglichkeiten einer Beschwerdekultur:
- „Worüber dürfen sich Kinder in der Kindertageseinrichtung beschweren?“
- „Wie können Kinder dazu angeregt werden, sich zu beschweren?“
- „Wie werden die Beschwerden von Kindern aufgenommen und dokumentiert?“
- ·„Wie werden die Beschwerden von den Kindern bearbeitet/wie wird Abhilfe geschaffen?“ „Wie wird der Respekt den Kindern gegenüber zum Ausdruck gebracht?“ (150).
Beschwerden können nicht nur aktuelle Probleme lösen, sondern dienen auch dazu, die Kompetenzen von Kindern wie Selbstwirksamkeit zu entwickeln und leisten dadurch einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung von Partizipation.
»Wir« vs. »Die Kinder«? (Jessica Schuch)
In vielen Einrichtungen herrscht Einverständnis darüber, dass die Erwachsenen sich gegenüber Kindern vereinen müssen, wodurch jedoch die Rechte der Kinder beeinträchtigt werden, wenn eine Erzieherin zum Beispiel eine abwertende Bemerkung macht und von ihrer Kollegin nicht korrigiert wird. Die Verfasserin zeigt an einem solchen Beispiel auf, welche Handlungsmöglichkeiten es gibt, zu einem akzeptablen Ergebnis zu kommen, ohne die Solidarität der Erzieher*innen und die Rechte der Kinder zu beeinträchtigen.
Wie kann Partizipation in Übergängen gelingen? (Anke Petersen)
Sowohl der Übergang vom Elternhaus in die Kita als auch später in die Grundschule können – was die Beteiligungs- und Mitbestimmungsmöglichkeiten der Kinder anbelangt – sehr unterschiedlich geplant und durchgeführt werden. Am Beispiel des Übergangs zur Grundschule wird dargestellt, wie Erzieher*innen die Bedürfnisse der angehenden Schüler*innen erfassen und in Portfolios dokumentieren können.
Ist Partizipation inklusiv? (Kari Bischof-Schiefelbein)
Partizipation ist ein wesentlicher Bestandteil von Inklusion. Alle Kinder müssen aktiv an der Kita-Gesellschaft beteiligt werden, weil sonst die Gefahr besteht, dass sie systematisch ausgegrenzt werden, „weil sie zu klein, zu jung, zu »bildungsfern«, zu »entwicklungsverzögert«, zu »neu« … sind“ (201).
Zur Umsetzung von Inklusion in der Partizipation ist eine vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung erforderlich. Dazu ist es notwendig, im Kitaalltag Vorannahmen und Vorurteile aufzuspüren, die das Recht der Kinder auf Selbstbestimmung beeinträchtigen.
Einen wesentlichen Beitrag kann hierzu die „Schubladenübung“ leisten, die im Rahmen der vorurteilsbewussten Erziehung entwickelt wurde, weil kein Mensch in eine Schublade passt. Zentrales Element inklusiver Partizipation ist die Gestaltung der Kita als „Wohlfühlort“. Dies geschieht unter anderem dadurch, dass die Kinder dort ihre Familienkultur wiedererkennen können.
Wichtig ist auch die Dokumentation der Partizipation durch Porträtfotos und individualisierte Bilder. Einen wesentlichen Beitrag kann hierzu auch ein „Das bin ich-Familienbuch“ (217) leisten, das gemeinsam mit den Kindern und ihren Eltern gestaltet wird. Wenn Kinder sich in einer auf diese Weise vielfältig gestalteten Kita wiederfinden, erleben sie sich als Teile der Gesellschaft und entwickeln ein Zugehörigkeitsgefühl.
Wie können alle Kinder mitentscheiden? (Kari Bischof-Schiefelbein)
Demokratische Entscheidungsverfahren sind vielfältig. Neben einfachen Mehrheitsverfahren gibt es auch Konsenslösungen, die versuchen, Minderheiten zu integrieren und dadurch die Wahrscheinlichkeit des Engagements aller Beteiligten um ein Vielfaches erhöhen.
Entscheidungsverfahren müssen wertschätzend gestaltet werden. Drohungen und Abwertung von Vorschlägen sind deswegen nicht zulässig. Erzieher*innen können auch stellvertretend für die Kinder, die sich (noch) nicht zutrauen, eigene Ideen und Wünsche einzubringen, deren Bedürfnisse artikulieren.
Die Kita muss verlässliche Gremienstrukturen haben, die Kindern (Mit-)Entscheidungsrechte einräumen. Hier ist eine Differenzierung nach Selbstbestimmungsrechten (persönliche Bereiche des Kindes), Mitbestimmungsrechten (Bereiche, für die Kinder und Erwachsene gemeinsam Lösungen erarbeiten), Anhörungsrechten und Informationsrechten erforderlich.
Im Fazit stellt die Verfasserin fest, dass Partizipation und Inklusion zusammen gedacht werden müssen, damit immer Mitbestimmung für alle ermöglicht wird.
Wie kann ich Familien für Partizipation begeistern? (Anke Petersen)
Voraussetzung für eine gute Kommunikation ist das gegenseitige Vertrauen von Erzieher*innen und Eltern. Letzteren muss vermittelt werden, dass sie willkommen sind. Wichtig hierfür ist die Vermittlung von Gleichwertigkeit. Hierfür müssen die Beteiligungsmöglichkeiten der Eltern im Team geklärt werden. Beteiligungsformen in der Praxis können unter anderem Workshops, Informationstage und Hausführungen sein. Letztere werden in einem Beispiel geschildert, in welchem Eltern, die ihr Kind anmelden möchten, durch die schon in der Einrichtung befindlichen Kinder geführt werden. Die dabei entstandenen Probleme und Fragen werden in einem anschließenden Gespräch mit der Leitung geklärt.
Wie passen Partizipation und Kitaregeln zusammen? (Jessica Schuch)
Kitaegeln sowohl für Kinder als auch Erwachsene sind notwendig, um den Interessen der Kinder gerecht zu werden. Es muss jedoch geprüft werden, inwieweit sie zu einer Partizipationskultur passen, in welcher die Selbstbestimmungsrechte der Kinder im Fokus stehen. Deswegen kritisieren viele Fachkräfte die Verbotskultur und die Regelflut und versuchen, Regelwerke zu reduzieren.
Für eine Beteiligung der Kinder am Aufstellen von Regeln sprechen nicht nur Kinderrechte und demokratische Partizipation, sondern auch entwicklungspsychologische Untersuchungen, weil die Beteiligung der Kinder ihre Resilienz fördert.
Dabei müssen unterschiedliche Typen berücksichtigt werden, die sich entweder sehr stark an der Macht der Erwachsenen orientieren oder mehr selbstbestimmt handeln möchten oder sogar Werte und Normen infrage stellen und die Regeln verletzen.
Kinder müssen sowohl das Recht als auch die Kompetenz haben, Regeln mit aufzustellen und durchzusetzen.
Wie können wir die Kinder im Umgang mit Regeln und Regelbrüchen wirkungsvoll beteiligen? (Jessica Schuch)
Die Beteiligung der Kinder am Umgang mit Regeln und Regelbrüchen wird an mehreren Beispielen erläutert. Regeln können verhandelbar oder nicht verhandelbar sein. Als Beispiel für eine verhandelbare Regel wird die Sitzordnung beim Essen vorgestellt. Hier wird mit den Kindern einvernehmlich festgelegt, dass die Sitzplätze in zeitlichen Abständen verändert werden, damit alle Kinder die Chance haben, ihren Lieblingsplatz zu erhalten. Auch bei nicht verhandelbaren Regeln können die Kinder durch Diskussion über die Folgen eigene Handlungsperspektiven entwickeln.
Bei Diskriminierung und Gewalt sind keine Kompromisse möglich. Es kann jedoch über die Konsequenzen wie Bestrafung diskutiert werden, wodurch die Autonomieentwicklung der Kinder positiv beeinflusst wird.
Auch beim Umgang mit Regelbrüchen können die Kinder beteiligt werden, indem sie zum Beispiel über die Folgen einer möglichen Bestrafung informiert werden.
Ist Partizipation eine Frage des Alters? (Anke Petersen)
Rechtlich gesehen ist Beteiligung eindeutig keine Frage des Alters. Autonomie und Selbstwirksamkeit sind wichtige Voraussetzungen für die kindliche Entwicklung. Die Verfasserin erläutert am Beispiel der zweijährigen Maike, welche Handlungsmöglichkeiten es gibt. Maike möchte sich allein ihr Brot zum Frühstück mit Marmelade und Butter bestreichen. Die pädagogische Fachkraft nimmt ihr das Messer weg und sagt, dass sie das noch nicht könne und macht es selbst, weil sie möglicherweise befürchtet, Maike könnte sich mit dem Messer verletzen. Die im Sinne von Partizipation gewollte Alternative wäre, Maike zu bestärken und ihr eventuell Unterstützung anzubieten. Nur so können im Sinne von Autonomie und Selbstwirksamkeit Entwicklungsfortschritte erreicht werden.
Diskussion
In den Beiträgen werden zahlreiche Fragen gestellt, die zur Reflexion anregen. Dadurch werden den Pädagog*innen neue Handlungsmöglichkeiten eröffnet. Diese dienen nicht nur zur Umsetzung von Demokratie und Partizipation. Sie leisten auch einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklungsförderung in den Bereichen Autonomie und Selbstwirksamkeit.
Besondere Bedeutung kommt der Partizipation für Inklusion zu, weil nur so eine aktive Teilnahme aller Kinder in den Kindertagesstätten und später in der Gesellschaft gewährleistet werden kann.
Fazit
Durch die Vielfalt der konkreten Anregungen können pädagogische Fachkräfte ihre Kompetenzen in den Bereichen Partizipation und Entwicklungsförderung erweitern. Die Lektüre des Bandes kann ihnen deswegen empfohlen werden.
Rezension von
Prof. i.R. Manfred Baberg
Hochschule Emden/Leer, Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit. Arbeitsgebiete u.a. Behindertenarbeit und Integrationspädagogik in den Studiengängen Soziale Arbeit/Sozialpädagogik und Integrative Frühpädagogik
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