Julia Asbrand, Julian Schmitz et al. (Hrsg.): Lehrbuch Klinische Kinder- und Jugendpsychologie und Psychotherapie
Rezensiert von Wolfgang Schneider, 13.06.2023
Julia Asbrand, Julian Schmitz, Marcus Hasselhorn, Wilfried Kunde, Silvia Schneider (Hrsg.): Lehrbuch Klinische Kinder- und Jugendpsychologie und Psychotherapie.
Kohlhammer Verlag
(Stuttgart) 2023.
626 Seiten.
ISBN 978-3-17-040354-3.
59,00 EUR.
Reihe: Kohlhammer Standards Psychologie.
Thema
Das Lehrbuch gibt einen breiten und vor allem empirisch fundierten Überblick zur klinischen Kinder- und Jugendpsychologie und Psychotherapie. Im Fokus steht dabei die Vermittlung von theoretischem Fachwissen und praktischen Kompetenzen mit der Hauptzielgruppe Studierende in entsprechenden Bachelor- und Master-Studiengängen. Neben der Darstellung von zentralen Themen widmen sich die Autor*innen den wichtigsten Störungsbildern und Behandlungsansätzen.
AutorIn oder HerausgeberIn
Prof. Dr. Julia Asbrand ist Diplom-Psychologin, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin sowie Professorin für Klinische Psychologie des Kinder- und Jugendalters. Sie leitet die Spezialambulanz für Kinder, Jugendliche und Familien der Friedrich-Schiller-Universität Jena.
Prof. Dr. Julian Schmitz ist Diplom-Psychologe und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut sowie Professor für Klinische Kinder- und Jugendpsychologie. Er leitet die Psychotherapeutische Hochschulambulanz für Kinder und Jugendliche an der Universität Leipzig.
Entstehungshintergrund
Der Titel ist Teil der Reihe „Standards Psychologie“ im Kohlhammer Verlag. Da die Autorinnen aus Wissenschaft und Praxis kommen, versteht sich dieses Buch als Schnittstelle der beiden Bereiche, um Fachkräften zum einen neue Informationen und Hintergrundwissen zu vermitteln, zum anderen aber auch zur Reflexion eigenen fachlichen Handelns anzuregen.
Aufbau und Inhalt
Erfahrene Autor*innen geben zunächst einen Überblick über zentrale Themen des Fachgebietes wie Entwicklungspsychopathologie, Diagnostik sowie Psychotherapieforschung und die wichtigsten in Deutschland zugelassenen Verfahren der Psychotherapie. Danach werden die wichtigsten Störungsbilder in ihrem klinischen Erscheinungsbild, Epidemiologie, Diagnostik ätiologischen Modellen zur Entwicklung, Verlauf und Behandlungsansätze dargestellt.
Ein weiterer störungsübergreifender Teil stellt relevante Grnezgebiete der Klinischen Kinder- und Jugendpsychologie dar, indem auf Prävention, Pharmakologie, rechtliche Grundlagen, Jugendhilfe sowie verschiedene Settings eingegangen wird. Im ganzen Buch wird immer wieder mit anschaulichen Fallbeispielen der Bezug zur Praxis hergestellt. Aber werfen wir einen Blick in die Tiefe. Der erste Teil widmet sich einer Einführung in die Thematik, bevor im Kapitel zur Entwicklungspsychopathologie zum Beispiel über Risiko- und Schutzfaktoren im Allgemeinen informiert wird, die einen Einfluss auf psychische Erkrankungen oder Störungsbilder haben können.
Weiter geht es mit einem Überblick über Diagnostik und Klassifikation in der Kinder- und Jugendpsychologie/​-psychotherapie, bevor mit der Verhaltenstherapie, psychodynamischen Verfahren und der systemischen Psychotherapie drei Therapieschulen näher beleuchtet werden. Den Abschluss dieses ersten Teils bildet ein Beitrag zur Psychotherapieforschung.
Teil 2, der den weitaus größten Teil des Buches einnimmt, bildet den tiefen Einstieg in die Thematik. Zunächst stehen dabei die Entwicklungs- und Verhaltensregulation im frühen Kindesalter im Fokus, bevor die Bindungsstörungen betrachtet werden. Weiter geht es mit den Ausscheidungsstörungen.
Die folgenden Kapitel beschäftigen sich mit
- den Störungen des Autismusspektrums,
- selektivem Mutismus,
- Störungen des Sozialverhaltens,
- ADHS und
- Tic-Störungen.
Es folgen Betrachtungen der Emotionalen Störung mit Trennungsangst, spezifischer Phobien, der Sozialen Angststörung sowie von Überängstlichkeit, Sorgen und Generalisierter Angststörung. Im weiteren Verlauf folgen Darstellungen der Panikstörung und Agoraphobie, der Zwangsstörung, von Traumafolgestörungen, somatoformen Schmerzen, bevor Depressionen, Schlafstörungen, das breite Feld der Essstörungen, Störungen durch Substanzkonsum und süchtiges Verhalten, nichtsuizidale Selbstverletzungen und Persönlichkeitsstörungen im Jugendalter näher betrachtet werden. Der dritte Teil zu angrenzenden Gebieten der Klinischen Kinder- und Jugendlichenpsychologie besteht aus Kapiteln zu Kindern psychisch kranker Eltern, pharmakologischer Behandlung, ethischen und gesetzlichen Grundlagen der klinisch-psychologischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen sowie zur Kinder- und Jugendhilfe sowie ein Kapitel zum Ausblick in die Zukunft und Weiterentwicklung in Forschung und Praxis. Den Abschluss des Buches bildet der Teil Verzeichnisse, indem sich Das Autor*innen- sowie das Stichwortverzeichnis befinden.
Das Kapitel zu Bindungsstörungen ist von Lars White und Kai von Klitzing verfasst worden, wobei Letzteres in der Fachwelt sehr bekannt ist – zuletzt durch sein beeindruckendes Buch über die Vernachlässigung von Kindern. Und so ist dieses Kapitel dann unter anderem mit folgender Lernfrage überschrieben: „Inwiefern stellt insuffiziente Fürsorge in der frühen Kindheit eine notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung für eine Bindungsstörung dar?“ (S. 153). Anhand dieser Lernfrage soll der Inhalt des Kapitels nun näher beleuchtet werden. Wie nahezu alle anderen Kapitel auch steht zunächst eine Fallvignette im Fokus, hier die des fünfjährigen Frederick, in dem – ohne an dieser Stelle zu viel vorweg zu nehmen – sehr ausführlich die Verhaltensweisen eines Kindes mit einer vermuteten Bindungsstörung beschrieben werden. Grundsätzlich sind die Kapitel zu den störungsspezifischen Informationen nach dem nun folgenden Muster aufgebaut. In der anschließenden Darstellung des klinischen Erscheinungsbildes von Bindungsstörungen zeigen die Verfasser allgemein auf, wie sich die reaktive Bindungsstörung (u.a. fokussiertes Bindungsverhalten auf eine Bezugsperson gerichtet) und die enthemmte (u.a. sozial und entwicklungstypisch unangemessene und grenzüberschreitende Annäherungsversuche) Bindungsstörung zeigen. Im Folgenden steht die Klassifikation der beiden Typen im Fokus, was im Rahmen einer Synopse der Kriterien von DSM-5 und ICD-10 passiert. Dabei werden die entsprechenden Strukturmerkmale der Klassifikationssysteme – also Diagnosetitel, Hauptmerkmal, Verhaltensweisen, Umweltkriterium und Alters- und Zeitkriterium – unterschieden. Ein kurzer Blick auf die Epidemiologie zeigt das quantitative Vorkommen der Bindungsstörung, wobei ein großes Dilemma nicht verschwiegen wird: Es mangelt schlicht an Untersuchungen im deutschen Sprachraum. Eine der interessantesten Fragen stellen die Autoren dann danach: Wie entsteht eine Bindungsstörung eigentlich? Dass es dafür keine monokausale Antwort gibt, dürfte auf der Hand liegen, trotzdem erfolgt ein Versuch der Annäherung – sowohl textlich als auch grafisch: Es wird klar (um auf die Lernfrage einzugehen), dass insuffiziente Fürsorge alleine nicht ausschlaggebend ist, sondern auch noch andere Faktoren eine gewichtige Rolle spielen: Die Beziehungserfahrungen müssen vor allem als emotional deprivierend bzw. bedrohlich erfahren werden und häufige Wechsel der Bezugspersonen erlebt werden. Ebenfalls von Bedeutung für die Ausbildung dieses Störungsbildes sind aufrechterhaltende Faktoren, bei denen allerdings das Problem besteht, dass es aktuell noch „an empirischer Evidenz zu begleitenden Kognitionen und Wechselwirkungen mit der Umwelt [und deren direkten] Bezug zu Bindungsstörungen“ (S. 161) mangelt. Klinische Praktiker*innen finden anschließend Informationen zur Diagnostik und zum diagnostischen Vorgehen sowie zu evidenzbasierten psychotherapeutischen Interventionen. Den textlichen Abschluss bildet die Beantwortung der Lernfragen, was im konkreten Fall bedeutet: Eine insuffiziente Fürsorge wird als „zentraler ursächlicher Faktor angenommen“ (S. 166), scheint aber „nicht hinreichend, da nur eine Minderheit der Kinder mit insuffizienter Fürsorgeerfahrung eine Bindungsstörung entwickelt“ (ebd.). Weiterführende Literatur rundet den Beitrag ab.
Thematisch in eine komplett andere Richtung geht das Kapitel Ethische und gesetzliche Grundlagen der klinisch-psychologischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen, das von Thomas Ufer und Anna Laas verfasst wurde. Die hier zugrundeliegenden Lernfragen zielen auf das Selbststimmungsrecht der Patient*innen, den Unterschied zwischen Geschäftsfähigkeit und Einwilligungsfähigkeit und die Frage, wann die Schweigepflicht durchbrochen werden darf. Die Antworten hier werden prägnant und durch juristische Normen untermauert dargestellt: Fälle des Bekanntwerdens schwerer Straftaten wie Mord oder aber auch Hochverrat rechtfertigen demnach das Brechen der Schweigepflicht.
Diskussion
Wer das Buch in die Hand nimmt, der hat im wahrsten Sinne des Wortes etwas in der Hand. Auf über 630 Seiten finden 35 Kapitel, Einleitung und Autor*innenverzeichnis sowie ein wirklich breites Stichwortverzeichnis Platz. Aber nicht nur der Umfang beeindruckt, sondern auch die inhaltliche Ausgestaltung und die enorm hohe Fachlichkeit der einzelnen Beiträge. Hier sind echte Fachleute als Autor*innen verpflichtet worden, die es neben der Wissensvermittlung schaffen, in einer verständlichen und nachvollziehbaren Sprache zu schreiben – womit sich das Buch wohltuend von anderen Veröffentlichungen dieser Art abhebt, deren Sprache manchmal so hoch wissenschaftlich ist, dass sie kaum verständlich ist.
Hervorzuheben ist auch das Layout der Kapitel. Die Aufteilung auf zwei Spalten pro Seite, lesbare Tabellen, Grafiken und Infokästen sorgen dafür, dass das Auge von den vielen Informationen nicht überfordert wird und ein flüssiges Lesen gewährleistet ist. Jedem Kapitel sind darüber hinaus Lernfragen vorangestellt, die am Ende beantwortet werden. Dieser Aspekt ist der Tatsache geschuldet, dass sich die Veröffentlichung im Grundsatz an Studierende richtet, ist aber auch für bereits ausgebildete Fachkräfte kein Störfaktor – ganz im Gegenteil: So gelingt gleich beim Aufschlagen des Kapitels ein Überblick über die wichtigsten Kernpunkte zu erhalten. Wer sich für eine Vertiefung einzelner Gebiete interessiert, der bekommt in jedem Kapitel ein kurzes Verzeichnis mit weiterführender Literatur empfohlen.
Ein Pluspunkt ist ebenfalls, dass es gelingt, über den Tellerrand hinaus zu schauen, indem sich der letzte Teil des Buches angrenzenden Bereichen widmet. So dürften für Fachkräfte der Sozialen Arbeit besonders das Kapitel über Kinder psychisch kranker Eltern sowie eine grundsätzliche Betrachtung der Schnittpunkte von Psychiatrie mit der Kinder- und Jugendhilfe haben. Spannend ist an dieser Stelle auch die Betrachtung ethischer und gesetzlicher Grundlagen der klinisch-psychologischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen.
Einzig und alleine der (allerdings sowohl wegen der Quantität als auch der Qualität berechtigte) hohe Preis trübt den Gesamteindruck, weil so letztlich verhindert wird, dass das Buch einem breiteren (Fach)-Publikum zugänglich werden kann.
Fazit
Das Buch ist mit 69,- Euro nicht günstig, aber sowohl Qualität als auch Umfang rechtfertigen den Preis. Auch wenn die Zielgruppe des Titels studierende sind, ist es auch für bereits im Beruf befindliche Fachkräfte absolut empfehlenswert. Die klare Struktur und die übersichtliche Darstellung bieten schnelle Orientierung im Alltag, um Unklarheiten bei Abgrenzungen von Störungen oder Krankheiten zu ermöglichen oder um das eigene Wissen zu erweitern.
Rezension von
Wolfgang Schneider
Sozialarbeiter
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Zitiervorschlag
Wolfgang Schneider. Rezension vom 13.06.2023 zu:
Julia Asbrand, Julian Schmitz, Marcus Hasselhorn, Wilfried Kunde, Silvia Schneider (Hrsg.): Lehrbuch Klinische Kinder- und Jugendpsychologie und Psychotherapie. Kohlhammer Verlag
(Stuttgart) 2023.
ISBN 978-3-17-040354-3.
Reihe: Kohlhammer Standards Psychologie.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30710.php, Datum des Zugriffs 08.09.2024.
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