Hubert Kiesewetter: Der moderne Kapitalismus und seine Überlebenschance
Rezensiert von Tobias J. Klinge, 24.09.2024
Hubert Kiesewetter: Der moderne Kapitalismus und seine Überlebenschance.
Duncker & Humblot GmbH
(Berlin) 2023.
238 Seiten.
ISBN 978-3-428-18794-2.
D: 59,90 EUR,
A: 61,60 EUR.
Reihe: Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte - Band 108.
Thema
Die globale Gegenwart ist geprägt von einer unübersichtlichen gesellschaftlichen Gemengelage, die aufgrund sich überlappender und verstärkender ökonomischen, politischen, sozialen und ökologischen Krisen immer häufiger als „Polykrise“ (Adam Tooze) bezeichnet wird. Sie gibt Anlass sowohl für Bestimmungen zentraler Begriffe und Bestandsaufnahmen der gegenwärtigen Lage als auch unterschiedlich stark ausfallender Zukunftsszenarien. Das vorliegende Buch trägt vorwiegend zu den ersten beiden dieser Diskussionen bei, indem es sich eingehend mit dem Begriff des Kapitalismus beschäftigt und seine Variationen und Interpretationen historisch in Auseinandersetzung von (vorwiegend deutschsprachigen) Schlüsselautoren verortet. In den Worten des Verfassers liegt sein Ziel darin, „einen überblicksartigen Eindruck davon zu vermitteln, welche positiven und negativen Facetten mit diesem Wirtschaftssystem verbunden wurden und werden“ und „die vielfältigen Ansätze vorzustellen, die mit ‚Kapitalismus‘ verknüpft worden sind und noch werden“ (10). Hierfür möchte er darstellen, „aufgrund welcher Kriterien kapitalistische Perioden oder Epochen unterschieden werden können und ob … Kapitalismus gleich Kapitalismus ist“ (34).
Autor
Hubert Kiesewetter ist emeritierter Professor für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt. Er ist Verfasser und Herausgeber zahlreicher Veröffentlichungen, darunter jüngst „Demokratien und ihre gefährdete Zukunft“ (2022), „Das Elend des Konjunktivismus“ (2019) sowie „Karl Marx und der Untergang des Kapitalismus“ (2017).
Aufbau und Inhalt
Das 219 Seiten umfassende Buch ist in acht Kapitel unterteilt.
Im ersten Kapitel stellt Kiesewetter dar, dass „eine universal akzeptierte Begriffsdefinition [von ‚Kapitalismus‘; T.K.] nicht zu erreichen ist und nicht einmal angestrebt werden sollte“ (18), was belegt wird durch die unübersichtlichen und teils widersprüchlichen Verwendungen unterschiedlicher Autor:innen hinsichtlich solcher Aspekte wie Kapital und Reichtum, Unternehmen und kapitalistischem Profit, ökonomischen Wachstums oder den jeweiligen Entstehungsbedingungen. Im Ergebnis hält der Autor für das weitere Vorgehen fest, dass „[e]s … nämlich nicht einen oder den Kapitalismus [gibt], sondern in den verschiedenen Wirtschaftsepochen … höchst variantenreiche ökonomische Systeme“ (29), welche nicht als vermeintliche „Bindestrich-Kapitalismen“ (34) bestimmt werden könnten. Stattdessen sei ein Verständnis des „komplizierte[n] Zusammenspiel[s] von ökonomischen, finanziellen, technischen, sozialen, geographischen oder staatlichen Faktoren“ (36) unerlässlich, um Entstehung und Evolution ‚des‘ Kapitalismus verstehen zu können.
Solch ein Verständnis zeige, so wird im zweiten Kapitel argumentiert, dass der „moderne Kapitalismus“ (40) erst mit der englischen Industrialisierung begonnen habe und der „antiken oder mittelalterlichen Wirtschaft … eigentlich alle entscheidenden Merkmale“ (ebd.) ebenjenen gefehlt hätten. Kursorische geschichtliche Betrachtungen zeigten dies nach Einschätzung des Verfassers klar, allen „täuschenden Analogien“ (47) und „grobe[n] Verzerrung[en]“ (48) zum Trotz. Im dritten Kapitel wird der Frage nachgespürt, ob und inwiefern der Merkantilismus als eine Vorstufe oder gar Epoche des modernen Kapitalismus gelten könne. Unter anderem die Rolle von Edelmetallmehrung, Bevölkerungszuwachs und protektionistischer Abschottung abwägend, attestiert der Autor jedoch „kein einheitliches Porträt einer erfolgreichen Wirtschaftspolitik“ (81).
Daraufhin setzt sich das vierte Kapitel mit der Bedeutung bestimmter ethischer oder psychologischer Faktoren auseinander, die ‚den‘ Kapitalismus begünstigt oder behindert haben könnten. Anhand der Beispiele christlicher Ethiken im Allgemeinen sowie den Ausführungen von Max Weber und Werner Sombart im Besonderen sieht Kiesewetter allerdings „alle technologisch-organisatorischen Errungenschaften“ (88) ungebührlich ausgeblendet. Ethische und moralische Antriebe hingegen seien flexibler und könnten unterschiedlichste Verhaltensmuster fördern. Deren Überbetonung führe zum Verlust eines „unmittelbaren Realitätsbezug[s]“ (88). Statt Religion sollten etwa die Verfügbarkeit von natürlichen und technischen Ressourcen betont werden. Eine solche Erläuterung liefert Kiesewetter im fünften Kapitel, in dem die besondere Kombination eingangs betonter Faktoren (neben technischen Erfindungen und natürlichen Ressourcen auch veränderte Unternehmensformen sowie neue staatlich durchgesetzte Eigentumstitel wie Patente) hervorgehoben wird, die Großbritannien zum ersten Zentrum des modernen Kapitalismus machte und die Gesellschaft von Grund auf umwälzte.
Spätestens nach den im 19. Jahrhundert eingeläuteten Sozialreformen habe die neue Wirtschaftsordnung historisch nie dagewesenen Wohlstand für wachsende Teile der Bevölkerung in industrialisierenden Staaten generiert. Die dennoch ihre Schattenseiten betonende Tradition marxistischer Autor:innen steht im Fokus des sechsten Kapitels. Kiesewetter sieht in den Ausführungen aus Federn wie solchen von Karl Marx, Friedrich Engels, Lenin oder Rudolf Hilferding wiederkehrend „eine theoretische Konstruktion, die sich konsequent weigert, die veränderten ökonomischen wie politischen Verhältnisse einzubeziehen oder als realitätsadäquate Korrekturinstanzen zu akzeptieren“, weshalb sie „sich in logische Widersprüche verrennt und scheitern muss“ (153). Nicht zuletzt an der herbeigewünschten, jedoch selten nachgewiesenen und historisch selten anzutreffenden, revolutionären Rolle der arbeitenden Bevölkerung macht der Autor elementare Schwächen der von ihm besprochenen Gedankengebäude fest, die von einer unnachgiebig „dogmatischen Haltung“ (184) geprägt seien. Im siebten Kapitel behandelt Kiesewetter abermals die Gedanken von „‚Fortschrittsfeinden‘“ (Rolf Peter Sieferle) wie Friedrich Engels oder – stärker auf die Gegenwart bezogen – Silvia Federici, André Gorz oder Paul Mason, die „realitätsfremden, jedoch [wenigstens teils; T.K.] gewalttätigen Utopien“ (195) anhingen. Was viele dieser und anderer Autor:innen einen würde, sei die Unterschätzung der stabilisierenden Funktion ökonomischer Krisen, die die Anpassung an veränderte Bedingungen zuspitzten, dabei aber eben nicht zu dem oft prophezeiten systemischen, um nicht zu sagen globalen, Kollaps führten.
Das Buch schließt im achten Kapitel mit einer deutlichen Gegenrede zum „antikapitalistischen Kulturpessimismus“ (201, Fußnote 1), wie ihn der Verfasser damals wie heute stark verbreitet einschätzt. Ob die gegenwärtigen ökonomischen und ökologischen Probleme wie die zunehmende soziale Ungleichheit oder die Klima- und Biodiversitätskrise gelöst werden könnten, hinge „vom demokratischen Willen ökonomischer, wie politischer Akteure ab, ob sie zu echten Reformen und zu einem massiven Abbau von Privilegien bereit sind“ (203). Hierzu zählt Kiesewetter explizit Kapitaltransfers von Ländern des Globalen Nordens hin zu solchen des Südens, um industrielle Entwicklung zu ermöglichen und „aus dem Teufelskreis der ökonomischen Unterentwicklung herauszukommen“ (205). Seitens des kapitalistischen Westens werden die realistischen Chancen hierfür indes – selbst im Wettstreit mit der kapitalistisch-totalitaristischen VR China – als gering eingeschätzt. Die Zukunftsaussichten ‚des‘ Kapitalismus seien durch den gegenwärtigen „Staatsinterventionismus“ (209) und die Entschiedenheit, mit der wider „die finanzkräftigen Interessen von Konzernen und einflussreichen Lobbyisten“ (211) liberale Politik zur Anwendung komme. Zentral sei hierbei, dass ‚dem‘ Kapitalismus seine „ethischen Verpflichtungen … von der Wissenschaft oder der Politik vorgegeben oder vorgeschrieben, überwacht und … sanktioniert werden“ (216) müssten. Hierfür empfiehlt Kiesewetter, „politische Parteien zu wählen, die sich für energische und weitreichende Reformen eines aus dem Ruder gelaufenen ökonomischen Kapitalismus einsetzen und sie durchführen“ (212).
Diskussion
Zur Einschätzung des Buches muss zunächst festgehalten werden, dass der Autor seine Ausführungen selbst als „vorläufige Andeutungen“ (38) bezeichnet, deren schlussendliche Einschätzung der „etwas provokanten Zukunftsfrage, ob dem etablierten Kapitalismus durch die Klimakatastrophe oder die Corona-Pandemie selbst seine verpestete Luft ausgeht oder er an seinen ökonomischen Dämpfen erstickt, … als ein unvollständiger Beitrag“ (ebd.) gelten möge. Eine derartige Bescheidenheit ist nicht nötig, denn der/die interessierte Leser:in wird aus solchen historisch unterfütterten und schwungvoll vorgetragenen „Andeutungen“ einigen Nutzen ziehen können. Insbesondere Kiesewetters wichtige Kommentare zu begrifflichen Verwirrungen oder den vermeintlichen historischen Vorläufern des modernen Kapitalismus sind erhellend und laden zur eigenen Vertiefung ein. Nach der Lektüre ist man zweifelsohne geneigt, der Einschätzung zuzustimmen, dass regelmäßig in Beiträgen von Wissenschaftler:innen wie politischen Entscheidungsträger:innen oder Kommentator:innen eine „ideologische Neigung besteht, zu viel hineinzuinterpretieren, was ‚Kapitalismus‘ eigentlich gewesen ist oder sein soll“ (208).
Zugleich stellen sich neue Fragen. Wenn beispielweise einerseits konstatiert wird, dass in einer den modernen Kapitalismus, überlagernden oder ablösenden Dienstleistungsgesellschaft eine „Arbeiterklasse … nicht mehr [existiere]“ (37; Herv. i. O.), ruft dies den Wunsch nach einer Klärung des Klassenbegriffs auf. Zudem ist nicht immer deutlich, wie der Verfasser etwa die Zwänge kapitalistischer Systeme bewertet, wenn er doch starken Urteilen anderer Autor:innen – wie etwa dem des „‚Verwertungsdiktat[s]‘“ (193, Fußnote 5) – allem Anschein nach wenig abgewinnen kann. Zuletzt lesen sich manche Teile des Textes, vorrangig die längere Auseinandersetzung mit Weber und Sombart, weniger mitreißend und es ist wenigstens diesem Rezensenten nicht klar geworden, worin deren Länge begründet liegt. Ebenso wirft Kiesewetters Analyse der historischen marxistischen Autor:innen die Frage auf, weshalb nicht zusätzlich auch jüngere Arbeiten dieser durchaus heterogenen Tradition hinzugezogen wurden, denn diese hätten womöglich die eingeforderte Berücksichtigung verändernder historischer Situationen, wenigstens der Nachkriegsjahrzehnte, besser Rechnung getragen und den Text noch aktueller erscheinen lassen. Eine Erwähnung der Schule der Regulationstheorie etwa, wie auch solcher Autor:innen wie David Harvey aus der angrenzenden Disziplin der Geographie, hätte den Text bereichert.
Hingegen liefert der Text immer wieder wichtige Hinweise auf die Dynamik kapitalistischer Wirtschaftssysteme, denn „stetiger Wandel ist eigentlich in jedes kapitalistische System als Steuerungsgen eingepflanzt und entfaltet dort seine Wirkung“ (117). Kiesewetter ist vollends zuzustimmen, die Anpassungsfähigkeit solcher Systeme niemals zu unterschätzen wie auch die Kompetenzen staatlicher Akteure nicht per Annahme zu überschätzen. Leider jedoch werden die vielfach betonten „vorhandenen Problemlösungskapazitäten dieses Wirtschaftssystems“ (199) wenig hinsichtlich der zuvor gestellten „etwas provokanten Zukunftsfrage“ (38) ob der Zukunftsfähigkeit angesichts der ökologischen Krise ausgeführt. Im Text wird wiederholt die Schwere der Herausforderung unterstrichen, es erfolgen aber wenige Hinweise darauf, wie ‚der‘ zukünftige Kapitalismus angesichts gegenwärtig ausbleibender Erfolge die planetaren Grenzen einhalten könne. Jüngst wurden mit Autor:innen wie Jason Hickel („Weniger ist mehr“, 2022), den zitierten Ulrich Brand und Markus Wissen („Imperiale Lebensweise“, 2017) und zahlreichen anderen solche Stimmen lauter, die grundsätzliche Zweifel an dem Ressourcenverbrauch wirtschaftlichen Wachstums aufwarfen. Solchen Bewertungen lediglich zu entgegnen, man brauche „sie [in Bezug auf Brand und Wissen; T.K.] aus wirtschaftshistorischer Sicht nicht zu teilen“ (199), trägt nicht dieselbe Überzeugungskraft, mit der Kiesewetter an anderer Stelle wichtige Korrekturen an den Ausführungen anderer Autor:innen vornimmt. Dies ist bedauerlich, liegt doch auf Seiten des Verfassers ein hohes Interesse am Abbau sozialer Ungleichheit auf globalem Maßstab vor. Gemessen am Titel des Buches, werden folglich solche Leser:innen, denen besonders an der gegenwärtigen „Überlebenschance“ des Kapitalismus gelegen ist, vorerst nach weiteren Antworten suchen müssen.
Fazit
Kiesewetters Buch ist ein willkommener und überzeugender Aufruf, sich sowohl aufmerksamer mit grundsätzlichen Begrifflichkeiten im wissenschaftlichen und politischen Diskurs um ‚den‘ Kapitalismus zu beschäftigen als auch dessen historische Entwicklung vor dem Hintergrund gegenwärtiger Herausforderungen ernster zu nehmen. Die Auseinandersetzung mit den Einschätzungen anderer Autor:innen ist oft erhellend und regt zu weiterer Lektüre an, wirkt an anderen Stellen hingegen unausgewogen und müsste, um laufende Diskussionen zu bereichern, noch stärker an diese anknüpfen. In der Summe ist „Der moderne Kapitalismus und seine Überlebenschance“ für interessierte Leser:innen innerhalb wie außerhalb der Sozialwissenschaften lesenswert, jedoch nicht unerlässlich.
Rezension von
Tobias J. Klinge
M.A., gegenwärtig wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Wirtschaftsgeographie der Universität Bayreuth
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Es gibt 2 Rezensionen von Tobias J. Klinge.
Zitiervorschlag
Tobias J. Klinge. Rezension vom 24.09.2024 zu:
Hubert Kiesewetter: Der moderne Kapitalismus und seine Überlebenschance. Duncker & Humblot GmbH
(Berlin) 2023.
ISBN 978-3-428-18794-2.
Reihe: Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte - Band 108.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30702.php, Datum des Zugriffs 06.10.2024.
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