Tobias Schmohl, Alice Watanabe et al. (Hrsg.): Künstliche Intelligenz in der Hochschulbildung
Rezensiert von Prof. Dr. Irmgard Schroll-Decker, 29.08.2023
Tobias Schmohl, Alice Watanabe, Kathrin Schelling (Hrsg.): Künstliche Intelligenz in der Hochschulbildung. Chancen und Grenzen des KI-gestützten Lernens und Lehrens.
transcript
(Bielefeld) 2023.
286 Seiten.
ISBN 978-3-8376-5769-2.
D: 35,00 EUR,
A: 35,00 EUR,
CH: 42,70 sFr.
Reihe: Hochschulbildung: Lehre und Forschung - 4.
Entstehungshintergrund und Thema
Der Band vereint Erkenntnisse aus einem vom Herausgeber von 2020 bis 2022 geleiteten Forschungsprojekt zur „KI in der Hochschullehre“ und Beiträge zu Projektergebnissen zum Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) an anderen Hochschulen. Fokussiert wird dabei auf den Lehr-Lernkontext, ohne Schnittflächen zur Lehre über KI auszublenden.
Herausgeber:innen
Prof. Dr. Tobias Schmohl ist seit 2018 Professor für Hochschul- und Mediendidaktik an der Technischen Hochschule Ostwestfalen-Lippe (TH OWL) und wissenschaftlicher Leiter des Instituts für Wissenschaftsdialog Lemgo. Ein Forschungsgebiet gilt transdisziplinären, empirischen und konzeptionell-theoretischen Fragestellungen der Hochschulbildung und -didaktik. Alice Watanabe, M.A. und Kathrin Schelling, M.A. waren wissenschaftliche Mitarbeiterinnen.
Aufbau und Inhalt
Die 15 Beiträge behandeln Aspekte der Nutzung von KI, vorwiegend auf der Mikroebene. Angeordnet sind sie nach dem Student Lifecycle, wobei die Inhalte oft nicht nur einer Phase zuzuordnen sind.
Die Herausgeber:innen heben in ihrer Einführung „Künstliche Intelligenz in der Hochschulbildung: Chancen und Grenzen des KI-gestützten Lernens und Lehrens“ (S. 7–25) die aktuelle großzügige Förderpolitik des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) zur Erforschung der Thematik hervor. Chancen und Risiken sind auf der Mikro-, der Meso- und der Makroebene zu betrachten. Im Sammelband sind die Beiträge in vier Themenschwerpunkte und einen Abschlussimpuls untergliedert.
Über QR-Codes können Videos zu fünf Beiträgen abgerufen werden. Sie sind im Videoverzeichnis (S. 281–283) beschrieben. Auf Seite 279 sind die Namen der Peer-Reviewer:innen zu finden.
Themenschwerpunkt 1: Grundlegende Überlegungen zu KI in der Hochschulbildung
Sandra Schön, Philipp Leitner, Jakob Lindner & Martin Ebner (TU Graz): „Learning Analytics in Hochschulen und Künstliche Intelligenz. Eine Übersicht über Einsatzmöglichkeiten von KI-Anwendungen zur Unterstützung des Lernens und Lehrens“ (S. 27–49)
Begriffsklärungen zum Verständnis von Learning Analytics (LA), zur Umsetzung an Hochschulen sowie die Unterschiede in der Zielgruppenadressierung und dem Zweck der Nutzung von Daten zum Educational Data Mining (EDM), Academic Analytics (AA) und High Level Analytics (HLA) markieren den Beginn. Anhand der Beispiele der Nutzung von Audience-Response Systemen und der Lernenden-Dashboards zeigen die Autor:innen, wie Lernverhaltensdaten aufbereitet werden. Neben den Chancen der Nutzung von LA, um adaptive Lernsysteme etablieren zu können, werden auch Herausforderungen angesprochen, die im Schutz der Privatsphäre, im Betrieb und in ethischen Überlegungen bestehen. Im zweiten Teil werden a) Profiling und Vorhersagen, b) Assessment und Evaluation, c) adaptive Systeme und d) intelligente Tutoren als vier Bereiche für den Einsatz von KI-Technologien für Bildungszwecke eingeführt und Unterschiede von KI und LA betont. Vier Beispiele aus einer Literaturrecherche verdeutlichen, wie KI bereits eingesetzt wurde, um LA-Anwendungen aufzubauen oder LA-Services zu verbessern. In der Diskussion kristallisieren die Verfasser:innen folgende Kritikpunkte heraus: Der Einsatz von KI lässt kaum zu, die von LA geforderte (Daten)transparenz herzustellen. Zudem soll mit LA-Anwendungen keine Einschränkung von selbstgesteuertem Lernen stattfinden. LA kann einen „fehlbaren Charakter“ (S. 43) haben. Ungeklärt ist die Vereinbarkeit mit der Datenschutz-Grundverordnung der EU. Von daher plädieren sie für ethische Regelungen, technische Standards und LA-Anwendungen, die sich Wissensstrukturen von Studierenden dynamisch anpassen.
Cathleen M. Stützer, Stephanie Gaaw, Sabrina Herbst & Norbert Pengel (TU Dresden): „Ménage à trois. Zur Beziehung von Künstlicher Intelligenz, Hochschulbildung und Digitalität“ (S. 51–69)
Ausgehend vom Status quo, auf der Basis der Adoptionsforschung zur KI-Akzeptanz (auf Akteursebene) und zur KI-Bereitschaft (organisationale Ebene) werden Potenziale und Herausforderungen zusammengetragen. Angesichts der Hindernisse (wie z.B. Vertrauen, Akzeptanz, digitale Ungleichheit u.a.m.) differenzieren die Autor:innen drei Handlungsebenen bei der Implementierung von KI: a) die technische/​methodische Ebene, die unsystematisiert als Insellösung für didaktische Interventionen bedient wird, b) die individuelle/​akteursbezogene Ebene, die den Blick erweitern muss auf Technologie, Umfeld und Nutzung und c) die organisationale/​institutionelle Ebene, für die eine „soziotechnische Bewertung von KI“ (S. 58) vonnöten ist, um die Bereitschaft zur Implementierung zu eruieren.
Die Verfasser:innen legen ein eigenes Modell zur Implementierung von KI vor, das Bereitschaft und Akzeptanz zusammenführt und das Implementierungspotenzial graduell nach Einsatz-, Transformations- und Technologiebereitschaft, der Digitalität und der KI erfassen und ein Maß für den bildungstechnologischen Reifegrad quantifizieren kann. Das Modell wird mit einem breiten Methodenspektrum beforscht, um gelingensbedingende und -hemmende Faktoren zu identifizieren.
Dirk Ifenthaler (Universität Mannheim): „Ethische[n] Perspektiven auf Künstliche Intelligenz im Kontext der Hochschule“ (S. 71–86)
Mit Bezug auf die von Zawacki-Richter, Marín, Bond & Gouverneur 2019 publizierte Übersichtsarbeit zu Anwendungsfeldern von KI in der Hochschulbildung erkennt der Autor ein Spannungsfeld zu den ethischen Grundsätzen. Letzteren widmet er sich, da Maschinen/​Computer immer mehr zu „symbiotischen Partnern“ von Menschen werden. In der Hochschulbildung werden die Potenziale von KI aus Gründen fehlender Implementierung nicht genutzt. Eine Übersichtsarbeit des Autors identifiziert ein „umfangreiches Spektrum an Indikatoren für spezifische KI-Anwendungen“ (S. 76) und benennt zu klärende Themen (z.B. Zugriffsrechte, Speicherdauer, Analysen usw.). Die ethischen Perspektiven auf KI lassen sich aus Ansprüchen der sog. digitalen bzw. KI-Ethik ableiten, d.h. wie können algorithmusgesteuerte Maschinen entlang ethischer Prinzipien moralisch vorgehen. Ifenthaler rekurriert auf die ART-Prinzipien: A (Rechenschaft | Accountability), R (Verantwortung | Responsibility) und T (Transparenz | Transparency). Der Autor verweist auf Forschungsergebnisse, die eine studentische Skepsis zur Datenpreisgabe beinhalten; die Institution Hochschule muss wissen, wo sie Verantwortung für KI-Entscheidungen übernimmt. Mit der sog. DELICATE-Checkliste (Begründung, Erklärung, Legitimation, Einbeziehung, Einverständnis, Anonymisierung, Aktualisierung, Distribution) stellt er ein Instrument vor, um das Bewusstsein der Hochschulen „rund um Ethik und Datenschutz in Verbindung mit KI“ (S. 81) zu steigern.
Dominikus Herzberg (TH Mittelhessen): „Künstliche Intelligenz in der Hochschulbildung und das Transparenzproblem: Eine Analyse und ein Lösungsvorschlag“ (S. 87–98)
Messerscharf analysiert Herzberg die Forderungen nach Transparenz (Nachvollziehbarkeit, Erklärbarkeit und Überprüfbarkeit), wie sie an den Einsatz von KI (auf der Mikro-, Meso- und Makro-Ebene für Lernende, Lehrende und Organisationen) formuliert werden bzw. in „Explainable AI“ enthalten oder z.B. als Framework des Deutschen Bundestags beschrieben sind, und schlussfolgert, dass diese Forderung obsolet sei, weil aus „wissenschaftstheoretischer Sicht und auch inhärent technologischen Gründen“ (S. 91) KI-Systeme nicht transparent sein können. Zum einen liege das darin, dass KI (als Technikdisziplin) auf der Suche nach funktionierenden Lösungen (Zweck-Mittel-Relationen) sei und keine Theorie verifiziere oder falsifiziere. Zum anderen erfasse KI aufgrund der wahrscheinlichkeitsorientierten Verfahren Korrelationen und keine Kausationen und erkläre nur, dass etwas funktioniere, aber nicht wie. Anstatt weiter an der Transparenz-Formel festzuhalten, schlägt Herzberg vor, ähnlich der Technikfolgenabschätzung eine Bildungsfolgenabschätzung einzuführen, um zu untersuchen, welche Folgen der Einsatz von KI auf der jeweiligen Ebene und darüber hinaus (z.B. auf die Bildungslandschaft) habe. Der Autor sieht den sog. Design-Based-Research-Ansatz als forschungsmethodologisch geeignet an: Mit ihm können Ausschnitte von Interventionen mit KI in Echtzeit beobachtet und analysiert werden. KI, so sein Fazit, kann „nicht ohne eine wissenschaftlich reflektierte Begleitung in Hochschulszenarien“ (S. 95) eingesetzt werden.
Themenschwerpunkt 2: Der Einstieg ins Studium
Alice Watanabe (OWL): „Studierende im KI-Diskurs. Wie Studierende in einem Workshopformat über den KI-Einsatz informiert und zum Nachdenken über KI-gestütztes Lehren und Lernen angeregt werden“ (S. 99–118).
Der Workshop wurde im Projekt „KI in der Hochschulbildung“ entwickelt und fokussierte sich auf die didaktische Aufbereitung von Inhalten, die KI-Anwendungen aufzeigt und eine Auseinandersetzung mit KI-gestütztem Lernen anregt. Es wurden drei inhaltliche Schwerpunkte für die KI-Szenarien bestimmt (KI-gestütztes Lernen, KI-Frühwarnsysteme und KI und Prüfungen) und in Videos dargestellt. In einer Interviewvorstudie (mit Studierenden) konnten a) die Optimierung des Studiums, b) Bewertung und Feedback und c) die Motivation als Chance sowie a) die Bewertung, b) die technische Umsetzung, c) die Daten und d) der Verlust von selbstzweckhaften Elementen im Studium als Gefahren herausdestilliert werden. Zu jedem der drei KI-Szenarien wurde ein animiertes Video (Genre Storytime Animation) von ca. 5 Minuten Dauer produziert, in dem eine Studentin mit ihrem Mitbewohner eine What-If-Else-Maschine benutzt, indem sie einmal positive und einmal negative Aspekte erlebt. Die Videos sind auf Youtube verfügbar (z.B. https://link.transcript-open.de/5769/video/004). Nach der Betrachtung der Videos bearbeiten die Studierenden in Gruppen Chancen, Gefahren und Bedingungen von KI, vertiefen ausgewählte Aspekte und schreiben je einen Essay. Nach der Konzeption und Evaluation der Workshops werden sie umgesetzt, um einen Leitlinienkatalog zu entwickeln, welche „KI-Themenkomplexe von Studierenden unter welchen Bedingungen akzeptiert werden“ (S. 114).
Anja Gottburgsen, Yvette E. Hofmann & Janka Willige (LMU München): „Digitale Lernumwelten, studentische Diversität und Learning Outcomes: Empirische Befunde und Implikationen für die digitale Hochschulbildung“ (S. 119–144)
Die Autorinnen nehmen die Diversität der Studierendenschaft zum Anlass, um herauszufinden, inwiefern Merkmale von Diversität den Studienerfolg beeinflussen und welche Potenziale eine „Digitalisierung der Lernumwelten bietet, um die Learning Outcomes (…) sowohl auf formal-quantitativer Ebene (…) als auch auf qualitativ-inhaltlicher Ebene (…) zu verbessern“ (S. 125). Sie folgen dabei einem vierdimensionalen Modell von Diversitätsmerkmalen: die Persönlichkeit, eine innere (z.B. Alter, Geschlecht, Hautfarbe, Migration usw.) und eine äußere Dimension (z.B. Studienort, Berufserfahrung, Hochschulzugangsberechtigung, Fürsorgeaufgaben) sowie eine organisationale Dimension (z.B. Studienphase, -modell, Fachbereich, Studiengang). Vor allem bei der inneren Dimension ließen sich soziale Ungleichheiten nachweisen. Als dominant positive Effekte von digitalen Lernumgebungen sind zu nennen: die „Flexibilisierung von Zeit und Ort“ (S. 125) und die „Individualisierung des Lernens über die Schaffung personalisierter, adaptiver Lernumgebungen“ (S. 126). Zur Einordnung der Forschungsergebnisse zwischen digitalen Lernumwelten, studentischer Diversität und Learning Outcome entwerfen die Verfasserinnen eine Heuristik, bestehend aus den Faktoren digitaler Lernumwelten, der Diversität auf individueller Ebene, die sich auf die digitale Diversität auswirkt und den learning outcomes. Sie stellen fest, dass es international diversitätsorientierte Studien gibt, für den deutschen Hochschulraum aber kaum Erkenntnisse vorhanden sind. Anhand einer Sekundäranalyse des HISBUS-Studierendenpanels weisen sie positive und negative Effekte studentischer Diversität und Lernumweltcharakteristika auf digitale und internationale Mobilität nach und stellen fest, dass der Einfluss von Diversitätsmerkmalen auf den Studienzugang, -verlauf und -erfolg noch ganz gering erforscht ist.
Anne-Kathrin Helten, Uwe Wienkop, Diana Wolff-Grosser & Christina Zitzmann (TH Nürnberg): „‘Wie kann ich dich unterstützen?‘ Chatbot-basierte Lernunterstützung für Studienanfänger:innen“ (S. 145–159)
Basierend auf dem Allgemeinen Studierfähigkeitstest (AST) und 14 fachspezifischen Online-Self-Assessments (OSAs) für Studieninteressierte werden Empfehlungen an die Interessent:innen ausgesprochen. Die Erkenntnis über die Bedeutung der Lernorganisation für den Studienerfolg beflügelte die Entwicklung eines regelbasierten OSABot-Prototyps zur adaptiven Lernunterstützung auf Basis von drei Modulen des AST (Selbstreguliertes Lernen, Selbstwirksamkeit und Volition) und eines Maßnahmenrepertoires. Die Grundarchitektur des OSAbots besteht aus dem OSA-Server, dem OSABot und einer Interventionswebseite. Sie ermöglicht Zugriff auf die Daten zum AST, sodass den Studierenden beim Aufruf des Bots mitgeteilt wird, wie ihr Lernstand ist und ob die vorgeschlagene Interventionstechnik hilfreich war. Bei Freigabe der Testdaten durch die Studierenden analysiert der Bot mögliche Schwachpunkte, schlägt Interventionen (mit Links zu Erklärungsvideos) vor, überlässt die Auswahl aber den Studierenden und meldet sich nach 7 Tagen wieder, um psychoedukativ zu wirken (Bestärkung oder Alternativen). Der OSABot wurde mit 12 Masterstudierenden getestet und sollte im SoSe 2022 produktiv gehen. Die valide, vorangestellte Testdiagnostik sowie die Regelmäßigkeit des Kontakts können als Alleinstellungsmerkmal des OSABots benannt werden. Bei Problemlagen, die über die Lernorganisation hinausgehen, verweist der Chatbot an vorhandene Beratungsstellen. Nach Ansicht des Autor:innenteams sind im aktuellen OSABot erst wenige KI-Komponenten im Einsatz. Da sie von der Relevanz der KI-Technologie überzeugt sind, denken sie über folgende Erweiterungen nach: a) im NLU (Natural Language Understanding)-Benutzerinterface können direkte Fragen gestellt werden; b) Korrelationen zwischen Intervention und Studienerfolg werden ermittelt; c) die wöchentlichen Besuchszeiten des Bots werden personalisiert; d) der Bot spricht Empfehlungen für Studiengänge aus.
Themenschwerpunkt 3: Kompetenzentwicklung im Studienverlauf
Markus Lange-Hegermann, Tobias Schmohl, Alice Watanabe, Kathrin Schelling, Stefan Heiss & Jessica Rubart (OWL): „KI-basierte Erstellung individualisierter Mathematikaufgaben für MINT-Fächer“ (S. 161–172).
Veranlasst durch die hohen Abbruchquoten und eine gering ausgeprägte Selbstdifferenzierungsfähigkeit in der Studieneingangsphase entwickelte die Autor:innengruppe ein technisches Konzept für eine auf KI basierte Erstellung von individualisierten Mathematik-Aufgaben für MINT-Fächer. Ausgehend von der leicht herstellbaren Parametrisierbarkeit von Mathematikaufgaben wird KI bei der Aufgabenstellung genutzt: z.B. bei der Steigerung des Schwierigkeitsgrades, der Lerngeschwindigkeit und beim Lösungsgrad. Nach der automatisierten Korrektur kann ein Feedback gegeben werden und zu den Wissenslücken passende Übungen ausgewählt werden. Zur Einstiegseinstufung kann der Vergleich mit anderen Studierendenkohorten dienen: LA-Daten stehen aufgrund der intensiven Nutzung von Lernmanagementsystemen (LMS) zur Verfügung und können z.B. in Dashboards aufbereitet werden. Adaptive Übungsangebote können eine Antwort auf die zunehmende studentische Diversität sein. Weil aber Fragen des Datenmanagements und soziale, ethische und andere evtl. diskriminierende Aspekte zu bedenken sind, fordern die Verfasser:innen eine bildungswissenschaftliche Begleitforschung ein.
Thomas Bröker, Thomas Voit & Benjamin Zinger (TH Nürnberg): „Das Motivationspotenzial von Spielen erschließen. Künstliche Intelligenz als Lotse im Prozess der kreativen Gestaltung von motivierenden Lerngelegenheiten“ (S. 173–193)
Es handelt sich um ein Experiment, spielerische Elemente in einen spielfremden Kontext so zu integrieren, dass sie als integraler Bestandteil des Lernprozesses empfunden werden. Unter Rückgriff auf das Wissen des EMPAMOS-Projekts (dargestellt als WebApp), in dem das motivierende Potenzial der Spiele von Entwickler:innen eruiert wurde, haben die Verfasser Studierende, die von einer KI ausgewählte Spielelementvorschläge erhielten, befragt, wie Lernoptionen mit Hilfe von Spielelementen motivierender gestaltet werden können. Die Studierenden können den Misfit („kaputtes Spiel“) zunächst mit haptischen Spielkarten darstellen und die Situation mit eigener Kreativität dekonstruieren, bevor sie die KI als Lotse nach einem dreistufigen Modell einbeziehen: 1) Eine kreativ-manuelle Phase, die motivationale Probleme identifiziert und Lösungen entwickelt. 2) Eine analytisch-manuelle Phase, angereichert um einen Vorrat an haptischen und aus der WebApp entnommenen Spielelementen und 3) Eine analytisch-maschinelle Unterstützung durch KI in der App, angewendet nach dem Muster eines Recommender-Systems. Der Einsatz der WebApp wurde in einem Wahlpflichtmodul mit 25 Studierenden aus drei Informatik-Masterstudiengängen in Fokusgruppeninterviews zu vorgegebenen Misfit-Situationen evaluiert. Trotz sehr positiv wahrgenommener Funktion der KI für den Arbeitsprozess gab es Einschränkungen z.B. in der Verständlichkeit, der Verwertbarkeit und der Nutzer:innenfreundlichkeit der WebApp. Die Verfasser diskutieren die methodischen Limitationen, speisen die Erkenntnisse in einen hochschulübergreifenden Arbeitskreis ein und sammeln neue Ideen für die weitere Verwendung.
Silke E. Wrede & Claudia de Witt (FernUniversität Hagen), Christina Gloerfeld (Universität Bremen) & Xia Wang (Deutsches Forschungszentrum für KI): „Künstliche Intelligenz und forschendes Lernen – ein ideales Paar im Hochschulstudium!?“ (S. 195–212)
In Anlehnung an den Learning Cycle des forschenden Lernens (Erfahrung, Reflexion, Konzeption, Experiment) eruieren die Autorinnen, inwiefern der technologische Fortschritt durch KI zum forschungsnahen Lernen 2.0 im Sinne einer didaktisch relevanten Werkzeugfunktion beitragen kann. Für ihr Initialprojekt eines semesterbegleitenden Pflichtmoduls (2018), das im AI.EDU Research Lab verortet ist, wählen die Autorinnen ein Recommender-System. Das Projekt konzentrierte sich auf den Semesterablauf: Erarbeitung der Studienbriefe, Entwicklung eines Themas und Anfertigung der Hausarbeit. Mit Hilfe eines Automatic Assessment Tool (AAT) wird Vorwissen in Freitextantworten eruiert, die Antworten werden bewertet, zentrale Aussagen markiert und relevante Textstellen empfohlen. Ein Intelligent Feedback for Student Exercises (IFSE) auf Basis von Quizzes und einem personalisierten Feedback unterstützt auch die Lehrenden. Nach der Phase der Wissensaneignung kommt ein Structural Assistant for Term Paper (SAT) als KI-basierter Chatbot für die Hausarbeit und zum wissenschaftlichen Schreiben zum Einsatz. In ihrer Bewertung weisen die Verfasserinnen darauf hin, dass die Lehrenden durch den Einsatz von KI von Routineaufgaben entlastet werden, die Lernprozesse digital nachvollziehbar und abbildbar sein müssen, damit personalisierte Angebote möglich sind und von den Studierenden auch weiterhin selbstbestimmtes Lernen abverlangt wird. Eine bildungswissenschaftliche Begleitung des Prozesses zu ethischen, datenschutzrechtlichen und Akzeptanzfragen ist ihnen wichtig.
Maren Lübcke, Johannes Schrumpf, Funda Seyfeli-Özhizalan & Klaus Wannemacher (Institut für Hochschulentwicklung (HIS) und Universität Osnabrück): „Künstliche Intelligenz zur Studienindividualisierung. Der Ansatz von SIDDATA“ (S. 213–226)
Die Projektgruppe SIDDATA (Studienindividualisierung durch digitale, datengestützte Assistenten) stellt erste Evaluationsergebnisse zum Modul „Fachliche Interessen“ dar: Ziel des Moduls ist es, dass Studierende fachliche Interessen formulieren und danach Empfehlungen über passende Veranstaltungen und OER-Ressourcen erhalten. Nach der Darstellung des KI-Algorithmus von SidBERT (entwickelt aufgrundlage von Google BERT) und der Trainingsphasen geben die Autor:innen Einblick in ihren Pretest an 15 Studierenden der Universitäten Hannover, Bremen und Osnabrück: Den Studierenden fiel es teilweise schwer, eigene Studieninteressen zu formulieren, die Empfehlungen von SIDDATA hätten die Semester- und inhaltliche Planung der Studierenden kaum verändert, die Vorschläge haben aber eine Reflexion ihrer Interessen angestoßen, sodass sie insgesamt einem Modul zur Studienindividualisierung positiv begegnen. Die Evaluationsergebnisse enthielten Hinweise, wie der Algorithmus weiter trainiert werden kann, sodass die Studierenden Empfehlungen generell begrüßen, aber eventuell Unterstützung bei der Formulierung von Studieninteressen angesichts eines engen Curriculums benötigen.
Themenbereich 4: Vorbereitung auf Berufseinstieg und weiterführendes Studium
Eike Meyer & Doris Weßels (Fachhochschule Kiel): „Natural Language Processing im akademischen Schreibprozess – mehr Motivation durch Inspiration? Positionspapier basierend auf einer Fallstudie an der Fachhochschule Kiel“ (S. 227–251)
Der Beitrag zeigt und analysiert Ergebnisse einer zweitägigen KI-Schreibwerkstatt (2021) mit 20 Studierenden aller Fachrichtungen, um mit KI-gestützten Schreibtools (der Natural Language Generation = NLG) Freude am akademischen Schreiben zu vermitteln. In Anbetracht der hohen Qualität frei zugänglicher Werkzeuge zur Erzeugung und zum Paraphrasieren von Texten, der Relevanz von Schreibkompetenz und der noch geringen Nutzung von Textgeneratoren an Hochschulen, wurde diese KI-Werkstatt abgehalten, um die studentische Perspektive und Haltung auf den Einsatz von Textgeneratoren-Tools einzuholen. Aufgabe der Studierenden war es, im Team eine Pressemitteilung zu einem fiktiven Forschungsvorhaben zur KI zu formulieren und einen gegliederten Essay zu generieren. Die Teilnehmenden erhielten eine Übersicht der frei nutzbaren KI-basierten Werkzeuge. Bei der Evaluation fällt auf, dass Studierende zu Beginn wenig Spaß am Schreiben und noch wenig KI-Erfahrung hatten (05/2021), während und am Ende des Schreibprozesses aber hohe Neugierde und Spaß am Kennenlernen der Werkzeuge bescheinigten. Studierende befassten sich mit ihrem Schreibprozess, entwickelten Ideen und bauten Schreibblockaden ab. Der Prozess der Nutzung der Tools an Hochschulen wird sich Meyer und Weßels' zufolge nicht aufhalten lassen, er muss aber von Forschung zu rechtlichen und ethischen Fragen begleitet werden.
Denis Pijetlovic (Universität Bremen): „Transdisziplinäre Entwicklung von Chatbots in der Betriebswirtschaftslehre und der Wirtschaftspsychologie. Anwendung von KI-Technologien ohne Programmierkenntnisse“ (S. 253–269)
In einem Chatbot wirken die KI-Periodensystemelemente Text Extraction (Te), Language Understanding (Lu) und Communication (Cm) zusammen. Sie werden zur Prozessbegleitung von Kommunikations-, Entscheidungs- und Lehr- und Lernprozessen eingesetzt. Im Reallabor des HRL (HumanRoboLab) entwickeln Studierende Hand in Hand mit Vertreter:innen aus den Unternehmen Chatbot-Projekte. So können sie interdisziplinär in Anwendungen, Regeln und Funktion des maschinellen Lernens einsteigen, lernen forschend und tragen zur Third-Mission von Hochschulen bei. Folgende exemplarisch ausgewählte funktionsfähige Chatbots wurden bereits entwickelt: a) TiKay-Bot zur Optimierung der Pflegeplatzsuche, b) Museums-Bot XT-9U, der für die Digitalen Welten im Erlebnismuseum Universum, c) Design Thinking Bot (zur Stufenfolge des Design Thinking Prozesses) d) Alan, zur Fehlersuche und Lösungsfindung für Austronaut:innen im All. Die Studierenden haben beim maschinellem (supervised) Learning das Datensatzgenerieren und das Herausfinden von user:innenspezifischen Lösungsansätzen erlernt. Zudem haben sie die Funktionsweise von Chatbots direkt erlebt. Kritisch annotiert der Autor, dass kein Projekt über die Prototypenphase hinauskam. Studierende ohne Programmierkenntnisse konnten manche Optionen der Entwicklung nicht nachvollziehen und wünschten sich Workshop-Formate, um Zusatzwissen zu erlangen. Schließlich merkt der Autor an, dass das Potenzial von Chatbots lange nicht ausgeschöpft ist, dass aber Studierende selbst beurteilen sollten, wann Chatbots als Lernbegleiter geeignet sind.
Denkanstoß: KI – menschliches Lernen?
Ulf-Daniel Ehlers (Duale Hochschule Baden-Württemberg): „Wie wollen wir leben?“ (S. 271–278)
… mit einer KI, die den Menschen in Nischenfähigkeiten schon bald überholen wird (z.B. beim Übersetzen von Sprachen oder beim Schreiben von Schulaufsätzen). Horrorszenarien wie „KI als neue Weltenlenkerin“ (S. 221) entlarvt der Autor schnell, da er „künstliche Intelligenz“ als Kategorienfehler deklariert: künstlich in KI beinhaltet das Lösen formalisierbarer Probleme, menschliche Intelligenz dagegen antwortet auf „die Komplexität der Welt durch Kreativität und Gefühl“ (S. 222), wozu KI nicht fähig sei. Verantwortung, Bildung, Weltaneignung, Zweifel und Widerständigkeit etwa sind Menschen vorbehalten ebenso wie der Umgang mit Paradoxien. Wenn KI Wissen bereitstelle, das Zukünftiges berechnen könne, dann müsse der Mensch zur Handlungsfähigkeit gebildet werden. Positiv gewendet sieht Ehlers die Aufgabe darin, digitale Souveränität zu erreichen, indem die Optionen von KI mit ethischer und Ambiguitätskompetenz, Kritik und Reflexivität „verarbeitet“ werden.
Diskussion
Die Beiträge eint das Bewusstsein, dass KI für die Hochschulbildung im Allgemeinen und die Lehre im Besonderen bisher nur ein Minimum des Potenzials ausschöpft, der eingeschlagene Weg aber nicht mehr aufzuhalten ist und Ideen in immer mehr prototypischen Anwendungen ausprobiert werden. Zugleich wird von (fast) allen Autor:innen höchste Sensibilität und Transparenz angemahnt, was die Verwendung studentischer Daten anbetrifft. Es kommen auch skeptische Stimmen zu Wort, die mögliche Grenzüberschreitungen von KI, wenn sie einmal „entfesselt“ ist, thematisieren und vor zu viel Naivität im Umgang warnen (z.B. bei der Datenverwendung auf institutioneller Ebene). Ein hohes Maß an Konsens besteht darin, Studierende frühzeitig einzubinden, wenn es um die Entwicklung von Tools geht, die ihr Lernverhalten analysieren und mögliche Empfehlungen aussprechen sollen. Ähnlich konsensual wird die Notwendigkeit einer begleitenden Erforschung (in rechtlicher, ethischer und sozialer Hinsicht) des Einsatzes von KI in der Hochschullehre bis hin zu einer Bildungsfolgenabschätzung beurteilt. Die Einblicke in Projekte und Aktivitäten zur Nutzung von KI für verschiedene Ziele und in unterschiedlichen Phasen des Student Life Cycle geben zu erkennen, wie punktuell sich Hochschulen – jeweils in von Protagonist:innen initiierten Modellen – an die Umsetzung machen, ohne von einer übergeordneten Strategie oder Perspektive geleitet zu sein. So berichten Autor:innen von unabhängig erzielten ähnlichen Ergebnissen, die – so wäre zu erwarten – für eine künftige Entwicklung genutzt werden können. Weiterer Erforschung bedarf auch die Veränderung der Rolle der Lernumgebung und der Lehrpersonen, wenn KI das Lernverhalten der Studierenden stärker moderiert. Es bleibt zu prüfen, welche Voraussetzungen bei den Studierenden gegeben sein müssen, um von der KI-Unterstützung profitieren zu können. Der Band zeigt auch Wissens- und Forschungslücken auf, die eine weitere Beschäftigung anregen können und dass eine Debatte um die in den Beiträgen aufgeworfenen Fragen nach grundsätzlichen Klärungen zur Ethik und zum Datenschutz nötig ist. Man darf gespannt sein, welche weiteren Entwicklungen sich im Anschluss an diesen wichtigen Diskussionsimpuls ergeben.
Fazit
Der Sammelband ist sehr wertvoll, weil er aufzeigt, was in naher Zukunft zur KI aus der Perspektive der Lernenden und Lehrenden, der Forscherinnen, der Administration und der Bildungspolitik zu bedenken und zu berücksichtigen ist.
Rezension von
Prof. Dr. Irmgard Schroll-Decker
Lehrgebiete Sozialmanagement und Bildungsarbeit an der Fakultät Angewandte Sozial- und Gesundheitswissenschaften der Ostbayerischen Technischen Hochschule Regensburg
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Es gibt 74 Rezensionen von Irmgard Schroll-Decker.
Zitiervorschlag
Irmgard Schroll-Decker. Rezension vom 29.08.2023 zu:
Tobias Schmohl, Alice Watanabe, Kathrin Schelling (Hrsg.): Künstliche Intelligenz in der Hochschulbildung. Chancen und Grenzen des KI-gestützten Lernens und Lehrens. transcript
(Bielefeld) 2023.
ISBN 978-3-8376-5769-2.
Reihe: Hochschulbildung: Lehre und Forschung - 4.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30718.php, Datum des Zugriffs 13.09.2024.
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