Philipp Sonntag: Erinnerungskultur
Rezensiert von Dr. phil. Hubert Kolling, 28.06.2023

Philipp Sonntag: Erinnerungskultur. Die gesellschaftliche Rolle von Zeitzeugen. Frank & Timme (Berlin) 2023. 196 Seiten. ISBN 978-3-7329-0949-0. D: 29,80 EUR, A: 29,80 EUR, CH: 44,70 sFr.
Thema
Zeitzeugen, also jene Personen, die von bestimmten historischen Ereignissen Zeugnis geben können, weil sie zu der betreffenden Zeit gelebt haben, spielen für die Erinnerungskultur und die historisch-politische Bildung eine wichtige Rolle. Im vorliegenden Buch wird die bedeutende gesellschaftliche Rolle von Zeitzeugen verdeutlicht und die breite Palette von Geschehnissen, in denen es auf eine klare, wirksame Erinnerungskultur ankommt, an Hand zahlreicher Beispiele veranschaulicht.
Autor
Dr. rer. nat. Philipp Sonntag (Jahrgang 1938) überlebte den Holocaust als ein Child Survivor (Überlebender des Holocaust). Von 2010 bis 2021 war er Vorstandsmitglied des (zum 31. Dezember 2021 aus Alters- und Gesundheitsgründen aufgelösten) Vereins „Child Survivors Deutschland – Überlebende Kinder der Shoah e.V.“ (kurz: CSD); zu den vielen bitteren Schicksalen gab er eine Reihe von Büchern heraus. Der Autor, der Physik und Politische Wissenschaften in München studierte, war von 1964 bis 1978 Mitarbeiter von Carl Friedrich von Weizäcker (1912-2007). Beruflich forschte er zu Katastrophen und Kriegen, insbesondere zur Dynamik von „eigentlich unnötigen katastrophalen“ Entwicklungen, wozu er auch zahlreiche Publikationen vorlegte, darunter „Ein Planet verteidigt sich: politometrische Untersuchung der globalen Aufrüstung“ (Berlin 1981), „Verhinderung und Linderung atomarer Katastrophen“ (Bonn 1981), „Rüstung und Ökonomie“ (Frankfurt am Main 1982), „Der Streit um die atomare Bewaffnung: Argumente der Ära Adenauer“ (Frankfurt am Main 1982) und „Die politische Steuerung der rüstungstechnischen Entwicklung“ (Berlin 1983). Zu seiner Erinnerungskultur gehören Kontakte zu den „Göttinger 18“ Atomphysikern und zu den Pionieren der Informationsgesellschaft. Im Vorstand von „Netzwerk Zukunft“ kommentiert er fortlaufend grundlegende Veränderungen.
Entstehungshintergrund
Für die anschauliche Darlegung und Vermittlung von Erinnerungskultur vor dem Hintergrund sozialer Strukturen stützt sich Philipp Sonntag vor allem auf Erfahrungen aus dem Tagebuch- und Erinnerungsarchiv Berlin e.V. (TEA), in dessen Wissenschaftlichen Beirat er Mitglied ist.
Aufbau
Nach einer Einführung (S. 9–11) gliedert sich das knapp 200 Seiten umfassende Buch in die folgenden neun Kapitel, die ihrerseits in zahlreiche Unterkapitel und Abschnitte aufgeteilt sind:
- Vielfältige Erinnerungskultur (S. 13–39)
- TEA: Ein typisches Tagebuch und Erinnerungsarchiv (S. 41–45)
- Zeitzeugen als „basisdemokratische Historiker“ (S. 47–94)
- Umgang mit eigenen Erinnerungen (S. 95–112)
- Regierungsformen und Auswirkungen auf Betroffene (S. 113–122)
- „Europa erzählen“ als politisches Projekt (S. 123–132)
- Umgang mit Willkür und Gewalt (S. 133–158)
- Medien: Wer oder was kennt mich besser als ich selbst? (S. 159–179)
- Erinnerungskultur für Hoffnung auf bessere Zukunft (S. 181–191).
Inhalt
In seiner Einleitung weist der Autor darauf hin, dass Zeitzeugen in den letzten Jahrzehnten verstärkt Beachtung erfuhren, insbesondere von Pädagogen, Historikern, Sozialpsychologen und anderen Wissenschaftlern, wobei ihre Berichte häufig durch Dokumente wie Zeugnisse, Ernennungsurkunden, Baupläne, Familienbilder, Briefe, Haushaltsgegenstände, technische Geräte oder Zeitungsartikel – „durch anschauliche Dinge“ (S. 9) – ergänzt würden. Dabei werde von Zeitzeugen – geradezu herausfordernd – erwartet, dass sie authentisch schreiben und ehrlich berichten. Unterdessen sei es nicht einfach, so Philipp Sonntag, dafür entspannt und einfühlsam zu bleiben, wenn einen die Erinnerungen aufregen und belasten. Ein Schwerpunkt des vorliegenden Buches, das „aus bitteren bis angenehmen Erfahrungen heraus zu einer grundlegend besseren Gestaltung der Zukunft“ anregen möchte, seien „die Schicksale von Kindern, die durch Traumata für lange Zeit ihres Lebens geschädigt wurden“ (S. 11). Hoffnung gäbe, was Zeitzeugen besonders gerne berichten: wie etwa mitten in einer erschreckenden Welt das Herstellen von Kindeswohl trotzdem gut gelang.
Entgegen der Erwartung geht es in dem Buch jedoch nicht um das Schicksal von Kindern des Holocaust und ihre Traumata, sondern vielmehr – wie die Gliederungspunkte zeigen – um die Vielfalt der Erinnerungskultur, den Umgang mit den eigenen Erinnerungen, die Gesellschaft und ihre Regierungsform und nicht zuletzt um eine europäische Sichtweise, wobei die Themen Willkür und Gewalt ebenso zur Sprache kommen wie die Bedeutung der modernen Medien.
An den Anfang von jedem Kapitel hat der Autor eine (kursiv abgesetzte) Zusammenfassung der wesentlichen Inhalte gesetzt. So beginnt beispielsweise das dritte Kapitel „Zeitzeugen als ‚basisdemokratische Historiker’“:
„Jegliche Geschichtsschreibung ist problematisch. Zeitzeugen ergänzen an der Basis die Historiker. Sie fügen Emotionen und Wissen über Betroffenheiten aller Art hinzu. Sie machen für den Lesenden nacherlebbar, was sachliche Fakten eben nicht leisten können. Dies ist einmalig wertvoll und unverzichtbar. Es ist bis hin zu Details realistisch. Zwar gibt es objektiv ‚falsche Erinnerungen’, aber das liegt in der der Natur der Sache, und wie im Justizwesen gilt für jeden Zeitzeugen erstmal der Unschuldsverdacht. Für jedes Ereignis, welches viele Menschen betrifft, kann ein Mosaik entstehen, das ein plausibles Gesamtbild ergibt“ (S. 47).
In diesem Zusammenhang weist Philipp Sonntag darauf hin, dass es die in Deutschland üblichen Zeitzeugen in aller Regel leicht haben, indem sie frei schreiben können und weder finanziell noch sonst wie von einem Arbeitgeber oder einer Förderung abhängen; zudem würden ihre Angehörigen von keiner Polizei verfolgt: „Sie dürfen ganz als sie selbst schreiben und so ‚zur Vielfalt der Meinungen’ beitragen“ (S. 72). Leider gebe es einen fließenden Übergang zu Schreibern, die versuchten, sich als Zeitzeugen darzustellen, während sie Fake News, Falschmeldungen verbreiten, etwa im Umfeld von extremistischen Parteien.
Vor dem Hintergrund des Holocausts und Krieges, aber auch der Mauertoten in der DDR, besteht für den Autor kein Zweifel daran, dass Zeitzeugen „zuweilen ein dickes Fell brauchen“, da gerade sie oft den Unterschied zwischen legal und legitim erkennen würden: „Wer wie sie schreibt, ist erstmal aufgewühlt. Tagebücher, Erinnerungen, das ist seelisches Dynamit. Es kann gefährlich sein, wie Minen, die nach dem Krieg nicht entschärft wurden“ (S. 115). Unterdessen sei eine Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit in vielen Nationen problematisch und geschehe, soweit überhaupt, nur langsam. Besonders nach einem Krieg gäbe es oft wenig Selbstkritik, aber viel sich aufstauenden Groll. Dies müsse aufgearbeitet werden, um „die Auswirkung mangelnder Demokratie zu verstehen und zu überwinden“ und „als Opfer wenigstens eine gewisse Linderung des seelischen Schmerzes zu erreichen.“ Letztlich gehe es darum, „für alle (!) eine Aussicht, Zuversicht, Hoffnung auf eine friedliche Zukunft zu schaffen“ (S. 120).
Im Kapitel „Europa erzählen“ macht Philipp Sonntag wie folgt auf die Bedeutung der Erinnerungskultur aufmerksam: „Wir müssen einander finden. Kern einer überlebbaren, lebensgestaltenden Zukunft sind Vertrauensbildende Maßnahmen (VBM). Sie beginnen an der Basis, im vertrauten eigenen Umfeld, welches man selbst Fremden (aus anderen Ländern) gut vermitteln kann“ (S. 123). Zeitzeugen könnten dazu vorbildlich beitragen – insbesondere soweit es gelingt, Fremde zu motivieren, mit ihren Schicksalen selber zu Zeitzeugen zu werden. Auf diesem Wege könne, so der Autor, an der Basis Fremdenhass aufgelöst und ausradiert sowie womöglich gemeinsam ein Weg zu einer global fairen Wirtschafts- und Sozialpolitik erkannt und angestrebt werden.
Ein recht umfangreiches Kapitel widmet Philipp Sonntag auch der aktuellen Entwicklung der Medien, wobei durch den technologischen Wandel „völlig neue Arten von Zeitzeugen. Sogar virtuelle wie in den sozialen Netzwerken“ (S. 159) dazukämen. Manches Zeugnis, etwa durch die Nutzung des Smartphones, werde dabei unfreiwillig abgelegt, wobei es zur Informationsbeschaffung zu kommerziellen Zwecken Angriffe, Übergriffe und Zugriffe mit gezielt zupackender Software gäbe. Die Digitalisierung, obwohl sie Erleichterung verspricht, gehe bisher nicht in Richtung einer Entlastung und Entspannung der Menschen. Von daher erfordere es im Hinblick auf den Rechtsstaat „eine laufende Weiterentwicklung der staatlichen Organe“ (S. 171).
Diskussion
Das Buch „Erinnerungskultur“, das sich spannend liest und einen immer wieder zum Nachdenken anregt, beleuchtet anhand von zahlreichen Beispielen anschaulich die bedeutende gesellschaftliche Rolle von Zeitzeugen. Ihre Berichte sind authentisch, einfühlsam und nachdenklich. Zeitzeugen haben nach Ansicht von Philipp Sonntag eine eigene Erinnerungskultur, die für das Verstehen der Entwicklung der Menschheit unschätzbar wertvoll ist.
Während der Autor die breite Palette von Geschehnissen veranschaulicht, in denen es auf eine klare, wirksame Erinnerungskultur ankommt, bewertet er die aktuellen gesellschaftlichen Umbrüche als „dramatisch“ (S. 181). Existenzielle Bedrohung von Klima und Frieden müssten „global“ gesehen und gemeinsam gelöst werden: „Wir müssen endlich raus aus unserer Vorstufe von Zivilisation“ (S. 182). Mit Blick in die Zukunft – konkret auf das Jahr 2123 – konstatiert er etwa, dass der Minimallohn durch einen Maximallohn ergänzt wurde. Für Firmenleiter, Manager, hierarchisch hohe Posten in Behörden usw. gelte nun: „Niemand darf mehr als das Fünffache des Minimallohnes verdienen“ (S. 183).
Wie allein schon die vorstehenden Zeilen zeigen, bietet Philipp Sonntag seiner Leserschaft in „Erinnerungskultur“ weit mehr, als der Buchtitel erahnen lässt. Letztlich stellt er darin zahlreiche interessante Gedankengänge und vielfältige Denkanstöße zur besseren Gestaltung der Zukunft vor, denen eine große Leserschaft zu wünschen ist.
Fazit
„Erinnerungskultur“ beleuchtet facettenreich die Vielfalt der Erinnerungskultur und die bedeutende gesellschaftliche Rolle von Zeitzeugen. Die Lektüre des Buches sei allen ans Herz gelegt, denen (nicht nur in unserer Gesellschaft) die bessere Gestaltung der Zukunft von Bedeutung ist.
Rezension von
Dr. phil. Hubert Kolling
Krankenpfleger, Diplom-Pädagoge und Diplom-Politologe
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