Marion Tielemann (Hrsg.): Die 100 Sprachen der Pädagog:innen
Rezensiert von Prof. Dr. Eckart Riehle, 28.07.2023
Marion Tielemann (Hrsg.): Die 100 Sprachen der Pädagog:innen.
verlag das netz GmbH
(Kiliansroda) 2022.
51 Seiten.
ISBN 978-3-86892-183-0.
D: 12,90 EUR,
A: 13,30 EUR.
Reihe: Betrifft Kinder Extra.
Thema
Was sollte in Kindertagesstätten in der Kommunikation zwischen Kindern und Pädagoginnen anders laufen? Ratgeber über die Erziehung in Kindertagesstätten gibt es in Hülle und Fülle. Dazu auch Bildungspläne und Bildungsempfehlungen der Länder. Aber werden sie dem gerecht, was sich an Möglichkeiten in der Interaktion zwischen Pädagog:innen und Kinder eröffnet. Dazu gibt das Buch eine klare Antwort: Nein.
Autor:innen und Herausgeberin
Über die Herausgeberin Marion Tielemann, kann man erfahren, dass sie Mitglied des wissenschaftlichen Beirates von Dialog Reggion e.V. und Anerkennungsbeauftragte für Kitas ist, die Reggio inspiziert arbeiten möchten (50). Sie hat das Buch auf den Weg gebracht und den Titel aus dem Gedicht von loris Malaguzzit entnommen. Hierbei handelt es sich um das Gedicht „Ein Kind ist aus HUNDERT gemacht“, bei dem sie den Ausdruck „Kind“, durch den Ausdruck „Pädagoginnen“ ersetzte.
Mit dem Begriff Reggio Pädagogik werden die Konzeption und Praxis der kommunalen Kindertagestätten in der Stadt Reggion Emilia bezeichnet. Die Kinder sollen sich individuell nach ihren Möglichkeiten entwickeln und selbst verwirklichen. Die Kindertageseinrichtungen in Reggio Emilia wurden vom Newsweek Magazin einst zum besten „Early Childhood Education“ Programm der Welt gekürt.
Das Buch mit 50 Seiten besteht neben einem Vorwort aus Beiträgen von 16 Autoren-innen. Nicht alle Autor:innen wollen namentlich erwähnt werden, nicht immer findet man deshalb einen Hinweis auf S. 51, über ihr Tätigkeitsfeld.
Entstehungshintergrund
Die Herausgeberin hat das Buch auf den Weg gebracht. Manchmal denkt sie, „dass das Wissen um die immense Bedeutung von Kindheit für eine gesunde Entwicklung Gefahr läuft“, verloren zu gehen. Dem soll das Buch entgegenwirken.
Inhalt
Vorwort
Im Vorwort verweist Marion Tielemann auf die Vielfalt der Bildungspläne- und Empfehlungen, welche seit PISA auf dem Markt sind. Sie fügt an, dass von den ca. 58.000 Fachkräften, die in Kitas tätig sind, nur 1 % an der Entwicklung der Pläne beteiligt waren, „99 % wurden sie übergestülpt“ (4) und wer, so ihre berechtigte Frage, soll die Ausarbeitungen der Bildungspläne mit bis zu 500 Seiten lesen (4 f.)? Wen wundert es, dass sie vor Ort kaum gelesen werden? Es verwundert dagegen, so fährt sie fort, warum so selten auf frühere Philosoph:innen und Pädagog:innen hingewiesen wird, die in ihren hundert Sprachen über ihre hundert Sprachen berichten. Mit allen Autorinnen verbindet die Herausgeberin eine berufliche und oft auch persönliche Geschichte, welche sie den jeweiligen Beiträgen vorangestellt hat.
Barbara Nelle, hat ihre100 Sprachen als Malerin und sie gebraucht das Thema der 100 Sprachen im Zwiegespräch mit dem leeren Papier oder dem weißen Blatt. Die leere Fläche ist eine Frage „Was hast du vor“ (16). Die Antwort kann ein Klecks Farbe sein. Sie resümiert, „Kunst spricht 100 Sprachen“ (17).
Eddy Mühlhausen und Sonja Wertheim (30 f.) sehen ihre Aufgabe darin, die 100 Sprachen nicht aussterben zu lassen, sondern sie immer wiederzubeleben. Sie sind die Hüter der 100 Sprachen und ermutigen die Kinder ihre 100 Sprachen zuzulassen. „Mit Kopf, Herz und Hand, nonverbal, mit Gestik und Mimik, mit Berührungen und mit Worten, mit Fantasie oder mit dem Handpuppenhund.“
Pauline Fröhlich, macht besonders ihr Austausch mit ihren Kolleginnen an einer Fachhochschule für Sozialpädagogik wütend. Für sie gilt: Nur wer das Kind in sich aufbewahrt, stellt Nähe mit den Kindern her (34). Nach einem Umweg über die Erbsenzähler-Pädagogik, fragt sie die Kinder, die nach dem Wunsch der Eltern an ihren Vorschulmappen arbeiten sollten, worauf sie Lust haben. Die sagten, sie möchten Hochzeit feiern. Am nächsten Tag zogen sie verkleidet durch die Straßen. Mit Musik vorneweg, manche Mütter brachten selbstgebackenen Kuchen mit, es wurde getanzt und gesungen. Leute fragten, wo ist denn eigentlich die Erzieherin. Den Begriff mochte sie noch nie, schreibt Pauline Fröhlich (35).
Dagmar Lenz berichtet, dass Teamtage oder Fortbildungen bei ihnen häufig mit einem Rückblick in die eigene Kindheit beginnen. Wo habe ich am liebsten gespielt (37)?
Christoph Dangelat arbeitet seit neun Jahren in einem Kindergarten südlich von Greifswald und seit drei Jahren ist das größte Abenteuer mit offenem Ausgang für ihn die Frage, wie man einen Kindergarten selbstorganisiert, also ohne Leiter oder Leiterin führen kann, der auf die klassische Hierarchie verzichtet (38).
Schweden ist das Land, indem die Reggio Pädagogik neben Italien die meiste Verbreitung findet (40), ihr Einfluss ist heute kaum mehr wegzudenken.
Verena Görgen erzählt, wie sich die Reggio Pädagogik an die schwedische Umwelt angepasst hat. Es hat sie überrascht, wie Bildung und Erziehung hier nicht hinter verschlossenen Türen stattfinden -sondern inmitten der Gesellschaft. (41). Wichtig ist dabei, die Dinge mit allen Sinnen zu erkunden, jedenfalls mehrsprachig, etwa durch einfache Fragen, wie fühlt sich das an, ist das schwerer oder leichter, was hörst Du wenn Du die Augen schließt. (42).
Von Regina Grabbet lernt man, wie Kinder gerne ihre Traurigkeit hinter sich lassen.
Nele Schlapkohl arbeitet an der Europa Universität Flensburg, und unterrichtet die Anwendung impliziten Wissens im Sport, eine Sprache in einem Bildungssegment, das ganz besonders und folgenreich an Spracharmut leidet (47).
Von Marion Thielemann erfährt man, was passieren würde, wenn das Mittagessen sprechen könnte. Das fragt den 3-jährigen Hannes, willst Du mich aufessen, Fleisch, Kartoffeln Erbsen und Möhren? Nein, sagt Hannes, ich esse Nachtisch.
Die Herausgeberin wirft dann die Frage auf, was Elementarpädagoginnen wirklich brauchen. Das führt sie aus und jeder kann es auf S. 49 nachlesen, wie eine solche Bildungsstätte aus ihrer Sicht aussehen würde, aus der sie sofort jede Pädagogin und jeden Pädagogen in der Praxis einstellen würde.
Diskussion
Man kann das Buch lesen, indem man auf die 100 Sprachen der Pädgog:innen achtet und auf die 100 Sprachen der Kinder. Eine Vielfalt semantischer Systeme, wie eine Vielfalt musikalischer Instrumente in einer Improvisation von Saxofon, Bassgitarre, Klavier und Schlagzeug. Dabei wird deutlich, wie sehr beide Sprachen nicht anders als Musikinstrumente, auf den Dialog und auf Resonanz angewiesen sind. Aber bei allen Unterschieden, Verständigung ist immer möglich, wo jeder eine Sprache hat und jeder den anderen respektiert
Dass das nicht immer funktioniert, wie auch im Alltag liegt auf der Hand, und muss in den Beiträgen nicht eigens thematisiert werde.
Vor allem aber wird deutlich, wie unterschiedlich Sprache sein kann. Als Wort, als Blick, als Material, als Zeichnung, als Berührung, als Musik oder auch als Gefühl.
Den 100 entsprechen viele Möglichkeiten, wie Sprache gestaltet werden kann. Deutlich wird aber auch die Gefahr, wie sehr die Sprache der Erwachsenen die Sprachentwicklung der Kinder gefährden kann, orientieren sie sich nur an der Sprache der Erwachsenen und nicht auch etwa an der etwa von Hänsel und Gretel.
Fazit
Die Lektüre eignet sich nicht nur für Mitarbeiter einer Kita, für Erwachsene mit Kind, vielmehr für jeden, der bereit ist seine eine Sprache, die ihn einschließt oder auch fesselt zu öffnen, um mit sprachlicher Freiheit ein mehr an Freiheit zu gewinnen.
Rezension von
Prof. Dr. Eckart Riehle
em. Professor für öffentliches Recht und Sozialrecht an der Fachhochschule Erfurt. Rechtsanwalt, Karlsruhe
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Zitiervorschlag
Eckart Riehle. Rezension vom 28.07.2023 zu:
Marion Tielemann (Hrsg.): Die 100 Sprachen der Pädagog:innen. verlag das netz GmbH
(Kiliansroda) 2022.
ISBN 978-3-86892-183-0.
Reihe: Betrifft Kinder Extra.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30683.php, Datum des Zugriffs 03.11.2024.
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