Klaus F. Gärditz: Hoflieferanten
Rezensiert von Johannes Schillo, 21.07.2023
Klaus F. Gärditz: Hoflieferanten. Wie sich Politik der Wissenschaft bedient und selbst daran zerbricht. Hirzel Verlag (Stuttgart) 2023. 232 Seiten. ISBN 978-3-7776-3300-8. D: 24,00 EUR, A: 24,70 EUR.
Thema
Das Buch greift das Verhältnis von Politik und Wissenschaft im demokratischen Rechtsstaat auf. Es fokussiert als „essayistische Streitschrift“ (S. 7) auf die aktuelle Situation in Deutschland und ist „eher im Stil politischen Feuilletons gehalten“ (S. 7), zugleich aber aus einem fachlichen Blickwinkel, nämlich der Rechtswissenschaft, abgefasst.
Autor
Der Autor ist Professor für Öffentliches Recht an der Universität Bonn und u.a. Mitglied des Verfassungsgerichtshofs für das Land Nordrhein-Westfalen.
Aufbau und Inhalt
Das Buch grenzt das thematische Feld, das etwa von Nico Stehr mit seiner „Wissenspolitik“ oder von Michel Foucault mit seiner „Biopolitik“ grundlegend vermessen wurde, auf spezielle Probleme der Zuarbeit des Wissenschaftsbetriebs für politische Entscheidungen ein. Es geht ihm vor allem darum, Fehlentwicklungen der Politisierung zu identifizieren. Dabei knüpft der Autor an Warnungen vor einer „Expertokratie“ an, so an Laura Münklers gleichnamige Studie von 2020, und speziell an Mirella Schütz-Lerace, die mit ihrem Buch „Von geheimen Politikmachern und wissenschaftlichen Hoflieferanten“ (2010) die Leitmetapher für Gärditz’ Veröffentlichung lieferte. Diese macht in vier Kapiteln, vorwiegend „anhand von ausgewählte Miniaturen“ (S. 23), einen Durchgang durch das spannungsreiche Verhältnis von Wissenschaft und politischer Herrschaft, das aus verschiedenen Perspektiven (seiner Etablierung im modernen Staat, seiner gesellschaftlichen Kontexte, seiner Institutionalisierung bzw. Regulierung in Form von Politikberatung oder Forschungsförderung, seines Handlings im Beamtenrecht, seiner Herausforderungen für das akademische Ethos etc.) aufgeschlüsselt wird.
Die grundsätzlich These, die in einem Vorwort und einer Einleitung expliziert und einer Schlussbetrachtung resümiert wird, besagt, dass ein entscheidendes Problem in der Tendenz zum wissenschaftlichen „Hoflieferantentum“ besteht. Damit gemeint ist ein „privilegierter Zugang zu den Schaltkreisen politischer Macht“, also ein Fall „illegitimer Politisierung, indem privilegierter Sondereinfluss über dunkle Hinterzimmer genutzt und Wissen interessengeleitet dienstbar gemacht wird“ (S. 11).
Dass Politisierung der Wissenschaft an sich nicht das Problem ist, wird in einem ersten Kapitel „Wissenschaft zwischen Geschichtlichkeit und politischem System“ dargelegt, das gerade die Etablierung der Wissenschaftsfreiheit als Werk der bürgerlichen Revolution festhält, sie also als eine eminent politische Angelegenheit in den Blick nimmt. Gärditz erinnert speziell an die deutsche Tradition seit der 1848er Revolution und an die Folgen bis zur Abfassung des Grundgesetzes. Die Freiheit von „Wissenshaft, Forschung und Lehre“, wie sie in GG, Art 5 (3), garantiert ist, sei zwar der allgemeinen Meinungsfreiheit zugeordnet, habe jedoch ihren eigenen Stellenwert. Freie Wissenschaft stütze mit ihren Rationalitätsanforderungen die Prinzipien einer freiheitlichen Gesellschaft, was sowohl im Normalbetrieb wie in Ausnahmefällen notwendig sei. Für Letztere nimmt Gärditz die Corona-Pandemie bzw. die darauf bezogene Politik – mit ihrem besonderen Bedarf nach wissenschaftlicher Expertise – als Beispiel, greift diesen Fall auch im weiteren Text öfter auf.
Das zweite Kapitel „Rollenfunktionen“ analysiert das komplexe politisch-wissenschaftliche Verhältnis im Blick auf die unterschiedlichen Rollen der Akteure – vom Wissenschaftler, der Politik berät, bis zur Verbandsfunktionärin oder zur Behördenleitung (prominente Beispiele: Robert-Koch- oder Paul-Ehrlich-Institut). Das geschieht immer mit der Betonung darauf, dass Wissenschaft nicht im Elfenbeinturm lebe, ein gewisses Maß an Politisierung demnach selbstverständlich sei und erst ein Übermaß gefährlich werde. Gärditz referiert zustimmend die grundlegende Bestimmung des Bundesverfassungsgerichts von 1978: Bei Wissenschaftsfreiheit sei „stets der diesem Freiheitsrecht zugrundeliegende Gedanke mit zu berücksichtigen, daß gerade eine von gesellschaftlichen Nützlichkeits- und politischen Zweckmäßigkeitsvorstellungen befreite Wissenschaft dem Staat und der Gesellschaft im Ergebnis am besten dient“ (S. 59). Diesen Dienst habe Wissenschaft zu leisten, doch gelte auch für sie die grundsätzliche Freiheit beim Meinen und Veröffentlichen. Der politische Prozess benötige „eine potenzielle Gegenöffentlichkeit, die widersprechen kann, als herrschaftskritisches Gegenmoment amtliche Positionierungen mit gesunder Skepsis begleitet und hierdurch die Gesellschaft epistemisch offen hält“ (S. 61). Interessant ist in dem Zusammenhang auch eine Auskunft, die zur gegenwärtigen Politisierung des akademischen Betriebs anlässlich des Ukrainekriegs passt: „Sehr oft liegt im Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit eine verborgene Politisierung von Wissenschaft“ (S. 58).
Das dritte Kapitel behandelt „Wissenschaft als politisches Argument“, wiederholt die Grundthese in verschiedenen Varianten und hält in staatstheoretischer Hinsicht fest: „Der demokratische Rechtsstaat will Herrschaft vernünftig rechtfertigen und hat daher hintergründig einen hohen Rationalitätsbedarf, der fest in die Matrix politischer Willensbildung eingewoben ist“ (S. 75). Mit der Hintergründigkeit ist der Sachverhalt angesprochen, dass wissenschaftliche Wahrheit unter den Bedingungen demokratischer Herrschaft nicht die Gestaltung der Welt bestimmt. Wie Beispiele aus den USA zeigen – etwa die republikanischen Positionierungen zu Klimawandel, Corona oder Evolutionstheorie –, kann eine freiheitliche Gesellschaft sogar mit krasser Unwissenschaftlichkeit leben. Gärditz verteidigt das im Prinzip, Wissen allein zähle nicht. „Demokratische Politik muss zudem das Machbare in den Blick nehmen“ (S. 80). Sie benötige geradezu „Toleranz gegenüber Irrationalem“ (S. 90), um etwa Wählerstimmen einzusammeln oder hoheitliche Entscheidungen dem Publikum zu verkaufen.
Das vierte Kapitel „Wissenschaft als rechtliches Argument“ wiederholt solche Überlegungen, und zwar zugespitzt auf den rechtlichen Status der Wissenschaft bzw. ihres Personals, wenn deren Erkenntnisse ins Staatshandeln einbezogen werden (bei Gerichtsentscheidungen, Verwaltungsakten etc.). Wie im Vorhergehenden wird der Wissenschaft eine bestimmende Rolle abgesprochen; in einer Gesellschaft, in der die Interessenverfolgung aller Staatsbürger und -bürgerinnen freigesetzt sei, könne Wissenschaft „von vornherein keine politischen Entscheidungen legitimieren… Politik braucht daher immer politische Institutionen, die sich weder durch Expertise noch durch Wissenschaft ersetzen lassen“ (S. 155). Gärditz weist nach, dass dieses Verständnis verfassungsrechtlich abgesichert ist und illustriert es etwa anhand von Fragen der Klima- oder Extremismusforschung. Instruktiv ist die abschließend vorgestellte Bundesverfassungsgerichts-Entscheidung aus dem Jahr 1957 (S. 199ff), die unter Heranziehung des wissenschaftlichen Sachverstands die Strafbarkeit von Homosexualität feststellte: An ihr zeigt sich, wie bei Einhaltung all der Kriterien, die Gärditz geltend macht, eine Entscheidung herauskommt, die – von heute ausgesehen – einen einzigen Anschlag auf die Menschenwürde darstellt.
Diskussion
Seit 200 Jahren, seitdem die kapitalistische Produktionsweise etabliert ist, wird (Natur-)Wissenschaft als entscheidende ökonomische Ressource benötigt und dieser Bedarf vom bürgerlichen Staat in eigentümlicher Weise gedeckt: Er garantiert die Freiheit der Wissenschaft, die als dienstbarer Geist die entsprechenden Erkenntnisse zu liefern, aber selber nicht über die Zwecke, für die sie eingesetzt werden, zu bestimmen hat. Die Zuständigkeit dafür liegt beim Staat, der entscheidet, welche Interessen in einer auf dem Konkurrenzprinzip basierenden Ordnung zählen und welche nicht. Damit sind – systemgemäß – lauter Gegensätze installiert, die auch die Wissensproduktion und -distribution betreffen. Diese Konstruktion findet der Autor nicht kritikabel. Sie wird in dem Buch etwas redundant mit zahlreichen lobenden, rhetorisch aufgeladenen, auch apodiktischen Feststellungen bedacht. Die daraus folgenden Kollisionen werden an Beispielen aus der Rechts- oder politischen Praxis anschaulich vorgeführt, wobei Gärditz den Kontrast zu autoritären Regimen betont: „Die weitgehende Politisierung der Wissenschaft ist ein strukturtypisches Merkmal totalitärer Ordnungen“ (S. 21).
Sein eigener Durchgang durch das besagte Spannungsverhältnis in der Demokratie stößt jedoch selber permanent auf Fälle von Politisierung, die dann in erwünschte und unerwünschte geschieden werden. Hoflieferantentum – also eine Sonderstellung im akademischen Betrieb gegenüber den Kollegen oder eine Spezialexpertise, die einzelnen Akteuren in der Parteienkonkurrenz nutzt, andere benachteiligt – ist demnach unzulässig. Alle anderen Formen der Politisierung, in denen die Wissenschaftlergemeinde ihr Ethos der Dienstbarkeit zu erkennen gibt oder die Politik mit Unvoreingenommenheit ihrer Lieferantenszene entgegentritt sowie deren Rationalitätsanforderungen respektiert, finden das Verständnis des Autors. Den Grund für die endlosen Kollisionen verortet er dann ganz schlicht in einem moralischen Defizit des Personals: „Eitelkeit sowie die Sehnsucht nach Macht und Einfluss“ (S. 100) sollen die Triebkräfte solcher Fehlentwicklungen sein. Das wirft natürlich gleich die Frage auf, wer ins Herz der akademischen Fachkräfte zu blicken vermag: Ist es nun staatsbürgerliche Verantwortung, die jemanden zum Auftritt bei einer Anhörung oder in einer Talk-Show motiviert, oder will er oder sie sich nur interessant machen und das eigene Ego aufblasen? Gärditz ist anscheinend zu solch tiefen Blicken fähig, wie seine bissigen Bemerkungen (die meist aber die Namen der Übeltäter und -täterinnen verschweigen) erkennen lassen.
Das Anlegen der moralischen Messlatte zum Durchgang durch das umfangreiche Material hat andererseits den Vorteil, dass man in die ganze Breite des politisch-wissenschaftlichen Verhältnisses und vor allem in das Selbstverständnis der Akteure Einblick erhält. Gerade für Außenstehende oder Studienanfänger wird so ein Feld erschlossen, das – man denke nur an den Unterschied von Natur- und Geisteswissenschaften – seine diversen Eigengesetzlichkeiten und komplexen Unterabteilungen kennt. Und Laien, die beim Konfliktpotenzial wohl vor allem an prominente Fälle wie Klimaforschung oder Virologie denken, werden darüber aufgeklärt, dass die reale Hitparade der Streitfälle viel banaler aussieht: „Über die Reisekostenerstattung bei Businessclass-Flügen ist in der deutschen Hochschulzeitgeschichte schon mehr gestritten worden als über wissenschaftliches Fehlverhalten“ (S. 55).
Fazit
Das Buch thematisiert den „Lieferanten“-Status, also die Dienstbarkeit von Wissenschaft im demokratischen Staat samt den einschlägigen Konfliktfällen. Es ist aktuell, anschaulich, oft recht bilderreich geschrieben und bietet einen fast enzyklopädischen Rundblick. So gesehen eignet es sich als Einführungsschrift, auch wenn – oder gerade weil – es sich durch eine grundsätzlich affirmative Haltung zur herrschenden Indienstnahme von Wissenschaft auszeichnet.
Rezension von
Johannes Schillo
Sozialwissenschaftler und Autor
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Zitiervorschlag
Johannes Schillo. Rezension vom 21.07.2023 zu:
Klaus F. Gärditz: Hoflieferanten. Wie sich Politik der Wissenschaft bedient und selbst daran zerbricht. Hirzel Verlag
(Stuttgart) 2023.
ISBN 978-3-7776-3300-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30698.php, Datum des Zugriffs 13.09.2024.
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