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Jan Volker Wirth, Heiko Kleve (Hrsg.): Lexikon des systemischen Arbeitens

Rezensiert von Prof. Dr. Christian Philipp Nixdorf, 05.09.2024

Cover Jan Volker Wirth, Heiko Kleve (Hrsg.): Lexikon des systemischen Arbeitens ISBN 978-3-8497-0438-4

Jan Volker Wirth, Heiko Kleve (Hrsg.): Lexikon des systemischen Arbeitens. Grundbegriffe der systemischen Praxis, Methodik und Theorie. Carl Auer Verlag GmbH (Heidelberg) 2023. 2. vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage. 550 Seiten. ISBN 978-3-8497-0438-4. D: 79,00 EUR, A: 81,30 EUR.
Reihe: Systemische Therapie und Beratung.

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Herausgeber

Dr. Jan V. Wirth war in den letzten 20 Jahren an diversen Berufsakademien, Fachhochschulen, Hochschulen und Universitäten in Deutschland, Österreich, Schweiz und Polen tätig. Er ist derzeit Vertretungsprofessor für Arbeitsfelder und Arbeitsweisen der Sozialen Arbeit.an der Hochschule Rhein-Main.

Dr. Heiko Kleve ist Systemischer Berater, Supervisor & lehrender Supervisor, Case-Manager und Konflikt-Mediator. Er ist Professor für Organisation und Entwicklung von Unternehmerfamilien am Wittener Institut für Familienunternehmen (WIFU), dessen Geschäftsführung er seit 2024 auch inne hat.

Thema

Das Lexikon des systemischen Arbeitens bietet, was der Titel versprich: Eine umfangreiche lexikalische Auflistung zentrale Begriffe von A bis Z, die im Rahmen systemischen Arbeitens eine Rolle spielen bzw. Auskunft über deren theoretisches Fundament geben. Die Herausgeber haben auf über 500 Seiten 141 systemische Grundbegriffen von A wie »Abhängigkeit« bis Z wie »Zirkuläres Fragen« zusammengetragen. Die Erläuterungen zu den jeweiligen Begriffen stammen von 89 der renommiertesten systemischen Praktiker:innen, Forscher:innen und Lehrenden im deutschsprachigen Raum. Das Buch dient in seiner zweiten, 2023 vollständig überarbeiteten und erweiterten Auflage als aktuelles Nachschlagewerk für die alltägliche systemische Beratungs-, Therapie-, Supervisions- und Erziehungspraxis sowie Organisationsentwicklung. Zudem kann es in der Lehre und Weiterbildung zum Einsatz kommen.

Aufbau und Inhalt

Im Buch versammeln die Herausgeber auf 552 Seiten 141 Artikel zu Grundbegriffen systemischen Denkens und Handelns. Das Werk beginnt mit einem Vorwort, in dem die Herausgeber ihre Intention hinter dem Lexikon darlegen. Sie wollten Ordnung, Übersichtlichkeit und Genauigkeit in den Fachdiskurs bringen, erklären sie. Trotz dessen, dass im Internet ähnliche Lexika-Projekte zu finden sind (das socialnet Lexikon ist eines davon), die hinsichtlich Aktualität einem gedruckten Werk überlegen sind, sind Wirth & Kleve überzeugt, dass ein gedrucktes Lexikon eine wichtige Referenz bliebe, da die Herausgeber eine Komplexitätsreduktion vorgenommen hätten, die Leser:innen dadurch erspart bliebe. „Ein zentrales Qualitätsmerkmal, das die Sorgfalt, Genauigkeit und Aktualität der versammelten Lexikoneinträge, der Lemmata, garantiert, ist die Auswahl der Autoren und Autorinnen, die wir für die Mitarbeit gewinnen Konnten“, erklären Wirth & Kleve (S. 15). Alle erläuterten Begriffe seien von Fachexpert:innen verfasst worden, um sicherzustellen, dass eine „systemische Theorie und Praxisreflexion geboten wird, die gewinnbringend für das eigene Nachdenken, Reflektieren, Lernen oder Schreiben von wissenschaftlichen oder praxisbezogenen Beiträgen und Konzepten verwendet werden kann“ (ebd.).

Als Minimalkanon der versammelten Beiträge für systemisches Arbeiten benennen die Herausgeber sieben Punkte. Systemisch zu arbeiten bedeutet für sie…

  • (1) …die Einsicht zu nutzen, dass der Realität sinnhaft konstruierte Erfahrungen zugrunde lägen,
  • (2) …sich als Ko-Erzeuger:in sozialer Kontexte und ihrer Beobachtungen zu begreifen,
  • (3) …Verhaltensweisen mit Bezug auf sozialen Kontexte zu verstehen, in denen sie divergent beobachtet und beschrieben werden könnten,
  • (4) …dass biologisch-organische, psychische und Sozialsysteme und ihre Dynamiken in ihren Zusammenhängen betrachtet werden,
  • (5) … zugunsten der Erfahrung, dass Verhaltensweisen sich zirkulär formieren, von linearem Ursache-Wirkungs-Denken abzurücken,
  • (6) …dem Umstand Rechnung zu tragen, dass Psychen und Sozialsysteme je nach Zustand und Kontext unterschiedlich auf Angebote oder Zumutungen reagierten,
  • (7) …die Bereitschaft, eine Erkenntnis- und Arbeitshaltung einzunehmen, die wertschätzend auf Personen und ihre Lebensräume zugehe und sich an Aufträgen und Ressourcen orientiere (S. 17 f.).

Die im Lexikon versammelte Auswahl der Grundbegriffe und deren Aufbereitung seien kontingent, hätte also auch anders gewählt werden können. Die Auswahl sei aber nicht beliebig, sondern das Ergebnis eines sich mehr und mehr weitenden Horizonts aufseiten der Herausgeber. „War zuerst nur an griffige »101 Grundbegriffe« gedacht, wurden daraus mehr und mehr Beiträge“, schreiben Wirth & Kleve (S. 18). Das Werk böte keinen vollständigen, aber doch einen umfassenden Überblick über zentrale Begrifflichkeiten des Systemischen, mit dem unterschiedliche Menschen Unterschiedliches verknüpften. Der Untertitel des Buches, »Grundbegriffe der systemischen Praxis, Methodik und Theorie«, zeige die drei unterschiedlichen Dimensionen systemischen Arbeitens an: Die Praxis stehe für Phänomene, die von »Abhängigkeit« bis »Trauma« reichten und in der systemischen Praxis bearbeitet würden. Dabei kämen Methoden zum Einsatz, wie etwa die »Anamnese« oder das »Zirkuläres Fragen«. Der Bereich der »Theorie« rahme Grundbegriffe von »Ambivalenz« über »Gruppe« bis »Zeit« (S. 18).

Die 141 Begriffe werden im Buch aufs Wesentliche kondensiert dargestellt, wobei jeder Artikel mit der Nennung des Begriffs und einer Kurzdefinition beginnt. Erläutert wird auf jeweils 1–5 Seiten, was der Begriff bzw. die Methode bedeute, wie er systemtheoretisch eingeordnet werden und wie an das Phänomen systemisch arbeitend herangegangen werden könne. Es ist dabei folgerichtig, dass komplexe Begrifflichkeiten wie »Armut« oder »Forschung«, die aus wirtschaftlicher, soziologisches wie auch psychologischer Perspektive betrachtet werden können (und aus diversen weiteren Perspektiven), mit jeweils ca. 5 Seiten umfassender ausfallen als Schilderungen dessen, was zum Beispiel unter »Elternschaft« (1,5 Seiten) oder was unter »Interpunktion« (2 Seiten) zu verstehen ist. Da eine Auflistung aller 141 Begriffe den Rahmen einer Rezension sprengen würde und eher einer Buchzusammenfassung gleichkäme, werden nachfolgend – frei nach dem Kontingenzprinzip – lediglich 7 der 141 Begrifflichkeiten aus dem Werk aufgegriffen und zusammengefasst. Anhand dessen sollte deutlich werden, wie die Autor:innen von der Grundstruktur her vorgegangen sind, um zu plausibilisieren, was mit den jeweiligen Ausdrücken verknüpft ist, derer sie sich im Lexikon annehmen.

Der von Falko von Ameln verfasste Eintrag zur »Agilität« zeigt auf, dass damit ein Bündel organisationaler Qualitäten und die organisationale Verfasstheit gemeint seien, die diese Qualitäten ermöglichen sollen (S. 26). Hintergrund der Agilitätsdebatte sei die Feststellung, dass viele Organisationen angesichts einer immer stärker von Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität geprägten Umwelt nur dann zukunftsfähig seien, wenn sie schneller und flexibler auf veränderte Bedürfnisse von Kund:innen reagierten. Das setze andere, eben agile, Organisationskonzepte und Arbeitsformen voraus, die allerdings mitnichten neu seien, zumal Burns & Stalker bereits 1961 alle zentralen Themen der aktuellen Agilitätsdiskurse formuliert hätten. Aus systemtheoretischer Sicht gäbe es enge Bezüge zwischen den Konzepten der Agilität und der Selbstorganisation. Parallelen zum systemischen Denken bestünden auch in Bezug auf das Menschenbild, das von einer Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme ausgehe und hierarchische Kontrollmechanismen durch die Schaffung von Rahmenbedingungen für Selbstkontrolle ersetze.

Voraussetzungen für eine erfolgreiche Einführung agiler Konzepte seien die Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme und soziale Kompetenzen der Mitarbeitenden sowie die Bereitschaft der Vorgesetzten zur Abgabe von Macht, welche in gewisser Weise das Kernthema agiler Ansätze sei. Agile Organisationen setzten auf Führungskonzepte, die die Rollenmacht der Vorgesetzten begrenzten. Daher wiesen agile Konzepte eine Nähe zur Diskussion um die Demokratisierung von Organisationen auf. Allerdings seien agile Konzepte kein Allheilmittel, sondern nur unter bestimmten Bedingungen funktional. „Was in einem kleinen Startup funktioniert, hat in einem Großkonzern eine hohe Chance zu scheitern. Mit zunehmender Größe der Organisation und Komplexität der Primäraufgabe ist Hierarchie als Steuerungsprinzip unerlässlich – darauf hat insbesondere Stefan Kühl (1994) immer wieder hingewiesen“ (S. 28). Daher sei die mitunter vernehmbare ideologische Verklärung agilen Arbeitens kontraindiziert. Die derzeitige Entwicklung favorisiere eher eine ambidextre Gestaltung von Organisationen, d.h. eine Kombination von Hierarchie und Selbstorganisation statt reine Agilität.

Sigrid Haselmann gibt in ihrem Artikel einen kompakten Überblick dessen, was in systemischen Kontexten unter »Beratung« zu verstehen sei. Diese lasse sich definieren als „gemeinsames Verhandeln von Problemen und Lösungen in einem kommunikativen Austausch, bei dem die Beteiligten die Rollen als Ratsuchende und Berater bzw. Beraterin in gegenseitiger Übereinstimmung einnehmen (vgl. Thiersch 2004)“ (S. 73). Einzelpersonen, Paare, Familien, Gruppen oder Organisationen könnten sich beraten lassen, wobei zu unterscheiden sei zwischen Sachberatung zur Informationsvermittlung und Beratung bei Schwierigkeiten. Ob eine Gesprächssituation eine Beratung oder eine Therapie darstellt, lasse sich von einer Außenperspektive her nicht feststellen. Die gängige Unterscheidung sei, dass sich Beratung in einem Hilfediskurs bewege, während Psychotherapie in einem Heilungsdiskurs verortbar sei. Typische Kennzeichen systemischer Beratung seien die Sichtweise, die Interaktions-/​Kommunikationssysteme zum Gegenstand zu machen, die Selbstorganisation und Autonomie der Klient:innen zu achten, den Fokus auf Wechselbeziehungen statt auf Eigenschaften isolierter Individuen zu legen und eine Betrachtung von psychosozialen Phänomenen als Beschreibungen von Interaktionsprozessen aus jeweiliger Beobachter:innensicht zu verstehen (S. 73).

Problemverhaltensweisen gelten als interaktionelle Probleme des Systems statt als negative Zustände einzelner Personen. Der Arbeitsansatz der Systemischen Beratung beinhalte nun, zirkuläre Beschreibung von Kreisprozessen statt Annahme linearer Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge vorzunehmen, Beziehungsaspekte von Kommunikation zu fokussieren und Beratung als Anregen oder »Verstören« statt als Instruktion oder Psychoedukation zu begreifen. Es gelten, ein kommunikatives Milieus für Veränderungen zu schaffen statt Vorgabe zu machen. Zudem sei der Schwerpunkt auf Ressourcen- und Lösungsorientierung statt auf Defizitorientierung und Problemvertiefung zu legen. Die Grundhaltungen sei im systemischen Beratungsverständnis geprägt durch Respekt gegenüber den Klient:innen und ihren Problemlösungsversuchen, durch Auftragsorientierung, Neutralität, Neugier, Nichtbewertung und Anerkennung der Expertise des Nichtwissens (S. 74). Theoretische Bezüge der systemisch-konstruktivistischen Beratung seien die Systemtheorie als Theorie autopoietischer Systeme, der radikale Konstruktivismus und die Kybernetik 2. Ordnung. Systemisch Beratende handelten im Bewusstsein, zu einem Teil des Problemsystems zu werden und akzeptierten Klient:innen als Expert:innen für ihr Leben. Im Wesentlichen geht es darum, eine neue Kommunikation in Gang zu setzen und dem Gegenüber zu helfen, angeregt durch diese mögliche Lösungen für eigene Probleme oder Anliegen zu (er)finden.

Mit systemischem Blick auf das »Case Management« blickt Heiko Kleve in seinem Artikel. Er definiert dieses als „ein Verfahren mit einem Pool an Methoden und Techniken, basierend auf einer professionellen Haltung der Fachkräfte“, das verstanden werde „als eine Verbindung von klassischer sozialer Einzelfallhilfe und Ansätzen aus der Gemeinwesen- und Netzwerkarbeit“, welches in den USA der 1970er-Jahre entwickelt worden sei (S. 80). Case Management (CM) habe sich aus der Notwendigkeit heraus entwickelt, für entlassenen Klient:innen/​Patient:innen eine angemessene ambulante Versorgung zu organisieren. Die zentrale Funktion von Case Management sei es, „eine optimale Organisation von Hilfen zu gestalten angesichts einer unübersichtlichen und vielfältigen Hilfelandschaft mit hoch spezialisierten Trägern, die eher zur angebots- statt zur nachfrageorientierten Arbeit tendieren“ (ebd.) In Deutschland habe Case Management seit Beginn der 1990er-Jahre in der Sozialen Arbeit und dem Gesundheitswesen Einzug gehalten. Essenziell für Case Management sei das Bestreben, die ambulante Versorgung zu optimieren und stationäre Unterbringungen zu vermeiden. Aber auch Kostenerwägungen hätten bei der Implementierung von CM eine Rolle gespielt.

CM verspreche hohe Effizienz und Effektivität der Versorgung durch eine Verkopplung der einzelfallbezogenen Arbeit „mit einem hilfesystemorientierten Ansatz der Verknüpfung und Koordination verschiedener fallbezogener und fallübergreifender professioneller wie nichtprofessioneller Hilfen zu einem Hilfenetz“ (ebd.). CM erstrecke sich auf die Phasen Falleingang (Intake), Falleinschätzung (Assessment), Hilfeplanung (Service Planning), Durchführung (Intervention/​Linking), Überwachung (Monitoring), und Evaluation, wobei alle Phasenschritte sich zugleich auf die Fall- und die Hilfesystemebene bezögen. Ein systemisch ausgerichtetes Case Management gründe auf systemtheoretischen Annahmen neueren Ursprungs und auf den vielfältigen Methoden und Techniken der systemischen Beratungs- und Therapiepraxis. Es gehe mit einer Haltung einher, die auf „Ressourcen-, Lösungs- und Selbsthilfeorientierung, aber auch auf einer Steuerungsgelassenheit“ gründe (S. 81)

»Führung« ist das Thema, dem sich Dirk Baecker in seinem Artikel annimmt. Er definiert, der Begriff der Führung bezeichne die Orientierung eines Verhaltens an Einschränkungen in der Sache, am Aufweis von Möglichkeiten in der Zeit und vielfach an Personen, denen hinreichende Erfahrung, Einsichten und/oder Macht über Dritte zugeschrieben werden (S. 154). Es gäbe keinen systemischen Begriff der Führung, wohl aber Überlegungen zur Rolle von Führung in Organisationen, der jeweils der Wechsel und die Verschaltung von Systemreferenzen zugeschrieben werde. Führung bedeute, „in der Sache und in der Zeit die Grenzen von Organisation, Abteilung, Projekt und Person auf jeweils beiden Seiten der Grenzen, das heißt die Grenzen einhaltend und sie überschreitend, so aufeinander zu beziehen, dass sie voneinander unterschieden und fallweise miteinander integriert werden können“ (ebd.). Führung trage zur Ausbildung von Verhaltenserwartungen bei, die nur im Maße der Selbstbindung der Führung als vorbildlich und verlässlich gelten und nach Maßgabe der Abstimmung zwischen Führung, Organisation und Gesellschaft in der Organisation auch gewechselt werden könnten. Unterschiedliche Grade der Institutionalisierung und Wiederauflösung der Institutionalisierung erlaubten es, Führung je unterschiedlich auf Personen auf verschiedenen Leitungsebenen zu übertragen.

Die tatsächliche Leistung von Führung in einer Organisation sei prinzipiell diffus, da von allen Beteiligten interpretierbar und in Grenzen gestaltbar. Es deute sich ein systemischer Begriff der Führung an, der diese als „Funktion der Ausdifferenzierung und Reintegration einer komplexen Organisation in einer turbulenten Umwelt begreift und Anpassungsleistungen sowohl der Organisation an ihre eigene Veränderung als auch der psychischen Umwelten der Organisation […] an diese Veränderungen erleichtert“ (S. 154 f.). Nach wie vor gelte „die machiavellistische, kybernetische und spieltheoretische Einsicht, dass Führung nur zu leisten ist, wenn die Führung sich auch vom Geführten führen lässt und dies durch ihre Selbstbindung auch kommuniziert“ (S. 155). Führung könne als eine Generalisierung von Lösungen von Dilemmata begriffen werden. Zu führen heiße, „die Oszillation zwischen den Alternativen dieser Dilemmata zu symbolisieren und aus dieser Oszillation ein Gedächtnis für situativ bedingte Präferenzen zu gewinnen“ (S. 156). Führung könne diese mehrdeutige Orientierungsleistung nur erbringen, wenn sie sich auf die Kommunikation einer ihrerseits situativ bedingten Kombination von Kompetenz, Intuition, Forderung und Rücksichtnahme, Ernst, Humor, Benennen und Verschweigen einlasse (ebd.).

Den »Konstruktivismus« beleuchtet Bernhard Pörksen in seinem Text. Konstruktivismus ist ihm zufolge einer Variante der Erkenntnistheorie mit naturwissenschaftlich-biologisch geprägten Wurzeln und einer besonderen Relevanz für das Verständnis systemischen Arbeitens (S. 253). Konstruktivist:innen leugneten nicht die Existenz einer Außenwelt, sie verneinten aber ihre voraussetzungsfreie Erkennbarkeit und fragten nach dem Zustandekommen von Realitätskonzepten. Realität(en) würden konstruiert und könnten auch ganz anders konstruiert (und de-konstruiert) werden. Der konstruktivistischen Theoriebildung zugrunde liege die Annahme, dass Erkenntnis nicht auf einer Korrespondenz mit einer externen Wirklichkeit beruhten, sondern auf den Konstruktionen von Beobachter:innen (ebd.). Allerdings sei Konstruktion kein rein individueller Schöpfungsakt, sondern vielfältig bedingt durch Natur, Kultur, Geschichte, Sprache und Medien. Eine sozialkonstruktivistische Theorie besage, dass nicht das (einzelne) Gehirn der entscheidende Wirklichkeitsproduzent sei, sondern dass Realität im Gefüge der Gesellschaft und der jeweiligen Kultur entstehe. Der Einzelne erscheine demgemäß „als form- und prägbar durch die ihn umgebende Kultur, sieht die Welt vor dem Hintergrund seiner Herkunft und ist empfänglich für Außeneindrücke, deren Spuren sich im Prozess der Sozialisation zunehmend erhärten und verfestigen“ (ebd.).

Die kybernetische Richtung des Konstruktivismus sei von Heinz von Foerster begründet worden. Entstanden sei durch ihn und seine Theorie „ein dynamischer, mit Paradoxien und zirkulären Theoremen operierender Denkstil, der als Kybernetik der Kybernetik (oder auch als: Kybernetik zweiter Ordnung) bezeichnet wird. Dieser Denkstil hat den Konstruktivismus und die Systemtheorie gleichermaßen geprägt, geht es doch stets um die logischen und methodischen Probleme, die die Beobachtung des Beobachters unvermeidlich mit sich bringt“ (S. 253). Die psychologische und psychotherapeutische Begründung des Konstruktivismus gehe auf den französischen Lerntheoretiker Jean Piaget und auf die Palo-Alto-Schule zurück, die sich auf die Arbeiten Gregory Batesons bezögen. Die Vertreter:innen dieser Schule teilten mit den konstruktivistischen Theoretikerinnen das Ziel der Beobachtung der Konstruktion von Wirklichkeit. Der Konstruktivismus sei indes „kein triviales Erzeugungsprogramm, das bestimmte Einsichten notwendig erzwingt; insofern fehlt ihm eine unmittelbare, gleichsam rezeptförmige Relevanz“ (S. 254). Sein Nutzen liege darin, dass er ein Reservoir für neue Perspektiven und Beobachtungsmöglichkeiten darstelle. Konstruktivistische Überlegungen sensibilisierten für einen kritischen Umgang mit trivialen, monokausal und linear angelegten Kommunikations- und Wirkungskonzepten, schildert Pörksen (ebd.)

Der »Teamarbeit« nehmen sich Gisela Osterhold & Corinna Reinhard-Thursfield in ihrem Artikel an. Sie erklären, dass es viele Auffassungen dazu gäbe, was Teamarbeit auszeichne und wie sie zu sein habe, was zurückzuführen sei auf unterschiedliche Bedeutungsvarianten, die vor allem der Begriff des »Teams« seit den 70er-Jahren erfahren habe (S. 472). Während Menschen in Gruppen funktional zusammenarbeiteten, erfolgte die Zusammenarbeit in Teams zielorientiert, indem die Mitglieder ihre Arbeit selbst planten, organisierten, durchführten, kontrollierten und verantworteten. Teams besäßen die Fähigkeit, sich selbst zu organisieren und eine spontane Ordnung zu bilden. Indem sich Teams selbst organisierten, gelänge es ihnen, Unordnung in Ordnung zu transformieren. Der Prozess der Selbststeuerung in Teams erfolge über die Festlegung von Aufträgen, Ergebnissen, Rahmenbedingungen und Meilensteinen. Das schwer zu operationalisierende Begriffsverständnis bezüglich Team und Gruppe fände in diesem wesentlichen Punkt des Grades an Selbstorganisation seine Auflösung. Teams verfügten über ein wesentlich höheres Maß an Entscheidungsfähigkeit als Gruppen, an Verantwortung für den Gesamtprozess, an Freiheit in der Lösungssuche, in der Durchführung der Kontrolle und in der Möglichkeit, sich über Rückkopplungen selbst zu verbessern (S. 473).

Im Idealfall folge Teamarbeit der synergistischen Maxime, dass das Ganze nicht nur mehr, sondern etwas anderes als die Summe seiner Teile sei. Die Arbeit in selbstorganisierten Teams werde zunehmend als Schlüssel zu mehr Agilität und Problemlösefähigkeit einer Organisation angesichts wachsender Komplexität angesehen. Die formale Bildung von Teams sei allerdings nicht gleichbedeutend damit, dass Teamarbeit auch tatsächlich geleistet wird. Es komme darauf an, die Zusammenarbeit in einem individuellen und kollektiven Prozess zu lernen, zu organisieren und dafür zu sorgen, dass Teams nicht nur nach außen bestünden, sondern auch im Innenverhältnis die notwendigen Strukturen etablieren könnten (S. 474). Da Ergebnisse und die Qualität von Teamarbeit vor allem durch die Teamstruktur und -kultur beeinflusst seien, sei es zielführend, Teams aktiv an deren Gestaltung mitwirken zu lassen. Angesichts steigender Marktdynamik, schwindender Übersichtlichkeit und zunehmender Komplexität betrieblicher Aufgaben und Erfordernisse könne Teamarbeit als effizientester Ansatz dafür gelten, vielschichtige Herausforderungen von Organisationen erfolgreich zu bearbeiten.

»Zirkuläres Fragen« steht im Fokus von Fritz B. Simon. Er legt dar, der Ausdruck werde als Oberbegriff für systemische Frage- und Interviewtechniken verwendet, denen Hypothesen einer rückgekoppelten Kausalität zugrunde lägen. Des Weiteren stünde der Begriff für eine spezielle Frageform, bei der ein:e Beobachter:in über die Beziehung zweier anderer Personen befragt wird. Entwickelt worden sei die Interviewtechniken von der sogenannten Mailänder Gruppe um Mara Selvini Palazzoli, Luigi Boscolo, Gianfranco Cecchin & Giuliana Prata (S. 536). Generell gelte, dass kein Mitglied eines Sozialsystems direkt auf das, was sich psychisch beim anderen abspielt, reagieren könne. Zirkuläres Fragen versuche, dem gerecht zu werden, „indem es den Fokus der Aufmerksamkeit auf die direkt beobachtbare Interaktion und die dem Verhalten der Beteiligten zugeschriebenen unterschiedlichen Bedeutungen richtet“ (S. 537). Auf diese Weise eröffne sich nicht nur der Blick auf repetitive Kommunikationsmuster, sondern auch auf die unterschiedlichen Bilder, welche die Beobachtenden voneinander konstruierten.

Für die therapeutische oder beraterische Praxis sei auch der informationsgebende Aspekt des zirkulären Fragens von Bedeutung, da jede Frage immer auch Vorannahmen beinhalte und damit immer (auch) einen suggestiven Effekt habe. Die Wahl der Fragerichtung sei davon abhängig, welche Hypothese vermittelt werden sollen. Dabei geht es nicht so sehr um ihre Richtigkeit, sondern um ihre Nützlichkeit, die daran zu erkennen sei, dass sie Lösungsmöglichkeiten für die Beteiligten eröffne. In den meisten Fällen sei zirkuläres Fragen darauf gerichtet, „die mitgebrachten geradlinigen Kausalitätskonstruktionen aller Beteiligten infrage zu stellen und den Blick darauf zu eröffnen, wie jeder den Kontext für das Verhalten des anderen schafft“ (S. 537). Zirkuläres Fragen könne im Idealfall Wechselbeziehungen bewusst machen und jedem der Beteiligten Handlungsalternativen eröffnen, „weil sich aufgrund der impliziten systemischen Hypothesen für jeden die Bedeutungszuschreibung zu eigenem oder fremdem Verhalten ändert oder zukunfts- und lösungsorientierte Ideen gestreut wurden“ (S. 538). Dadurch gäbe zirkuläres Fragen professionell Beratenden die Möglichkeit, Hypothesen über das Klient:innensystem zu entwickeln, die weiter gehende Interventionsmöglichkeiten eröffneten.

Diskussion

Was lässt sich zu dem Werk nun festhalten? Kann es empfohlen werden? Und wenn ja, für wen? Dazu kann der Rezensent Folgendes sagen: Das »Lexikon des systemischen Arbeitens« von Jan V. Wirth & Heiko Kleve ist ein Nachschlagewerk, das sich an Fachkräfte aus dem Bereich der systemischen Beratung, Therapie, Coaching und Organisationsentwicklung richtet. Das Buch bietet einen Überblick zentraler Begriffe, Konzepte und Methoden des systemischen Ansatzes. Jedes Stichwort wird zunächst definiert und dann beschrieben, wobei theoretische Hintergründe mit praktischen Anwendungsmöglichkeiten verknüpft werden. Die Autor:innen legen dabei besonderen Wert darauf, die Vielseitigkeit des systemischen Ansatzes zu betonen. Dies spiegelt sich auch in der Auswahl der Begriffe wider, die sowohl klassische systemische Konzepte wie Autopoiesis als auch neuere Entwicklungen und Trends wie Agilität abdecken.

Eine der größten Stärken des Buches ist seine meist hohe Verständlichkeit. Fast allen Autor:innen gelingt es gut bis sehr gut, komplexe theoretische Konzepte in einer auch für Einsteiger:innen zugänglichen Sprache zu erklären. Die Ausführungen mancher Autor:innen (darunter Dirk Baecker, Lina Nagel und Alber Scherr) sind allerdings in Teilen so komplex, dass es gut möglich ist, dass manche Leser:innen sie mehrmals lesen müssen, um den Inhalt vollends zu erfassen. Das freilich muss nicht an den Autor:innen selbst liegen, sondern kann auch schlicht der Tatsache geschuldet sein, dass komplexe Themen sich nur begrenzt simplifizieren lassen, ohne unterkomplex und damit nicht orientierungsstiftend zu sein. Die größte Anzahl der Artikel ist leicht zugänglich, was das Lexikon gerade für Einsteiger:innen in die systemische Arbeit zu einem wertvollen Hilfsmittel macht. Aber auch erfahrene Berater:innen und Therapeut:innen können davon profitieren, ein solches Nachschlagewerk zu besitzen – und sei es nur, um im Bedarfsfall die Bedeutung von Konzepten nachzuschlagen, von denen Sie zwar gehört haben, mit denen sie in ihrer alltäglichen Praxis mangels realer Anwendung aber kaum je in Berührung kommen.

Positiv hervorzuheben ist auch die Praxisnähe der Einträge. Viele der beschriebenen Konzepte werden durch Beispiele aus der Beratungspraxis veranschaulicht, was die Anwendung in der eigenen Arbeit erleichtert. Das Ansinnen, einen Überblick zu liefern, erfüllt das Buch damit voll und ganz. Damit einher geht jedoch unweigerlich auch, dass die Tiefe der Auseinandersetzung mit den jeweils vorgestellten Begrifflichkeiten nicht allzu umfassend ist. Kontroversen und widersprüchliche Auffassungen, die zu manchen der vorgestellten Begriffe in der Fachwissenschaft durchaus existieren, werden kaum je aufgegriffen (beispielsweise existieren zu dem in dieser Rezension vorgestellten Schlagwort der »Teamarbeit« diverse Belege aus der sozialpsychologischen und betriebswirtschaftlichen Forschung, die zeigen, dass Teamarbeit auch schaden kann und dass Synergien in Teams längst nicht immer positiv wirken). Dass auf solche Fachdiskussionen im Lexikon nicht eingegangen wird, ist allerdings verständlich, da ein Lexikon eine so umfassende Auseinandersetzung, die eher in Fachjournalen stattfindet, unmöglich leisten kann. Es macht aber auch deutlich, dass Menschen, die sich umfassend mit systemischen Konzepten auseinandersetzen wollen, nicht umhin kommen, noch weitere Fachbücher zu der jeweils interessierenden Thematik zu lesen. Ein Verdienst des Werkes ist aber sicher, dass es durch die pointierten Artikel auf eben diese die Leser:innen potenziell interessierenden Thematiken aufmerksam machen und Lust auf mehr erzeugen kann.

Fazit

Jan V. Wirth und Heiko Kleve haben mit ihrem »Lexikon des systemischen Arbeitens« ein wertvolles Nachschlagewerk für alle herausgegeben, die in der Systemischen Beratung, Therapie und Organisationsentwicklung tätig sind oder dazu lehren. Das Lexikon bietet eine klare, praxisnahe Einführung in die zentralen Begriffe und Konzepte systemischen Arbeitens und ist aufgrund seiner meist hohen Verständlichkeit sowohl für Einsteiger:innen als auch für erfahrene Fachkräfte geeignet. Das Buch bietet ein solides Überblickswissen, wer eine vertiefte Auseinandersetzung mit den diversen Aspekten systemischen Arbeitens vornehmen will, kommt aber nicht darum herum, weiterführende Bücher und/oder Fachaufsätze hinzuzuziehen. Als Überblickswerk im Sinne einer ersten Anlaufstelle allerdings ist das Lexikon eine wertvolle Ressource, die in keiner systemischen Fachbibliothek fehlen sollte.

Rezension von
Prof. Dr. Christian Philipp Nixdorf
Sozialwissenschaftler, Diplom-Sozialarbeiter/-pädagoge (FH), Sozial- und Organisationspädagoge M. A., Case Management-Ausbilder (DGCC), Systemischer Berater (DGSF), zertifizierter Mediator, lehrt Soziale Arbeit und Integrationsmanagement an der Hochschule der Wirtschaft für Management (HdWM) in Mannheim.
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Zitiervorschlag
Christian Philipp Nixdorf. Rezension vom 05.09.2024 zu: Jan Volker Wirth, Heiko Kleve (Hrsg.): Lexikon des systemischen Arbeitens. Grundbegriffe der systemischen Praxis, Methodik und Theorie. Carl Auer Verlag GmbH (Heidelberg) 2023. 2. vollständig überarbeitete und erweiterte Auflage. ISBN 978-3-8497-0438-4. Reihe: Systemische Therapie und Beratung. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30651.php, Datum des Zugriffs 16.09.2024.


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