Susanne Heynen (Hrsg.): Stuttgarter Beiträge zur Qualitätsentwicklung und Praxisforschung in der Jugendhilfe
Rezensiert von Wolfgang Schneider, 11.05.2023

Susanne Heynen (Hrsg.): Stuttgarter Beiträge zur Qualitätsentwicklung und Praxisforschung in der Jugendhilfe. Beltz Juventa (Weinheim und Basel) 2023. 414 Seiten. ISBN 978-3-7799-7493-2. D: 58,00 EUR, A: 59,70 EUR.
Thema
Vor Kurzem feierte das Stuttgarter Jugendamt seinen 100. Geburtstag und seitdem Teil der Entwicklung der öffentlichen und freien Jugendhilfe. Der Band »Stuttgarter Beiträge zur Qualitätsentwicklung und Praxisforschung in der Jugendhilfe« gibt nun einen umfassenden Überblick über zentrale Arbeitsbereiche derselben. Die Beiträge werfen dabei nicht nur einen Blick auf die unterschiedlichen Themenfelder und Lebenswelten von jungen Menschen, sondern zeigen auch die unterschiedlichen Zugänge zu einer Verknüpfung von Theorie, Praxis und Lebenswelt sowie die Entwicklungen der Jugendhilfe im Kontext gesellschaftlicher Veränderungen. „Der Transfer zwischen Forschung und Lehre auf der einen Seite und den Erfahrungen und Erkenntnissen der Praktiker*innen und Familien auf der anderen Seite ist im Bereich der Jugendhilfe beziehungsweise der Sozialen Arbeit in Anbetracht der wachsenden Aufgaben und Verantwortlichkeiten von großer Bedeutung“, beschreibt Susanne Heynen, die Amtsleiterin des Stuttgarter Jugendamtes, in einer Pressemitteilung von Beltz Juventa den Hintergrund des Buches.
Autor:in
Susanne Heynen ist Diplom-Psychologin und leitet das Jugendamt der baden-württembergischen Landeshauptstadt Stuttgart. Gemeinsam mit einem Team von Kolleginnen aus verschiedenen Fachbereichen ihres Amtes sowie mit externer Unterstützung beispielsweise von Expert*innen des Deutschen Jugendinstituts hat sie in einem mehrjährigen Prozess die Texte für dieses Buch herausgegeben.
Aufbau
Das Buch orientiert sich an den Themenfeldern, in denen das Jugendamt arbeitet. So bilden die einzelnen Arbeitsschwerpunkte Oberkapitel, zu denen sich dann mehrere Beiträge finden. Zunächst wird jeweils das Arbeitsfeld kurz beschrieben. Es folgen dann Hinweise auf fachlich relevante Gemeinderatsdrucksachen, Beteiligungen an Forschungsprojekten sowie kurze Erläuterungen zu den Texten.
Inhalt
Die ersten beiden Beiträge gehören zum Themenfeld Frühe Hilfen, die in Stuttgart nicht nur von freien Trägern wie häufig üblich erbracht werden, sondern auch durch den öffentlichen Träger der Jugendhilfe direkt erfolgen. Der erste Beitrag zeigt die Bedeutung, die der Expertise von Eltern bei der Entwicklung von Angeboten der Frühen Hilfen zukommt, bevor ein spezielles Programm vorgestellt wird, das die Stuttgarter Erziehungsberatung zur Entwicklungsberatung für Eltern mit Säuglingen nutzt.
Das nächste Themenfeld ist die Kindertagesbetreuung. Hierbei wird die Qualitätsentwicklung als dialogischer Prozess insgesamt vorgestellt als auch exemplarisch am Angebot beim Wechsel zwischen Kita und Grundschule beleuchtet. Abschließend werden in diesem Teil Ergebnisse der turnusmäßig durchgeführten Elternbefragungen in den Stuttgarter Kindertageseinrichtungen beschrieben.
Im nächsten Teil wird der Familienrat näher beleuchtet. Diese aus Neuseeland stammende Methoden setzt konsequent an den Ressourcen des jeweiligen familiären Netzwerks an und bezieht dieses bei den Planungen von Vorgehensweisen aktiv mit ein. Die beiden Artikel stellen grundsätzlich die Methodik als Brücke zwischen privater Lebenswelt und professioneller Hilfe vor und beleuchten die Kultur- und Kontextsensibilität der Methode Familienrat.
Der nächste Teil widmet sich den Erziehungshilfen, die das Jugendamt in drei von elf Sozialraum-Regionen in ambulanter und stationärer Form anbietet. Hierzu gehören zum Beispiel Inobhutnahmestellen und Wohnanlagen für Alleinerziehende. In den Beiträgen geht es um Mitbestimmung und Entscheidungsübernahme von Adressat*innen in der Gewährung und Planung von Hilfen zur Erziehung und die Ausgestaltung dieser Prozesse in den Sozialräumen.
Zwei weitere Texte stellen die Arbeit des städtischen Erziehungshilfeträgers vor – anhand der Implementierung von Kinderrechten sowie Beschwerde- und Beteiligungsmöglichkeiten auf der einen Seite und der Partizipation junger Menschen in Einrichtungen auf der anderen Seite. Es folgen ein Beitrag über „Digitale Elternarbeit in der Jugendhilfe mit Geflüchteten“ sowie die Interviews mit zwei längst erwachsenen ehemaligen Bewohnern städtischer Jugendhilfeeinrichtungen, die die Wichtigkeit von Mitbestimmungsmöglichkeiten und vertrauensvollen Beziehungsangeboten thematisieren. Abschließend wird die Personalsituation in den Erziehungshilfen im Kontext von Fachkräftenot und neuen Herausforderungen thematisiert.
Im Abschnitt Inobhutnahme/​Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge wird zuerst die Bereitschaftspflege als besonderer Bereich der Inobhutnahme dargestellt, bevor es grundsätzlich um die Inobhutnahme unbegleiteter minderjähriger Flüchtlinge geht sowie abschließend um ehrenamtliches Engagement in der Arbeit mit eben jenen.
Es folgt der Themenkomplex Kinderschutz, der in der Regel unter Berücksichtigung der Stuttgarter Standards und Vorgehensweisen betrachtet wird. Als Erstes wird von den Möglichkeiten eines Jugendamtes beim Thema Kindesvernachlässigung berichtet, bevor Kinderschutz aus der Perspektive des öffentlichen Jugendhilfeträgers diskutiert wird. Anschließend wird der Stuttgarter Kinderschutzbogen als Diagnoseinstrument bei möglichen Kindeswohlgefährdungen vorgestellt. Es schließt ein Bericht über die Kooperation im Kinderschutz in der Schnittstelle von Gesundheitswesen und Jugendhilfe an, der die interdisziplinäre Gefährdungseinschätzung im Kinderschutzteam des Stuttgarter Olgahospitals zum Inhalt hat.
Es folgt mit dem Oberkapitel Häusliche Gewalt ein intensives Thema. Wie sich junge Menschen fühlen, wenn Erwachsene für sie entscheiden, wie es weitergeht, beschreiben zwei Jugendliche im Gespräch mit der Herausgeberin. Der zweite Beitrag in diesem Block beschäftigt sich damit, wie Fachkräfte Fälle von innerfamiliären Tötungsdelikten bewältigen und verarbeiten.
Den Abschluss des Buchs bildet das Thema Entwicklung der Jugendhilfe. Hier werden verschiedene Themen aufgegriffen, die sich mit der Entwicklung der Jugendhilfe in der Vergangenheit und in der Zukunft beschäftigen. Am Beispiel von Pippi Langstrumpf wird eingangs die Bedeutung niedrigschwelliger Hilfen und die der Sicherung qualifizierter Fachkräfte thematisiert, bevor sich die Herausgeberin dem durch die Gesetzesnovellierungen immer stärker in den Fokus rückenden Fachkräftebedarf widmet. Anschließend werden die Herausforderungen für die geplante große Lösung zur Eingliederungshilfe von Kindern und Jugendlichen unter dem Dach der Jugendhilfe erläutert. Anschließend wird diskutiert, wie eine Stadt so gestaltet werden kann, dass sie von jungen Menschen wirklich als „ihre“ Stadt angenommen wird. Das Buch endet mit dem Blick auf die wechselvolle Entwicklung der Fürsorge und damit auch der Jugendhilfe, ihre Verwobenheit und Verstrickung in historische Veränderungen und Brüche.
Exemplarisch beleuchtet werden soll an dieser Stelle ein Kapitel, das die Herausgeberin Susanne Heynen auch selbst verfasst hat: Möglichkeiten und Grenzen des Jugendamtes bei sexuellem Missbrauch. Dieses Kapitel ist insofern interessant, weil es häufig die Missbrauchsfälle sind, bei denen nach Bekanntwerden der mediale Shitstorm über die Jugendämter hereinbricht, warum sie nichts bemerkt haben. Nach der Darlegung der rechtlichen Rahmenbedingungen stellt die Verfasserin die grundsätzlichen Verfahrensweisen des Stuttgarter Jugendamtes wie kollegialer Beratungen unter Einbeziehung der Vorgesetzten, den Einsatz sogenannter Hilfeprozessmanager*innen als insofern erfahrene Fachkraft nach § 8b SGB VIII und zum Führen eines ausführlichen Erstgesprächs. Diese Fachkraft ist nicht fallverantwortlich, sondern begleitet den Prozess als externe*r Expert*in. Zahlen, die das Stuttgarter Jugendamt erfasst hat, zeigen zwischen 2014 und 2017 135 Fälle, bei denen eine insofern erfahrene Fachkraft bei Beratungen aufgrund des Verdachts sexualisierter Gewalt zu Fallberatungen hinzugezogen wurde. Susanne Heynen benennt dabei, dass sich nicht alle Fälle haben bestätigen lassen, was nicht bedeutet, dass den betroffenen Kindern keine sexualisierte Gewalt angetan wurde. Genau hier beschreibt sie auch die Grenzen bei Gefährdungseinschätzungen, denn manchmal lassen sich einfach keine nach außen sichtbaren Hinweise führen. Und deshalb fordert sie als Quintessenz, aus missglückten Kinderschutzfällen intensiv zu lernen, diese auszuwerten – um so letztlich in der Zukunft zu verhindern, dass Taten übersehen und Opfer nicht geschützt werden.
Diskussion
Jugendämter glänzen in Deutschland häufig nicht mit Transparenz, öffentliche Auftritte beschränken sich auf Imagekampagnen wie „Unterstützung, die ankommt“ (unterstuetzung-die-ankommt.de). Umso positiver ist zu bemerken, wenn es wie in diesem Fall anders ist. Das Jugendamt Stuttgart ist breit aufgestellt, leistet viel – warum also nicht in der Öffentlichkeit darüber sprechen? Dass man hier den Weg ins Außen geht, zeigt sich schon bei der im Buch auch beschriebenen Ausstellung „100 Jahre Jugendamt Stuttgart“. Nun ist es natürlich so, dass ein Buch zur Qualitätsentwicklung und Praxisforschung im Jugendamt nicht unbedingt die breite Masse erreichen wird, sondern eher ein interessierten Fachpublikum. Und auch da wahrscheinlich auch nur einem Teil der (Leitungs)-Kräfte der Jugendämter. Denn aus Erfahrung des Rezensenten ist auch das Thema Praxisforschung nichts, was in deutschen Amtsstuben mit offenen Armen begrüßt wird. Dabei wäre das so wichtig, um die Arbeit zu evaluieren und an gegebene Notwendigkeiten anzupassen. Keine Stadt ist wie die andere, und so ist natürlich auch keine Kommunalverwaltung, zu der das Jugendamt bekanntlich gehört, wie die andere. Die Stuttgarter Verhältnisse sind somit also nur schwer übertragbar, aber das ist nicht schlimm. Denn dieses Buch kann eine Haltung vermitteln: Eine Haltung, die beschreibt, dass es sich lohnt die eigene Arbeit zu evaluieren und an Stellschrauben zu ziehen, wenn dabei herauskommt, dass es eben nicht gut läuft oder Angebote an der Zielgruppe vorbei geplant worden sind.
Dass es im Buch in verschiedenen Bereichen immer wieder um Partizipation geht, ist erfreulich. Wenn auch durch das Kinder- und Jugendstärkungsgesetz seit Sommer 2021 im SGB VIII noch stärker verankert – aber vorher auch schon vorhanden –, ist die Beteiligung der Adressat*innen gerade in den Hilfen zur Erziehung oft noch ein Fremdwort. Die Beiträge in diesem Band zeigen, wie das funktionieren kann und wie wichtig Beteiligung grundsätzlich ist. Hervorzuheben ist an dieser Stelle der Beitrag, in dem diskutiert wird, wie Jugendhilfeplanung dazu beitragen kann, dass Jugendliche eine Stadt als „ihre Stadt“ annehmen. Wie wichtig das ist, hat man in Stuttgart bitter erfahren, als im vergangenen Sommer Jugendliche dort nachts randalierten und Polizsi*innen angriffen.
Zweifelsohne leistet die öffentliche Jugendhilfe viel Gutes, hat vielen jungen Menschen und Familien einen Weg in ein selbstbestimmtes und verantwortungsvolles Leben bereitet – aber eben nicht ausschließlich. Insofern wäre es wünschenswert gewesen, auch die Kritik an einem Jugendamt stärker in den Blick zu nehmen und so die Realität abzubilden. Denn das Jugendämter in Deutschland einen in der Regel nicht sehr guten Ruf haben, ist leider ein Fakt, an dem die Ämter häufig nicht unschuldig sind. Oft ist mangelnde Transparenz einer der Gründe für das schlechte Image. Das hätte aus Sicht des Rezensenten durchaus aufgegriffen werden sollen. Allerdings ist die durchaus Klagen auf hohem Niveau, was die äußerst lesenswerten Beiträge und den hervorragenden Gesamteindruck des über 400 Seiten starken Buches nicht wirklich schmälert. Zu breit ist das Werk inhaltlich aufgestellt, als dass diese Kritik wirklich ins Gewicht fallen würde.
Fazit
Dieses umfangreiche Buch bietet einen spannenden, gut aufbereiteten Einblick in die verschiedenen Wirkungsbereiche eines der größten Jugendämter Deutschlands. Das ist sicherlich nichts für die breite Leserschaft, für ein Fachpublikum aber hochinteressant, da es hoffentlich eine Tür dazu öffnet, dass Jugendämter sich mehr dem Thema Praxisforschung öffnen. Zu überzeugen weiß das Buch auch durch Perspektivwechsel, die zeigen, wie Adressat*innen der Jugendhilfe die Arbeit des Jugendamtes erleben. Auch das sollte durchaus Nachahmer in anderen Behörden finden.
Rezension von
Wolfgang Schneider
Sozialarbeiter
Mailformular
Es gibt 141 Rezensionen von Wolfgang Schneider.