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Ilka Maria Hameister, Nikolaj Schulte-Wörmann et al. (Hrsg.): Angegriffene Demokratie(n)

Rezensiert von Dr. phil. Hubert Kolling, 06.11.2023

Cover Ilka Maria Hameister, Nikolaj Schulte-Wörmann et al. (Hrsg.): Angegriffene Demokratie(n) ISBN 978-3-7344-1555-5

Ilka Maria Hameister, Nikolaj Schulte-Wörmann, Tonio Oeftering (Hrsg.): Angegriffene Demokratie(n). Perspektiven der Politischen Bildung. Wochenschau Verlag (Frankfurt am Main) 2023. 104 Seiten. ISBN 978-3-7344-1555-5. D: 16,90 EUR, A: 17,40 EUR.
Schriftenreihe der DVPB.

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Thema

Die vorliegende Publikation greift die in den letzten Jahren unter dem Begriff „Angegriffene Demokratie(n)“ bezeichnete Problem- und Zustandsbeschreibung der politisch-gesellschaftlichen Gegenwart auf und geht aus normativer, empirischer und konzeptioneller Perspektive der Frage nach, welche Anforderungen, Aufforderungen und Gültigkeit diese Diagnose für die Politische Bildung bereitstellt.

Herausgeber

Der schmale Sammelband, an dem insgesamt zehn Autor:innen mitgewirkt haben, erscheint in der „Schriftenreihe der DVPB“ und wird von Ilka Maria Hameister (Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Politikwissenschaft der Friedrich-Schiller-Universität Jena), Prof. Dr. Tonio Oeftering (Professur für Politische Bildung/​Politikdidaktik an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg sowie Bundesvorsitzender der DVPB) und Nikolaj Schulte-Wörmann (Wissenschaftlicher Mitarbeiter und Doktorand in der AG Politische Bildung/​Politikdidaktik an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg) herausgegeben.

Entstehungshintergrund

Die versammelten Beiträge basieren auf der Herbsttagung der (1965 gegründeten) Deutschen Vereinigung für Politische Bildung e.V. (DVPB), die – mit Unterstützung der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) sowie in Kooperation mit der Professur für Didaktik der Politik der Friedrich-Schiller-Universität Jena vom 25. bis 27. November 2021 an der Friedrich-Schiller-Universität Jena stattfand. Ziel war es, den diffusen Zustand der Bedrohung beziehungsweise die Schwäche der Demokratien zu strukturieren sowie Ursachen und Konsequenzen für die politische Bildung aufzuzeigen.

Aufbau und Inhalt

In ihrer Einleitung (S. 5–10) weisen die Herausgeber:innen zunächst darauf hin, dass die Formulierung „angegriffene Demokratie(n)“ als zeitdiagnostische Kurzformel heute so verbreitet ist, dass man sie genre- und disziplinübergreifend im Feuilleton ebenso wie in populärwissenschaftlichen wie fachwissenschaftlichen Problembeschreibungen finden kann. Während man noch vor wenigen Jahren in der politischen Bildung zuweilen den Eindruck hätte gewinnen können, man habe es angesichts des vermeintlichen globalen Siegeszugs der Demokratie westlich-liberaler Prägung mit einem „allmählich überraschungsfreiwirkenden Gegenstand“ (S. 5) zu tun, bröckele inzwischen die Zuversicht, das 21. Jahrhundert mit stabilisierten Institutionen, konsolidierten Regierungen und einer offenen Zivilgesellschaft zu bestreiten. Angesichts der geläufigen Verwendung der Formulierung „angegriffene Demokratie“ lohne es sich zunächst einen Schritt zurückzutreten und sich mit der Frage auseinanderzusetzen, was dieses Begriffspaar ausdrückt. Zur Bedeutung und Intention der Veröffentlichung halten sie sodann wörtlich fest: „Das Anliegen dieses Bandes ist es, ausgewählte Anforderungen (vermeintlicher) Krisen- und Konfliktfelder demokratischer Gegenwartsverhältnisse aus theoretischer und praktischer Perspektive auszuleuchten und damit Herausforderungen, Spannungen und Bearbeitungsansätze für die politische Bildung ans Licht zu bringen, die durch die Lesenden weiter diskutiert werden können“ (S. 8).

In seinem Beitrag „Politische Bildung im Spannungsfeld der Konfliktlinie ‚Kosmopolitismus vs. Kommunitarismus’“ (S. 12–25) setzt sich Dr. Christian Fischer, Lehrer für Sozialkunde und Geschichte sowie Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Erfurt, mit der Frage auseinander, welche zentralen Konfliktlinien die gegenwärtige Gesellschaft strukturieren und was dies in Form und Inhalt für Anforderungen an die Politische Bildung stellt. Seines Erachtens „sollten die Grenzen des demokratischen Diskursraums selbst zum Gegenstand politischen Lernens gemacht werden“ (S. 20). Ferner sollten Leitideen wie Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit, Solidarität. Meinungsfreiheit, Volkssouveränität oder Minderheitenschutz, als Wertehorizont der Demokratie und der politischen Bildung, im Unterricht nicht einfach nur gesetzt, sondern über verschiedene Werteverständnisse diskutiert werden. Schließlich seien demokratiefeindliche Phänomene im Unterricht zu analysieren und zu beurteilen.

Dr. Werner Friedrichs, Akademischer Direktor, Fachvertretung für den Bereich Didaktik der Politik und Gesellschaft an der Fakultät für Sozial- und Wirtschaftswissenschaften der Otto-Friedrich-Universität Bamberg, reflektiert in seinem Beitrag „Vom erschöpfenden Verteidigen zum entschiedenen Anstecken. Zukunft der Demokratie in der neuen Kosmologie des Anthropozäns“ (S. 26–51) kritisch die Logiken und Wirkungen der Handlungs- und Kontrollimperative, die mit Proklamationen von Demokratiekrisen einhergehen. Hierbei argumentiert er für eine, an die Bedingungen der Spätmoderne angepasste Bildung von Subjektivität in den Mittelpunkt politischer Bildungspraxis zu setzen: „Nicht mehr sich-bilden, um etwas zu tun, sondern sich mit-bilden, sich an-bilden, um gemeinsam zu werden. Nicht mehr die autonome Existenz definitorisch begründen, sondern ein Vokabular der Ansteckung entwickeln, um gemeinsam zu sein“ (S. 46).

In seinem Beitrag „Kontroversitätsbewusstsein – Oder: Worauf zielt das Kontroversitätsgebot in der politischen Bildung?“ (S. 52–64) arbeitet Johannes Schmoldt, M. A., Doktorand am Lehrstuhl für Politische Bildung an der Universität Erfurt und Lehrbeauftragter an der Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Erfurt, zunächst die Bedeutung und Begründungen des Kontroversitätsgebots ideengeschichtlich auf, um sodann für die Stärkung eines radikaldemokratisch fundierten Kontroversitätsbewusstseins von Lehrkräften und Schüler:innen zu plädieren. „Dem politisch Lernenden soll vermittelt werden“, so der Autor, „dass die politische und wissenschaftliche Wirklichkeit stets von Kontroversen durchzogen ist und unterschiedliche Standpunkte eingenommen werden können. Ziel des Kontroversitätsgebotes ist es, insofern, dass Schülerinnen und Schüler weder von der Politik noch von der Wissenschaft ‚die eine‘ Wahrheit oder Lösung erwarten können und sollen“ (S. 57).

Prof. Dr. Stefanie Kessler, Hochschullehrerin für Soziale Arbeit an der Internationalen Hochschule (Studienort Braunschweig) mit dem Schwerpunkt Politik und politische Bildung in Schule und Sozialer Arbeit, präsentiert in ihrem – auf ihrer 2021 veröffentlichten Dissertation beruhenden – Beitrag „Demokratielehre in Politikunterricht und Schule. Umgang Politiklehrender mit Angriffen auf die Demokratie“ (S. 65–76) Ergebnisse ihrer empirischen Forschung zu Lehrorientierungen und Demokratieverständnissen von Politiklehrkräften.

Unter der Überschrift „Haltung zeigen gegen antidemokratische Positionen und Einstellungen“ (S. 77–91) stellen Udo Dannemann, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Politische Bildung an der Universität Potsdam, und Erich Angermann, M.A., Doktorand und Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Universität Göttingen, das Projekt „Starke Lehrer*innen – starke Schüler*innen (SL*-sS*)in Brandenburg“ vor, in dem es um Professionswissen von und Handlungsstrategien für Lehrkräfte im Umgang mit antidemokratischen Äußerungen von Schüler:innen geht. Von fundamentaler Bedeutung sind dabei nach Ansicht der Autoren „die inhaltliche Sensibilisierung und die praktische Stärkung der Handlungssicherheit der Lehrkräfte, ihre außerschulische Vernetzung zu Bildungsträgern und fachlichen Expert*innen, ein klarer Rückhalt der Leitungsebene sowie die schulinterne Verankerung von Strukturen, in denen langfristig gegen Diskriminierungen und antidemokratische Einstellungen im Schulalltag vorgegangen werden kann“ (S. 89).

Christopher Fritzsche, Doktorand und als Referent in der Politischen Bildungsarbeit tätig, zeigt in seinem Beitrag „Narrative Gesprächsgruppen als Mittel zur Re-Demokratisierung und Stärkung der Schulkultur?“ (S. 92–101) Möglichkeiten auf und schildert Erfahrungen, wie innerhalb von Schule non-formale Diskursräume außerhalb des Fachunterrichts geschaffen und gestaltet werden können. Seines Erachtens sollten narrative Gesprächsgruppen „langfristig als fester Bestandteil in die schulischen Lehrpläne integriert werden“ (S. 99).

Diskussion

Liberale Demokratien, die ihren Ausdruck – durch eine Verfassung garantiert – in freien Wahlen, Gewaltentrennung, Rechtsstaatlichkeit, Marktwirtschaft, Menschen- und Bürgerrechten sowie bürgerlichen und politischen Freiheitsrechten finden, geraten seit geraumer Zeit immer stärker unter Druck. Von außen werden sie angegriffen, nicht nur von fundamentalistischen Strömungen, sondern auch von Staaten und Akteuren wie etwa Russland oder China, die sich offen als Alternative zum Modell der liberalen Demokratie darstellen und ihren damit verbundenen Macht- und Gestaltungsanspruch auch geopolitisch durchzusetzen versuchen. Gleichzeitig müssen liberale Demokratien sich gegen sie gerichtete Angriffe aus dem Innern heraus erwehren, zumal es verstärkt populistische und zuweilen extremistische Kräfte gibt, die zunehmend auch über eine parlamentarische Repräsentation verfügen.

Vor diesem Hintergrund stellte die Deutsche Vereinigung für Politische Bildung e.V. die Problem- und Zustandsbeschreibung der politisch-gesellschaftlichen Gegenwart, für die als zeitdiagnostische Kurzformel gerne die Formulierung „angegriffene Demokratie(n)“ genutzt wird, in den Mittelpunkt ihrer an der Friedrich-Schiller-Universität Jena durchgeführten Herbsttagung 2021.

Auf einen entsprechenden Call for Papers, der sich an die Fachwissenschaft, Fachdidaktik sowie die schulische und außerschulische Praxis der Politischen Bildung richtete (https://dvpb.de/wp-content/​uploads/2021/08/CfP-DVPB-Herbsttagung-2021.pdf), ging die vorliegende, rund 100 Seiten starke Publikation hervor, die sich aus normativer, empirischer und konzeptioneller Perspektive mit dem Thema auseinandersetzt und an Interessierte aus Praxis und Theorie der (außer-)schulischen Bildung richtet. Die Beiträge, die jeweils über einen separaten Anmerkungsapparat und Hinweise auf Literatur verfügen, zeigen dabei unter anderem auf, dass politische Bildungsprozesse und Zeitgeist als produktive und reflektierte Verstrickungen interpretiert werden können: Ziele, Strategien und Arrangements schulischen und außerschulischen Lernens müssen demnach auf die Diagnosen der politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Verfasstheit der Herrschafts-, Gesellschafts- und Lebensformen reagieren. Gleichzeitig zeigen sie auch, dass die politische Bildung Gestaltungskraft hat, auf diese einzuwirken. Insofern ist das Anliegen der politikdidaktischen Autor:innen nicht allein der Anspruch zur Verteidigung von Angriffen auf die Demokratie(n), sondern auch die Vorstellung und feste Überzeugung, dass die Verhältnisse auch anders sein und in Bildungsprozessen gemeinsam anders gestaltet werden können. Die Beiträge sind insgesamt betrachtet ermutigend, da sie keinen Zweifel daran lassen, dass die Politische Bildung durchaus in der Lage ist, ihren Beitrag zur Stärkung der Demokratie zu leisten.

Fazit

Der Sammelband bietet einen guten Einblick zur aktuellen Diskussion über „Angegriffene Demokratie(n)“. Insofern sollte er insbesondere von denjenigen zur Kenntnis genommen werden, die sich in Praxis und Theorie mit der politischen Bildung beschäftigen.

Rezension von
Dr. phil. Hubert Kolling
Krankenpfleger, Diplom-Pädagoge und Diplom-Politologe
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Es gibt 191 Rezensionen von Hubert Kolling.

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Zitiervorschlag
Hubert Kolling. Rezension vom 06.11.2023 zu: Ilka Maria Hameister, Nikolaj Schulte-Wörmann, Tonio Oeftering (Hrsg.): Angegriffene Demokratie(n). Perspektiven der Politischen Bildung. Wochenschau Verlag (Frankfurt am Main) 2023. ISBN 978-3-7344-1555-5. Schriftenreihe der DVPB. In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30708.php, Datum des Zugriffs 14.09.2024.


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