Andreas Dexheimer, Jörg. M. Fegert et al. (Hrsg.): Praxishandbuch Kinderschutz
Rezensiert von Wolfgang Schneider, 28.07.2023
Andreas Dexheimer, Jörg. M. Fegert, Michael Macsenaere, Susanne Kepert, Monika Feist-Ortmanns et al. (Hrsg.): Praxishandbuch Kinderschutz für Fachkräfte und insoweit erfahrene Fachkräfte. Der Schutzauftrag nach § 8a SGB VIII - Rechtliche, psychologische und pädagogische Aspekte. Reguvis Fachmedien GmbH (Köln) 2023. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage. 250 Seiten. ISBN 978-3-8462-1468-8. D: 44,00 EUR, A: 45,30 EUR.
Thema
Das Thema Kinderschutz durchzieht wie ein roter Faden die Kinder- und Jugendhilfe und das Familienrecht. Kinderschutzkräfte, aber auch diejenigen, die mit den „insoweit erfahrenen Fachkräften“ zusammenarbeiten, benötigen fundierte Informationen und Rechtssicherheit. Dieses Buch soll ein klares Bild über die Aufgaben und Grundlagen mittels einer rechtswissenschaftlichen, pädagogischen, psychologischen und medizinischen Betrachtung ermöglichen, damit alle, die Berührungspunkte mit dem Kinderschutz haben, das nötige Rüstzeug erhalten, um ihre Aufgaben in der Praxis gut und lückenlos erfüllen zu können, die gesetzlichen Bestimmungen im Blick zu behalten und den Schutz der Kinder zu gewährleisten. Konzepte und Verfahren eines effektiven Schutzauftrages bei Kindeswohlgefährdung werden dargestellt und anhand von Beispielen erläutert. Ebenso wird ausführlich dargestellt, inwiefern datenschutzrechtliche Bestimmungen relevant sind und wie die Schnittstelle zwischen Jugendamt und Berufsgeheimnisträger:innen sinnvoll ausgestaltet werden kann. Angesprochen sind vor allem Mitarbeitende der Träger der öffentlichen und freien Jugendhilfe, Sozialpädagog:innen und Sozialarbeiter:innen, Erzieher:innen, Psycholog:innen und auch Jurist:innen, um die Arbeit in multiprofessionellen Teams voranzutreiben und zu unterstützen
Autor:in oder Herausgeber:in
- Prof. Dr. iur. Jan Kepert, Fakultät Rechts- und Kommunalwissenschaften, Hochschule für öffentliche Verwaltung, Kehl;
- Dr. phil. Andreas Dexheimer, Master of Social Work, Diplom-Sozialpädagoge (FH), Vorstand in der Diakonie Rosenheim, Dozent für das Kinder- und Jugendhilferecht an der Hochschule für öffentliche Verwaltung Kehl;
- Prof. Dr. med. Jörg M. Fegert, Kinder- und Jugendpsychiater, Psychotherapeut, Direktor der Klinik für Kinder und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Ulm;
- Monika Feist-Ortmanns, Master of Arts Sozialmanagement, Geschäftsführende Direktorin des Instituts für Kinder- und Jugendhilfe (IKJ), Essen; Dipl. Psych. Susanne Kepert, Psychotherapeutin;
- Prof. Dr. rer. nat. Michael Macsenaere, Dipl.-Psych., Wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Kinder- und Jugendhilfe (IKJ), Essen;
- Dr. med. Jo Ewert, Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin, Kinderschutzmediziner (DGKiM), Kinderschutzkoordination Universitätsklinikum Hamburg Eppendorf und Medizinische Kinderschutzhotline;
- Samja Schäfer, Sozialpädagogin, Medizinische Kinderschutzhotline;
- Prof. Dr. med. Michael Kölch, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, Direktor der Klinik für Psychiatrie, Neurologie, Psychosomatik und Psychotherapie im Kindes- und Jugendalter der Universitätsmedizin Rostock
Entstehungshintergrund
Es handelt sich um die aktualisierte und erweiterte zweite Auflage des Buches. Neue Erkenntnisse aus dem Untersuchungsausschuss Lügde (Landtag NRW), der Aufarbeitungskommission am UKS Saarland und weiterer aktueller Empfehlungen wurden dabei berücksichtigt.
Aufbau und Inhalt
Folgende Oberthemen werden auf den rund 270 Seiten der Neuauflage behandelt
- Das Jugendamt als Sozialleistungs- und Polizeibehörde
- Der Schutzauftrag nach § 8a SGB VIII: Amtsermittlung, Reaktionsmöglichkeiten auf eine festgestellte Kindeswohlgefährdung, Einbeziehung Dritter
- Handlungsmöglichkeiten bei Bekanntwerden und Vorliegen einer Kindeswohlgefährdung
- Auftrag, Rolle und Aufgaben der Kinderschutzfachkraft
- Ausgestaltung der Schnittstelle Jugendamt und Berufsgeheimnisträger:innen
- Inobhutnahme
- Kinderschutz und Datenschutz
- Multiprofessioneller Kinderschutz
Zu den Inhalten der einzelnen Kapitel:
- Kapitel 1: Das Jugendamt als Sozialleistungs- und Polizeibehörde
Beleuchtet wird der Hintergrund der Aufgabe im Kinderschutz – nämlich dass es bis zur Schwelle der Gefährdung lediglich um eine Sozialleistung geht, die sich an die Sorgeberechtigten wendet. Erst wenn diese mit ihrem auf dem Grundgesetz fußenden Erziehungsprimat keine am Kindeswohl ausgerichtete Erziehung leisten können, greift das hier im Kapitel eingeführte staatliche Wächteramt, was letztlich zur Inobhutnahme führen kann.
- Kapitel 2: Das zentrale Element des Schutzauftrags – die Kindeswohlgefährdung.
Was ist eigentlich eine Gefahr im Kinderschutz? Wie ist sie definiert? Wie unterscheidet sich dieser Gefahrenbegriff des § 1666 BGB sowie der §§ 8a, 42 SGB VIII von dem, den das Polizeirecht beschreibt? Antworten auf diese Fragen, die für rechtssicheres Handeln gerade in Kinderschutzfällen enorm wichtig sind, werden hier beschrieben.
- Kapitel 3: Das Handeln bei Bekanntwerden von gewichtigen Anhaltspunkten für eine Kindeswohlgefährdung gem. § 8a SGB VIII
In diesem Kapitel erläutern Kepert, Feist-Ortmanns und Macsenaere welchen Weg die beteiligten Fachkräfte zu gehen haben, um eine Gefährdungseinschätzung vorzunehmen. Dazu gehört zum Beispiel, dass eben die Eltern mit einzubeziehen sind in den allermeisten Fällen. Auch die Beschreibung von möglichen Diagnosetools zur Abklärung der Gefährdung werden benannt, gleichzeitig aber auch deren Grenzen im Einzelfall aufgezeigt. Ein Statistikteil rundet das Kapitel ab.
- Kapitel 4: Handlungsmöglichkeiten nach § 8a SGB VIII bei Vorliegen einer Kindeswohlgefährdung
Hier kommen drei ganz entscheidende Begriffe ins Spiel, die für Maßnahmen zum Kinderschutz von immenser Bedeutung sind: Geeignetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit der zu treffenden Maßnahmen sind unumstößliche Aspekte, wenn es um eventuelle Sorgerechtseingriffe im Kinderschutz durch das Familiengericht geht. Anhand eines konkreten Fallbeispiels wird der Umgang mit dem Verfahren zur Kindeswohlsicherung beschrieben. Ein weiterer Fokus liegt auf den rechtlichen Grundlagen zum Beginn und Ende des Schutzauftrags nach § 8a SGB VIII und der örtlichen Zuständigkeit für diese Maßnahmen.
- Kapitel 5: Die Inobhutnahme gem. § 42 SGB VIII
Wie wird eigentlich eine rechtlich nicht angreifbare Inobhutnahme durchgeführt? Diese Frage wird in diesem Kapitel beantwortet, in dem Fallstricke aufgezeigt werden, die eine Inobhutnahme vor einem Verwaltungsgericht angreifbar machen. Dazu gehört zum Beispiel, dass das Jugendamt eine schriftliche Anordnung des Sofortvollzugs der Inobhutnahme an die Sorgeberechtigten aushändigen muss.
- Kapitel 6: Zulässigkeit und Reichweite von „Schutzvereinbarungen“ sowie „aufsuchende Hilfen mit Kontrollauftrag“
Es handelt sich um das kürzeste, aber dafür sicherlich mit interessanteste Kapitel.Denn Autor Kepert weißt eindeutig darauf hin, dass Jugendhilfe unter Zwang, sprich gegen den Willen der Eltern, unzulässig sind. Auch erteilte Schutzaufträge oder abgeschlossene Schutzvereinbarungen – ein gern genommenes Mittel bei chronischen Gefährdungssituationen – sind nur dann zulässig, wenn sich die Eltern darauf einlassen. Drohungen mit dem Familiengericht, wenn diese nicht unterschrieben werden, sind faktisch unzulässig, wenn auch oft gelebte Praxis.
- Kapitel 7: Weitere wichtige Regelungen im Zusammenhang mit der Wahrnehmung des Schutzauftrags
Es wird fundiert ausgeführt, dass die Einbeziehung der Sorgeberechtigten in eine Gefährdungseinschätzung kein Mittel der Wahl ist, sondern eine verpflichtende Vorgabe des Gesetzgebers. Auch die Rolle der insoweit erfahrenen Fachkräfte wird beschrieben. Einen kurzen Blick wirft Autor Kepert auf die Pflicht des Jugendamtes, Berufsgeheimnis:trägerinnen eine Rückmeldung über Bewertung des Hinweises durch das Jugendamt zu geben. Aber Achtung: Erzieher:innen sind aus Sicht des Gesetzes keine Berufsgeheimnisträger:innen, auch wenn das in der Praxis wenig sinnvoll erscheint, da ein großer Teil der Hinweise auf eventuelle Kindeswohlgefährdungen aus der Kita kommt.
- Kapitel 8: Kinderschutz und Datenschutz
Ein Reizthema für viele Fachkräfte, die im Kinderschutz tätig sind, obwohl es das gar nicht sein müsste: Dass das oft zitierte Phänomen, dass in Deutschland Daten- vor Kinderschutz stehe, wird in diesem Kapitel dahin verwiesen, wo es hingehört – nämlich ins Reich der Myhten. Detailliert wird der Unterschied zwischen Datenverarbeitung differenziert zwischen Datenerhebung, -speicherung,– übermittlung und -nutzung beschrieben. Auch die Frage, wann im Rahmen des Kinderschutzes Daten an andere Institutionen weitergegeben werden dürfen, wird dargestellt.
- Kapitel 9: Multiprofessioneller Kinderschutz aus dem Blickwinkel des Gesundheitswesens – Die Beteiligung medizinischer Expert:innen als fachlicher Standard im Kinderschutzverfahren
Dieses Kapitel ist in der zweiten Auflage komplett neu und widmet sich den Chancen, die eine enge Verzahnung von Fachkräften der Sozialen Arbeit und denen des Gesundheitswesens im Kinderschutz bietet. Hierbei werden Gelingensfaktoren benannt (Kommunikation auf Augenhöhe und Anerkennen der Profession des Gegenübers) und mit der medizinischen Kinderschutzhotline ein Best-Practice-Beispiel näher beleuchtet.
Diskussion
Wie schon in der Erstauflage überzeugt auch in diesem Buch ein über den Maßen tiefes Inhaltsverzeichnis, was schnellen Griffes an die Stelle braucht, die die/der Leser:in gerade braucht. Wem das nicht reicht, der findet ein ebenso kleinschrittiges Stichwortverzeichnis. Damit ist das Buch letztlich genau das, was es im Titel verspricht – ein Praxishandbuch, das im Alltag leicht und schnell die Möglichkeit zum Nachschlagen ermöglicht. Das aufgelockerte Layout mit Fettungen und grafisch hervorgehobenen Elementen trägt zu diesem Eindruck ebenfalls wesentlich bei. Einzig alleine die Tatsache, dass es keine genaue Übersicht gibt, wo sich etwas inhaltlich etwas zur Erstauflage geändert hat, ist ein minimaler Kritikpunkt. Aber, und das muss klar gesagt werden, das ändert nichts daran, dass dies ein informatives, fachkundiges und praxistaugliches Buch ist, das in keinem Bücherschrank fehlen sollte.
Fazit
Mehr Expertise geht wohl kaum: Die Autor:innen gehören in ihren jeweiligen Fachgebieten zu den Fachleuten schlechthin in Deutschland. Trotzdem bleibt das Buch gerade aufgrund seines luftigen Layouts praxisnah und gut lesbar. Wer im Thema Kinderschutz unterwegs ist, sollte sich diesen Titel zulegen.
Rezension von
Wolfgang Schneider
Sozialarbeiter
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Zitiervorschlag
Wolfgang Schneider. Rezension vom 28.07.2023 zu:
Andreas Dexheimer, Jörg. M. Fegert, Michael Macsenaere, Susanne Kepert, Monika Feist-Ortmanns et al. (Hrsg.): Praxishandbuch Kinderschutz für Fachkräfte und insoweit erfahrene Fachkräfte. Der Schutzauftrag nach § 8a SGB VIII - Rechtliche, psychologische und pädagogische Aspekte. Reguvis Fachmedien GmbH
(Köln) 2023. 2., aktualisierte und erweiterte Auflage.
ISBN 978-3-8462-1468-8.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30700.php, Datum des Zugriffs 12.09.2024.
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