Suche nach Titel, AutorIn, RezensentIn, Verlag, ISBN/EAN, Schlagwort
socialnet Logo

Margret Hamm (Hrsg.): Ausschluss und „Euthanasie“ gestern – Sterbehilfe und Teilhabe heute

Rezensiert von Heribert Wasserberg, 08.06.2023

Cover Margret Hamm (Hrsg.): Ausschluss und „Euthanasie“ gestern – Sterbehilfe und Teilhabe heute ISBN 978-3-86331-685-3

Margret Hamm (Hrsg.): Ausschluss und „Euthanasie“ gestern – Sterbehilfe und Teilhabe heute. Leben mit dem Stigma. Metropol-Verlag (Berlin) 2023. 351 Seiten. ISBN 978-3-86331-685-3. D: 26,00 EUR, A: 26,80 EUR.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.
Inhaltsverzeichnis bei der DNB.

Kaufen beim socialnet Buchversand

Thema: Überleben

Die Bewohner des Ahrtals, die Betroffenen des Terroranschlags auf dem Breitscheid-Platz in Berlin, die Opfer sexualisierter Gewalt, die Opfer der Wende 1989, die Opfer der Kleinkriminalität, zum Beispiel eines Fahrraddiebstahls – sie alle werden von denselben immer wieder kehrenden quälenden Erfahrungen und Fragen begleitet. Schert's wen? Und: Wen schert's?

Gleichzeitig ist das Opfer-Narrativ längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen, und der tatsächliche und der behauptete gesellschaftliche Umgang mit den Opfern und den Tätern dominiert die Debatte. Verschwörungsmythologische Kommunikationen haben längst die Nische verlassen und dominieren die Auseinandersetzung zwischen Regierung und Opposition. Wir werden von einer Mafia beherrscht, die uns bedroht und alles nimmt, so lautet das Narrativ. Dieses ist deshalb ausgesprochen erfolgreich, weil es Ausgrenzungs- und Opfererfahrungen bzw. -befürchtungen adressiert, die in der Bevölkerung verbreitet sind. „Wir sind Opfer“ ist das dominante Narrativ. In ihm lebt die Gewalt vergangener Diktaturen und Kriege fort.

Auch die vulnerablen Personengruppen, die man im Nationalsozialismus zu vernichten versuchte, können sich nicht beruhigen lassen. Sie beklagen schon von jeher eine völlige Gleichgültigkeit breiter Teile der Bevölkerung über die geschehenen Verbrechen, erhielten, wenn überhaupt, Almosen statt Wiedergutmachungen. Sie sind daher auf der Hut. Und fragen sich, was sie noch zu schützen vermag, wenn die Zeitzeugen verstummt sind, und nur noch Bücher davor zu warnen vermögen, dass sich wiederholen könnte, was geschehen ist. Es sind wir, denen sie es zutrauen, sie erneut zu vernichten, vielleicht noch nicht heute, aber morgen. Und sie sehen sich unter dem Druck, uns irgendwie daran zu hindern. Und daher werden sie nicht müde, alles in ihren Kräften Mögliche zu tun, um ihr Überleben zu verteidigen. Zusammen mit ihren Freunden, und zusammen mit denen, die ihre Sorge teilen. Das im folgenden zu rezensierende Buch ist von daher ein Akt der Verteidigung des eigenen Überlebens.

Herausgeberin

Margret Hamm, geboren 1945, war bis zum Jahr 2009 die Vorsitzende des Bundes der „Euthanasie“-Geschädigten und Zwangssterilisierten (BEZ). Es ist ihre Lebensaufgabe, die Betroffenen in ihren Auseinandersetzungen mit den Behörden zu unterstützen und ihnen eine Stimme zu geben.

Interessenskonflikt?

Der Rezensent hat keinen Kontakt zu dem Personenkreis, aus dessen Mitte heraus das Buch entstanden ist, hat aber ebenfalls eine genetische Disposition, die in der Zeit des Nationalsozialismus und danach zur Stigmatisierung, Entrechtung und Vernichtung von Menschen geführt hat und mit deren Stigma auch er leben muss. Aufmerksam auf das Buch wurde er jedoch durch das Stichwort „Sterbehilfe“.

Das Buch im Überblick

Im Klappentext wird das Buch wie folgt vorgestellt:

„Initiiert vom „Bund der ‚Euthanasie‘-Geschädigten und Zwangssterilisierten“, wurden in den zurückliegenden Jahren Interviews mit zahlreichen Überlebenden geführt, die Ausschluss und Zwangssterilisation in der Zeit des Nationalsozialismus selbst erlitten haben, ebenso wie mit Angehörigen von Opfern der NS-‚Euthanasie‘, deren Familienmitglieder ermordet worden waren. Die Autorinnen und Autoren des Bandes haben sich jeweils einem Schicksal zugewandt und die Lebens- und Leidenswege von als ‚lebensunwert‘ Stigmatisierten nachgezeichnet und dabei ebenso differenzierte Herangehensweisen gewählt wie individuelle Perspektiven eingenommen. Ergänzt werden die biografischen Beiträge um wissenschaftliche Essays zu Themen wie dem Ehegesundheitsgesetz, zu Denunziation, Traumata, Ausschluss und Teilhabe, Sterbehilfe und Triage.“

Inhalt

Konzentrische Struktur

Das Buch, ein Sammelband hat eine konzentrische Struktur:

  1. Den Kern des Buches bilden die sieben biografischen Beiträge (S. 79–264) zum Leben mit dem Stigma als Betroffene und Angehörige von Zwangssterilisierten und „NS-Euthanasie“-Opfern, während des Nationalsozialismus und bis zur Gegenwart.
  2. Diese Beiträge werden gerahmt von Essays, welche sie einleiten (S. 13–73, 75–79), wesentliche Aspekte des Stigmas vertiefen (S. 73–75, S. 265–313: NS-Medizin, Denunziation, Eheverbot und Zwangsscheidung), und den langsamen Paradigmenwechsel vom Stigma zur Teilhabe behandeln.
  3. In einem weiteren konzentrischen Kreis wird das Thema nationalsozialistischer Stigmatisierung „lebensunwerter“ Menschen mit aktuellen biopolitischen Kontroversen gerahmt: Sterbehilfe und Triage (S. 324–328).
  4. Den letzten konzentrischen Kreis bilden die Serviceteile des Buches: das Inhalts- und das Autorenverzeichnis und die beiden Vorworte.

Die biografischen Studien

Die Existenzberechtigung des Buches begründen die biografischen Beiträge, ohne sie gäbe es dieses Buch nicht. Sechs von ihnen sind Studien von Studierenden der Hochschule Mannheim, welche unter der Leitung von Professor Dr. Joachim Weber entstanden, und von Weber selbst. Sie analysieren ein verschriftetes Zeitzeugen-Interview.

Der siebte biografische Beitrag ist das autobiographische Stück der „NS-Euthanasie“-Forscherin Barbara Degen. Sie berichtet unter dem Titel „Die blutende Wunde“ ergreifend über „,Euthanasie‘ in meiner jüdisch-polnischen-deutschen Familiengeschichte“.

Das „Programm“ dieser Arbeiten ist, die Individualität jeder einzelnen Geschichte zu zeigen, jeder einzelnen Person, die zum Opfer einer nationalsozialistischen Zwangssterilisierung oder Krankenmordes wurde. Hinter jedem Opfer, so Joachim Weber „steht eine einzigartige Geschichte, weil das Verbrechen jeweils in eine höchst individuelle Lebenssituation hinein geschah, je besondere Reaktionen bei den Opfern auslöste, und schließlich von den Betroffenen auf höchst eigen-sinnige Weise biografisch verarbeitet wurde“ (75).

Hervorheben möchte ich aus den durchfältig sorgfältig, sensiblen und gewissenhaften Studien die Arbeit von Tanja Göger „Maria Stephan und der ‚eifrige‘ Doktor. Die ‚Euthanasie‘ einer Mutter und wie Paul Nitsche zu ihrem ‚Henker‘ wurde“. Hier werden der Werdegang des Leiters der Heil- und Pflegeanstalt Pirna-Sonnenstein Paul Nitsche und der Werdegang von Maria Stephan, eines der 13.000 Menschen, die an diesem Ort der „Aktion T4“ getötet wurden, rekonstruiert und nacherzählt.

Anders als die anderen berichtet Barbara Degen über ihre eigene Familiengeschichte und über ihre eigene Geschichte als Angehörige eines Opfers der NS-Krankenmorde, und über ihren Weg zur Ermittlung der Wahrheit und ihrer biographischen Identität. Sie leitet ihren Beitrag wie folgt ein: „Die Forschung zur eigenen Familiengeschichte kommt mir vor wie das Schälen einer Zwiebel. Unter jeder Haut verbirgt sich eine neuen Haut, und ich schäle oft weinend weiter, um zu einem Kern vorzudringen […] Es ist die Suche nach der Wahrheit, die diese Suche so schmerzhaft macht. Ich mute sie mir immer zu […] Ich brauche spudelnde Quellen, um neuen Mut zu schöpfen, um mich zu erholen und nicht zuletzt, um die Widerstände bei dieser Suche ertragen zu können“ (245).

Diskussion

Der hohe Grad an Individualisierung moderner westlicher Gesellschaften wird vielfach als anstrengend und destruktiv erlebt. Wie können heutige Gesellschaften ihren Modernisierungspflichten wie zum Beispiel der Notwendigkeit ihrer Dekarbonisierung noch gerecht werden, wenn auch noch der letzte Bürger „dabei mitgenommen werden muss“, fragen sich viele genervt, immer wieder, auch der Rezensent. Liest man aber dieses Buch, so gerät man in den Maschinenraum der Demokratie, dort, wo einem die Einzigartigkeit jedes Menschen begegnet, und wo einem deren Mißachtung begegnet. Dieses Buch führt vor Augen, dass die demokratische Gesellschaftsordnung auf der Individualität der in ihr lebenden Menschen beruht – und nur dies das Überleben dieser Menschen zu sichern vermag, soweit es um den Schutz vor inneren Gefahren geht. Dieses Buch schärft die Sensibilität für die Einzigartigkeit jedes einzelnen Menschen als Grundlage des menschlichen Zusammenlebens.

Hierzu leisten auch die Essays zu den wesentlichen Elementen des Stigmas im nationalsozialistischen Terrorsystem ihren Beitrag. Zusammen mit den biographischen Beiträgen sind sie zugleich aber auch von der Tatsache geprägt, dass wir wirklich weit – sehr weit! – davon entfernt sind, über einen sachgerechten historischen Gesamtüberblick über und eine angemessene Gesamtschau auf die Zwangssterilisierungen und die „NS-Euthanasie“ zu verfügen.

Das fängt schon damit an, dass die Herkunft des Labels „NS-Euthanasie“ unbekannt ist. Wann entstand es? Warum entstand es? Wer erfand es? Wann und warum wurde es populär und verdrängte den sachgerechteren Sammelbegriff der „Krankenmorde“? Dass der Gattungsbegriff „NS-Euthanasie“ von Hitler geprägt wurde oder auch nur in der nationalsozialistischen Herrschaftsperiode entstand, erscheint ausgeschlossen. Auffällig, auch an diesem Buch, ist, dass die Verniedlichung der Krankenmorde zur „Euthanasie“ es leichter macht, die heutige Sterbehilfe und Triage in die Nähe der Nationalsozialisten zu rücken und im Ergebnis als nationalsozialistisch zu denunzieren. Nirgends sonst wird so unverhohlen vor dem „Dammbruch“ gewarnt, wie bei den Themen Sterbehilfe und Triage. Damit ist die Rückkehr zu der Praxis in den Jahre 1933 bis 1945 gemeint, die „Ballastexistenzen“ zu vernichten.

Diese für den Rezensenten ärgerliche Seite des Buches ist dessen enge Anlehnung an das biopolitische Programm der römisch-katholischen Kirche geschuldet. Diese Kirche hat die Verschriftung der Interviews finanziert, und auch dieses Buchprojekt. Von daher vermag es nicht wirklich zu erstaunen, dass die katholische Bischofskonferenz mit ihrer Argumentationsskizze zur Triage aufwartet, anstatt mit der Aufarbeitung ihrer Verstrickung in die nationalsozialistischen Krankenmorde und anderen Verbrechen in den Heil- und Pflegeanstalten und der Tatsache, dass sie – von wenigen Ausnahmen abgesehen – unbestraft und unentschädigt blieben. Die beiden großen deutschen christlichen Kirchen waren mit einem Netz von Krankenhausseelsorgern, mit eigenen Einrichtungen, mit den Kirchen nahe stehenden Ärzten und Pflegekräften strukturell und personell derartig breit im nationalsozialistischen deutschen Gesundheitssystem vernetzt, dass die Verbrechen mehr oder weniger unter ihrer stillen Zustimmung, wenn nicht Mitwirkung geschahen. Barbara Degen legt dar, dass sie selbst eine Schmutz- und Diffamierungskampagne über sich ergehen lassen musste, weil sie unter anderem veröffentlichte, dass in einer kirchlichen Einrichtung 3.600 Säuglinge ermordet worden waren (259). Und sie stellt fest: „Sowohl die katholische, als auch die protestantische Kirche sind bis heute in der Mehrzahl nicht bereit, sich […] der ‚Euthanasie‘-Problematik zu stellen.“ (259 f.)

Wie man weiß, wurde den Zwangssterilisierten und Angehörigen von Krankenmord-Opfern die Anerkennung als Opfer der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft verweigert, weil diese Verbrechen auch in anderen westlichen Gesellschaften geschehen, also nicht spezifisch nationalsozialistisch gewesen seien. Dass diese Verbrechen nationalstaatsübergreifend staatfanden, fiel den Opfern dieser NS-Verbrechen auf die Füße. Aber nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich sind die Psychiatrieverbrechen und Krankenmorde der Jahre 1933 bis 1945 nur ein Ausschnitt eines erheblich größeren Gesamtgeschehens, welches sich in Deutschland ereignete. Der Psychiatriearzt Heinz Faulstich summierte die „Hungertode in der Psychiatrie 1914-1949“, und in der „Alten Pathologie Wehnen“, einer Gedenkstätte nahe Oldenburg, wird den Gedenkstättenbesuchenden unter anderem auch der Fall „Kalle“ präsentiert, der Fall des Jungen Karl-Heinz Weimer, welcher im Jahre 1965 in Wehnen in der Kinderpsychiatrie nach skandalöser Behandlung im Alter von 13 Jahren unterernährt verstarb. Die Nationalsozialisten haben die Zwangssterilisierungen und Krankenmorde nicht erfunden, und ihre Besieger haben sie auch nicht abgeschafft. Jedenfalls nicht umgehend; als terminus ad quem des Endes der „NS-Euthanasie“ ist wohl eher die Psychiatrie-Enquete 1975 anzusehen, als die Kapitulation Deutschlands am 8. Mai 1945. Diese Dimension des Grauens sollte jedes Sachbuch zum Thema zeigen, und es ist ein Mangel (auch) dieses Buches, dass es dies nicht tut.

Fazit

Trotz Mängeln, die dieses Buch über NS-Zwangssterilisierungen und NS-Krankenmorde mit der übrigen Sachliteratur zum Thema teilt, wird dieses Buch vom Rezensenten empfohlen. Denn es bietet ergreifende und überaus wichtige biografische Einblicke in das Leben mit dem Stigma einer „Ballastexistenz“, nicht nur in der furchtbaren NS-Diktatur, sondern auch in unserer demokratischen Gesellschaftsordnung.

Weiterführende Literatur

Margret Hamm im Gespräch (Deutschlandfunk vom 29. August 2019) https://www.deutschlandfunk.de/ex-bez-geschaeftsfuehrerin-margret-hamm-in-eine-reihe-mit-100.html

Andreas Scheulen: Ausgrenzung der Opfer – Eingrenzung der Täter. Juristische Dissertation Humboldt Universität zu Berlin 2002.

Heinz Faulstich: Hungersterben in der Psychiatrie 1914–1949. Mit einer Topographie der NS-Psychiatrie. Freiburg 1998. https://content-select.com/de/portal/media/view/537c90f8-9160-4059-bcf3-7f6c2efc1343

Der „Fall Kalle“ (im September 2005 erzählt von seiner älteren Schwester Gertrud K,). Gedenkstätte Wehnen. https://gedenkkreis.de/gedenkstatte-wehnen

Rezension von
Heribert Wasserberg
Evangelisch-reformierter Theologe, Politikwissenschaftler, Evangelischer Pfarrer und Altenheimseelsorger im Ruhestand
Mailformular

Es gibt 11 Rezensionen von Heribert Wasserberg.

Besprochenes Werk kaufen
Sie fördern den Rezensionsdienst, wenn Sie diesen Titel – in Deutschland versandkostenfrei – über den socialnet Buchversand bestellen.


Zitiervorschlag
Heribert Wasserberg. Rezension vom 08.06.2023 zu: Margret Hamm (Hrsg.): Ausschluss und „Euthanasie“ gestern – Sterbehilfe und Teilhabe heute. Leben mit dem Stigma. Metropol-Verlag (Berlin) 2023. ISBN 978-3-86331-685-3. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30697.php, Datum des Zugriffs 23.09.2023.


Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt. Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns. Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.


socialnet Rezensionen durch Spenden unterstützen
Sie finden diese und andere Rezensionen für Ihre Arbeit hilfreich? Dann helfen Sie uns bitte mit einer Spende, die socialnet Rezensionen weiter auszubauen: Spenden Sie steuerlich absetzbar an unseren Partner Förderverein Fachinformation Sozialwesen e.V. mit dem Stichwort Rezensionen!

Zur Rezensionsübersicht