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Gert Hellerich: Das ewige Leben

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 30.05.2023

Cover Gert Hellerich: Das ewige Leben ISBN 978-3-7329-0904-9

Gert Hellerich: Das ewige Leben. Philosophische, theologische und soziologische Diskurse. Frank & Timme (Berlin) 2022. 187 Seiten. ISBN 978-3-7329-0904-9. D: 28,00 EUR, A: 28,00 EUR, CH: 42,00 sFr.

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Thema

Wollen, können, sollten wir ewig leben?

Es sind uralte, leidenschaftliche, philosophische, weltanschauliche, existentielle Fragen danach, was bios (βíος, vita) als Zustand des Seins und des Faktischen ist, wie pflanzliches, tierisches und menschliches Leben entsteht, ist und vergeht. Das humane Denken behilft sich dabei zweier Muster: Leben ist ontologisch von Gott gegeben, oder: Leben ist ein biologischer, natürlicher, evolutionärer Prozess. Alles Leben ist endlich, und das Bestreben, ewig leben zu können, ist eine Illusion. Weil der Mensch aber kraft seiner Vernunftfähigkeit in der Lage ist, Fragen zu stellen und zu beantworten: „Wer bin ich?“ – „Was kann ich wissen?“ – „Was soll ich tun?“ – „Was darf ich hoffen?“ (Immanuel Kant). Es ist der Anspruch, wissenschaftlich zu denken und sich wissenschaftlich damit auseinanderzusetzen, wie Leben auf der Erde ist und sein soll, was Thanatos (Θάνατος, mors), Tod, und was „Eros“ (Glück, Liebe, Menschlichkeit) ist (Hans-Peter Waldhoff, Im Spannungsfeld von Eros und Thanatos. Eine psychoanalytische und erkenntniskritische Untersuchung, 2017, www.socialnet.de/rezensionen/23350.php).

Entstehungshintergrund und Autor

Der soziale Fortschritt hat bewirkt, dass weltweit mehr als eine halbe Million Hundertjährige leben. Und „Supercentenariens“, Menschen, die zwischen 110 und 120 Jahre alt werden, sind bald nicht mehr die absoluten Ausnahmen und Sensationen, sondern eher Normalzustand. Der britische Biologe, Philosoph und Schriftsteller Julian Sorell Huyley (1887 – 1975) prägte 1957 den Begriff „Transhumanismus“ mit der Denkrichtung: „Mensch, der Mensch bleibt, aber sich selbst, durch Verwirklichung neuer Möglichkeiten von seiner und für seine menschliche Natur, überwindet“. Der US-amerikanische Psychologe und Präsident der „American Psychological Association“, Abraham H. Maslow (1908 – 1970), hat diese Vorstellungen in der Humanistischen Psychologie mit seinen Konzepten von der Bedürfnishaftigkeit und der Mystifizierung des Menschseins weiter entwickelt.

Der Sozialwissenschaftler Gert Hellerich fragt, was „ewiges Leben“ sein oder nicht sein kann. „Mit blindem Optimismus oder lähmender Angst kann man keine Zukunft bauen“; es kommt darauf an, selbst zu denken, sich nicht vom Machbarkeitswahn überfallen zu lassen, aber auch nicht konservativistischen, passiven Einstellungen und Verhaltensweisen hinzugeben.

Aufbau und Inhalt

Neben der Einleitung, in der Hellerich Begrifflichkeiten und Verläufe klärt, wie im individuellen und kollektiven, kulturellen und weltanschaulichen Bewusstsein der Menschen Meinungen über „Ewigkeit“, „Leben“, „Tod“, „Glauben“, „Unglauben“ sich gebildet haben, gliedert er seine Studie in drei Teile. Im ersten Teil setzt er sich auseinander mit: „Ewiges Leben als langlebiges Dasein: Was spricht dafür, was dagegen?“; im zweiten thematisiert er „Ewiges Leben in den Religionen“; und im dritten Teil stellt er fest: „Das ewige Nichts nach dem Tode“.

Die Spannweite der Fragen reicht von warum gewisse Menschen ewig leben möchten, andere nicht; welche Gründe herangezogen werden, zwar lange, aber nicht ewig leben zu wollen; bis hin zu faktischen Begründungen, warum der menschliche Wunsch nach ewigem Leben gegen die natürliche und humane Ordnung in der Welt spricht. Es kann nur darum gehen, den berechtigten, verständlichen Wunsch nach einem (gesunden, glücklichen) langen Leben zu verbinden mit der Hoffnung und dem tätigen Willen, dass es gelingen möge, allen Menschen auf der Erde ein gutes, gelingendes Leben zu ermöglichen. Es sind vor allem die wohlfeilen, bio-medizinischen, werbestrategischen, modischen und populistischen Strategien, die das „Aging“ der Menschen als eine Beleidigung und Korrekturbedürftigkeit betrachten und mit „Anti-Aging“ – Theorien und Praxen lebenserhaltende und -verlängernde Versprechen anbieten (Epigenetische und biostasische Methoden).

Treiber wie Warner des Ewigen-Lebens-Gedankens sind die Religions- und Glaubensgemeinschaften: Das Judentum mit dem „Alten Testament“, das Christentum mit dem „Neuen Testament“, der Islam mit dem „Koran“… Dass religiöses Denken und Bewusstsein sowohl die positiven, menschenwürdigen Seiten des Menschseins befördern, wie gleichzeitig Fanatismus und Menschenfeindlichkeit bewirken können, wird in der Janusköpfigkeit der Menschheitsentwicklung deutlich: Gut und Böse, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, Glück und Unglück. Die Frage, was nach dem Tod ist, kann deshalb nur individuell und intellektuell beantwortet werden: Hölle oder Paradies, das „ewige Nichts“. Und es stellt sich die Herausforderung, im humanen Leben daran zu arbeiten, dass und wie es gelingen könne, die Menschen davon zu überzeugen, dass sie aufgeklärt und gebildet sein wollen, und erkennen, dass Leben endlich ist.

Diskussion

„Viele Menschen halten an religiösen Vorstellungen (dem ewigen Paradies) oder an nihilistischen Vorstellungen (dem ewigen Nichts) fest“. Gedanken-, Gewissens-, Religions- und Meinungsfreiheit sind allgemeingültige, nicht relativierbare Menschenrechte (Menschenrechtsdeklaration, Art. 18 und 19). Die Schweizer-US-amerikanische „Future Agency“ wirbt mit der entwaffnenden Aussage: „It wasn't raining when Noah built der Ark“. Es sind die Perspektiven – „Verstehen des exponentiellen Fortschritts und dessen Folgen!“ – „Die großen Herausforderungen des Lebens zu Chancen entwickeln!“ – „Menschlichkeit leben!“ – „Technologie hat keine Ethik – ohne Ethik kein Menschsein!“ – „Die richtige Balance zwischen den positiven und negativen Folgen bei exponentiellen Technologien finden!“ – „Humanismus ist lernbar!“ – „Den Unterschied zwischen den Realitäten und Simulationen erkennen!“ – „Nicht nur nach dem Wie, sondern auch nach dem Warum und dem Wer fragen!“ – „Es muss das Allgemeinwohl und nicht die technologische oder kapitalistische Verwertbarkeit im Vordergrund stehen!“ – die eine gegenwartsverantwortbare und zukunftssichernde menschliche Existenz sinnvoll und effektiv machen. Es ist Zeit für Entscheidungen, ob sich der Mensch die Technik für sein humanes Leben nutzbar machen kann, oder ob er sich ihr unterordnen soll (Gerd Leonhard, Technology vs. Humanity. Unsere Zukunft zwischen Mensch und Maschine, 2017, www.socialnet.de/rezensionen/23155.php). Ganz aktuell sind hierbei die Diskussionen und Auseinandersetzungen, wie sich die Entwicklung der KI auf gegenwärtiges und üzukünftiges menschliches Leben auswirkt, welche Ziele dabei verfolgt und welche Stopps eingezogen werden müssen (siehe z.B. das Interview über ethische Grundlagen der KI-Entwicklung mit Wolfgang Schulz: Ausser Kontrolle? Newsletter vom 5. 4. 2023, www.unesco.de/). Die Rede ist von der „Vierten industriellen Revolution“ (die der Mensch nicht einfach über sich ergehen lassen darf, sondern sie mit den Mitteln und den Mut zwischen Kontrolle und Freiheit gestalten muss (Otto Hansmann, 2016), und von der Kompetenz, faktische, intelligente, pragmatische und humane Mittel zu finden für ein menschenwürdiges Dasein (Richard Rorty, Pragmatismus als Antiautoritarismus, 2023, www.socialnet.de/rezensionen/30605.php).

Der wissenschaftliche Diskurs über das Altwerden und Altsein ist in vollem Fluss. Eine Auffassung will ich hervorheben: „Open Mind“, geistig und körperlich! Der Heidelberger Psychologe Andreas Kruse gibt den Rat: „Es hilft dabei, wenn man das Altwerden als Biomorphose begreift, wenn man sich darauf einstellt, dass es einhergeht mit dem Abschied von einer bisher vertrauten Körperlichkeit, eine Vorstufe, dass man langsam aus dem Leben geht. Das Mehr an Jahren gibt einem ein Mehr an Möglichkeiten, sich auf den Tod vorzubereiten“ (DIE ZEIT, Nr. 15 vom 5. 4. 2023, S. 35).

Kann es „ewiges Leben“ als wissenschaftliche, atheistische Auffassung geben? Die Frage berührt die Grenzen des menschlichen Denkens, wie gleichzeitig Abenteuer und Wagnis des Denkens. Gert Hellerich wagt sich heran. Er liefert freilich keine Rezepte ab, und er hält sich auch mit Spekulationen zurück; vielmehr bietet er Anregungen zum Selbstdenken an.

Fazit

Das Essay „Das ewige Leben“ kann gewinnbringend auf den Nachttisch gelegt werden. Es ist vorstellbar, es in der schulischen, universitären und Erwachsenenbildungsarbeit einzusetzen. Bei intellektuellen, literarischen Lese- und Diskussionszirkeln hat es einen guten Platz!

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
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Es gibt 1702 Rezensionen von Jos Schnurer.

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ISSN 2190-9245