Suche nach Titel, AutorIn, RezensentIn, Verlag, ISBN/EAN, Schlagwort
socialnet Logo

Bruno Heidlberger: Mit Hannah Arendt Freiheit neu denken

Rezensiert von Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer, 15.06.2023

Cover Bruno Heidlberger: Mit Hannah Arendt Freiheit neu denken ISBN 978-3-8376-6658-8

Bruno Heidlberger: Mit Hannah Arendt Freiheit neu denken. Gefahren der Selbstzerstörung von Demokratien. transcript (Bielefeld) 2023. 282 Seiten. ISBN 978-3-8376-6658-8. D: 32,00 EUR, A: 32,00 EUR, CH: 39,00 sFr.
Reihe: Edition Moderne Postmoderne.

Weitere Informationen bei DNB KVK GVK.
Inhaltsverzeichnis bei der DNB.

Kaufen beim socialnet Buchversand
Kaufen beim Verlag

Neu denken, philosophieren, leben lernen

Die bereits von der Weltkommission „Kultur und Entwicklung“ 1995 als Appell formulierte „Herausforderung umzudenken, sich umzuorientieren und gesellschaftlich umzuorganisieren, kurz: neue Lebensformen zu finden“, wird dringender und notwendiger durch die sich immer interdependenter, entgrenzender, globaler sich entwickelnden Welt. Sie wird bedeutsamer durch die Erfahrung, dass eine Minderheit der Weltbevölkerung frei und demokratisch leben kann, während die Mehrheit in diktatorischen, unfreien, nationalistischen, fundamentalistischen und populistischen politischen System existiert. Es ist die Erinnerung und Aufforderung, dass die Menschen, die in Demokratien leben (können), diese Lebens- und Regierungsform nicht als selbstverständlich und gegeben hinnehmen, sondern sie bewusst und aktiv verteidigen sollten (s. Rezension zu Krise der Demokratie – Demokratie in der Krise?, 2020).

Entstehungshintergrund und Autor

Um den Zustand und die Lage der Welt und der Menschheit erkunden zu können, sind Quellen und Zeugnisse von Menschen hilfreich, die vor- und mitgedacht haben. Als eine „Denkerin der Stunde“ (Richard J. Bernstein, 2020) ist die Philosophin Hannah Arendt (1906 – 1975) zu nennen, die in ihrem Denken die eigenen Bedrängnisse und Verfolgungen verband mit schicksalhaftem, menschengemachtem Leid und Gewalt. Die „Banalität des Bösen“ sei es, die vielfach Unmenschlichkeit und Demokratiefeindlichkeit möglich mache. Und die Leichtfertigkeit und die Unaufgeklärtheit ist es, wie mit Wahrheiten und Wirklichkeiten umgegangen wird. „In der dynamisch sich entwickelnden Moderne ist die Demokratie immer bedroht und muss verteidigt und weiterentwickelt werden. Die Demokratie bedarf nicht nur Institutionen, sondern auch Menschen, die sich für sie einsetzen“ (siehe Rezension zu Denkerin der Stunde, 2021). Der Berliner Politikwissenschaftler und Philosoph Bruno Heidlberger nimmt in seiner Studie diese Gedanken auf und analysiert, wie mit Hannah Arendt neu frei gedacht werden kann.

Aufbau und Inhalt

Neben der Einleitung gliedert der Autor das Buch in die folgenden Kapitel:

  1. „Das Wesen von Politik ist, für die Sache der Freiheit gegen das Unheil der Zwangsherrschaft jeglicher Art zu kämpfen“
  2. „Ist mit Arendt Politik in der Moderne möglich?“
  3. „Mit Heidegger gegen Heidegger“
  4. „Der Sinn von Politik ist Freiheit“
  5. „Über die Revolution“
  6. „Vita activa – Kritik an der Weltentfremdung“
  7. „Das Gesellschaftliche und das Politische“
  8. „Arendt, die Linke und die Frankfurter Schule“
  9. „Denken ohne Geländer“
  10. „Denken und Moral – die Banalität des Bösen“
  11. „Was tun wir, wenn wir urteilen? Mit Kant gegen Kant“
  12. „Die Frage nach der Normativität bei Arendt“
  13. „Gleichheit, Differenz, Identität, Inklusion, Solidarität“
  14. „Arendt Vordenkerin einer europäischen Föderation und transnationalen Staatsbürgerschaft“
  15. „Arendt in der Kritik“
  16. „Arendts Kritik an der Moderne“
  17. „Herausforderungen der Spätmoderne“
  18. „Das höchste Gut ist die Freiheit und das öffentliche Glück“.

Es sind die unsicheren, entgrenzten Zeiten von Ego-, Ethnozentrismus, Nationalismus, Faschismus, Rassismus, Rechtsradikalismus, Gewalt, Krieg und Populismus, die die Rufe nach Freiheit, Gerechtigkeit, Menschenwürde und Humanität herausfordern. Und zwar mit dem doppelten Blick: Wie entsteht Gewalt? Wer reagiert wie darauf? Denn Tyrannei ist keine spontane Eingebung und kein genetischer Defekt, sondern menschengemacht. Hannah Arendt hat bei ihren Auseinandersetzungen mit historischen, autoritären Gewaltakten darauf aufmerksam gemacht, dass „das hervorragende Merkmal der Tyrannis das Prinzip der Isolation, die Isolation des Herrschenden von seinen Untertanen und die Isolation der Untertanen gegeneinander ist“. Am Beispiel des russischen Ukraine-Krieges verweist Heidlberger auf die politischen und gesellschaftlichen Einseitigkeiten des Westens, kapitalistische, profitable Ziele vor ethische zu balancieren, und mit dem Slogan „Wandel durch Handel“ in einer Stoppstraße zu rasen. Auch hier warnt Arendt, „dass man aufhört, menschlich zu sein, wenn man ein Sklave wird“. Wenn Ökonomie und Ideologie über politisches Denken und Handeln bestimmen: „Politische Freiheit bedeutet nach Arendt, dass die Angelegenheiten der res publica in öffentlichen Räumen durch Worte und Gespräche und nicht durch Notwendigkeit, Befehl oder (Sach-)Zwänge geregelt werden“.

Wie also kritisch mit Richtungs- und Wegweisungen umgehen, die sich auf dem Fundus des abendländischen Denkens bauen? (Zeit der Zauberer, 2018). Es ist ein Plädoyer für die politische Philosophie und Bildung, die vor Ich- und Weltentfremdung schützen kann – und Paradigmen- und Perspektivenwechsel unabdingbar notwendig machen. Das Bewusstsein, dass die Conditio Humana „mehr als nur die Bedingung (bedeutet), unter denen den Menschen das Leben auf der Erde gegeben ist. Der Mensch als autonomes Wesen wird auch zum Schöpfer und Gestalter der Welt…“. Es gilt, die menschlichen Fähigkeiten und Hoffnungen – in Freiheit zu leben und über das eigene Dasein selbst bestimmen zu können – neu zu entwickeln und aufzubauen auf den kategorischen Imperativ, der sich sprichwörtlich ausdrückt: „Was du nicht willst, das man dir tu‘, das füg‘ auch keinen andern zu!“, und auf der individuellen und kollektiven, lokalen und globalen Sozietät.

Diskussion

Als das Europa-Parlament in Straßburg vom 21. – 22. 11. 1991 in einem Colloquium die Frage stellte, ob das Universelle europäisch sei, da verwies der damalige Parlamentspräsident Enrique Barón Crespo darauf, dass die Frage nach der Universalität deshalb so wichtig sei, „weil jeder einzelne von uns tagtäglich die Verantwortung für die Zukunft der gesamten Menschheit trägt“ (UNESCO-Kurier7-8/1992, S. 5f). Die humanen Werte – Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit – sind für ein gutes, gelingendes, menschenwürdiges Leben für alle Menschen auf der Erde unabdingbar: „Ohne Freiheit ist alles nichts“.

Die Erkenntnis, dass die humanen, erstrebenswerten Werte – Freiheit, Gerechtigkeit, Sicherheit, Solidarität – in einer Gesellschaft nicht oder nur unvollständig zu realisieren sind, wenn Kapitalmacht und Kapitalismus gegenüber den politischen Grundlagen dominieren. Es kommt vielmehr darauf an, individuelle Freiheit und Gemeinsinn als Maßstäbe eines humanen Denkens und Handelns im Alltag und den lokalen und globalen Gesellschaften zu etablieren: „Freiheit als Handeln bleibt ein riskantes Ereignis, das allein auf der Anerkennung der Pluralität und dem Versprechen und Verzeihen beruht“. Damit rückt Hannah Arendt die individuelle und kollektive Verantwortlichkeit der Menschheit für eine gegenwartsbezogene und zukunftsorientierte Welt-Entwicklung in den Mittelpunkt ihres modernen Denkens.

Fazit

„Demokratiefeindliche Perspektiven zu verstehen, heißt nicht, sie zu akzeptieren oder gar zu rechtfertigen“. Es kommt darauf an, sich kritisch mit ihnen auseinanderzusetzen. „um für eine offene Gesellschaft handelnd Verantwortung zu übernehmen“. Hannah Arendt hat immer davor gewarnt, in den Werten Freiheit und Ordnung Gegensätze zu sehen. Es sind Bedingungen, die zu setzen der anthrôpos in der Lage und fähig ist!

Rezension von
Dipl.-Päd. Dr. Jos Schnurer
Ehemaliger Lehrbeauftragter an der Universität Hildesheim
Mailformular

Es gibt 1689 Rezensionen von Jos Schnurer.

Zitiervorschlag anzeigen Besprochenes Werk kaufen

Urheberrecht
Diese Rezension ist, wie alle anderen Inhalte bei socialnet, urheberrechtlich geschützt. Falls Sie Interesse an einer Nutzung haben, treffen Sie bitte vorher eine Vereinbarung mit uns. Gerne steht Ihnen die Redaktion der Rezensionen für weitere Fragen und Absprachen zur Verfügung.


socialnet Rezensionen durch Spenden unterstützen
Sie finden diese und andere Rezensionen für Ihre Arbeit hilfreich? Dann helfen Sie uns bitte mit einer Spende, die socialnet Rezensionen weiter auszubauen: Spenden Sie steuerlich absetzbar an unseren Partner Förderverein Fachinformation Sozialwesen e.V. mit dem Stichwort Rezensionen!

Zur Rezensionsübersicht

Sponsoren

Wir danken unseren Sponsoren. Sie ermöglichen dieses umfassende Angebot.

Über die socialnet Rezensionen
Hinweise für Rezensent:innen | Verlage | Autor:innen | Leser:innen sowie zur Verlinkung

Bitte lesen Sie die Hinweise, bevor Sie Kontakt zur Redaktion aufnehmen.
rezensionen@socialnet.de

ISSN 2190-9245