Kathrin Schulze: Antiziganismus in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit
Rezensiert von Prof. Dr. Wolfram Stender, 07.12.2023

Kathrin Schulze: Antiziganismus in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit. Ethnographische Erkundungen des ›Eigenen‹ im ›Anderen‹.
transcript
(Bielefeld) 2023.
222 Seiten.
ISBN 978-3-8376-6469-0.
D: 49,00 EUR,
A: 49,00 EUR,
CH: 59,80 sFr.
Reihe: Beiträge zur kritischen Antiziganismusforschung - 1.
Thema
Obwohl den Fachkräften der Sozialen Arbeit seit Langem eine hohe Anfälligkeit für antiziganistische Differenzkonstruktionen attestiert wird, hat sich diese Berufsgruppe bis heute kaum damit auseinandergesetzt, warum dies so ist. Erst in den letzten Jahren kommt, maßgeblich durch Selbstorganisationen der Sinti:zze und Rom:nja vorangetrieben, eine Diskussion darüber in Gang, ob sich der gesellschaftlich weit verbreitete Antiziganismus in der Sozialen Arbeit lediglich reproduziert oder ob es einen spezifischen sozialarbeiterischen Antiziganismus gibt, der tief in der Geschichte der Profession verankert ist und mit ihrer Funktion im staatlichen Apparat der Hilfe und Kontrolle zu tun hat. Das Buch von Kathrin Schulze kann als ein Beitrag zu dieser Diskussion gelesen werden. Es zeigt, wie das sozialpädagogische Fachpersonal zweier Jugendzentren im pädagogischen Handeln Jugendliche entlang antiziganistischer Zuschreibungen in folgenreicher Weise diskriminiert.
Aufbau/​Inhalt
Die Studie, die zunächst als Dissertation an der Bergischen Universität Wuppertal eingereicht wurde, folgt einem klassischen Aufbau. Nach der Einleitung wird im ersten Kapitel der Gegenstand Sozialer Arbeit als wohlfahrtsstaatlich organisierte „Arbeit mit den Anderen“ (Kessl/Plößer) bestimmt und das sich daraus ergebende, professionsspezifische Dilemma diskutiert. Dieses besteht darin, dass der Bezug auf „Differenz und Andersheit“ einerseits fachlich notwendig erscheint, um die Problemlagen der Adressat:innen Sozialer Arbeit identifizieren zu können. Andererseits geht damit aber die Gefahr einher, „die Adressat:innen […] vor dem Hintergrund gesellschaftlich vorherrschender Normalitätsmuster als ‚abweichend‘ zu konstruieren und als solche ‚Fälle‘ normalisierend, disziplinierend und/oder kontrollierend zu bearbeiten“ (S. 15). Dieses Dilemma spitzt sich in der von Schulze so genannten „romabezogenen“ Sozialen Arbeit zu, in der nachweisbar immer wieder rassistische Differenzkonstruktionen reproduziert wurden (und werden).
Zwar scheint das Handlungsfeld der Offenen Kinder- und Jugendarbeit mit ihren Prinzipien der Freiwilligkeit, Offenheit und Partizipation größere Möglichkeitsräume für jugendliche Selbstartikulationen zu bieten, gleichwohl ist auch sie Teil des wohlfahrtsstaatlichen Normalitätsregimes. Auch in der institutionalisierten „Arbeit am Generationenverhältnis“ (Müller/Schmidt/​Schulz) wiederholen sich Praktiken des Differenzierens und Klassifizierens. Wie dies funktioniert und wie dabei auf antiziganistische Stereotypisierungen zurückgegriffen wird, bestimmt das Forschungsinteresse der Studie, deren grundlegende methodologische und methodische Prämissen im zweiten Kapitel dargestellt werden.
Die rekonstruktive Analyse der von der Autorin ethnographisch erkundeten Unterscheidungspraktiken des sozialpädagogischen Fachpersonals erfolgt im dritten Kapitel. Schulze arbeitet drei Artikulationsweisen von antiziganistischen Stereotypen heraus, die sie als „Praktiken des Otherings“, „Figurationen des ‚Dritten‘“ und „Fetischisierungen“ theoretisiert. Deutlich wird dabei, dass Antiziganismus nicht nur eine Spiegelfunktion für das europäisch-moderne Subjektivitätsverständnis hat, sondern immer auch als ideologische Legitimationsfolie für soziale Ausschlussverhältnisse fungiert. Vor dem Hintergrund der theoretischen Kontextualisierung des empirischen Materials stellt sich Antiziganismus als ein „den sozialpädagogischen Alltag maßgeblich durchdringendes Macht-, Herrschafts- und Diskriminierungsverhältnis“ (S. 18) dar, das zu „antiziganismuskritischen Reflexionen und Interventionen“ im – wie Schulze in Anlehnung an Fabian Kessl und Susanne Maurer formuliert – „‚Inneren‘ der Sozialen Arbeit selbst“ nötigt. Was dies für eine antiziganismuskritische Professionalität Sozialer Arbeit konkret bedeutet, erläutert die Autorin in dem das Buch abschließenden vierten Kapitel.
Diskussion
Kathrin Schulze berichtet einleitend, dass die Fragestellung ihrer Studie am Anfang nicht auf die Untersuchung von Antiziganismus im Kontext der Sozialen Arbeit ausgerichtet war, sondern sich an „einem grundlegenden Interesse an kontext- und feldbezogenen Ausgestaltungsweisen von gesellschaftlichen Macht-, Herrschafts- und Ungleichheitsverhältnissen im Handlungsfeld der Offenen Kinder- und Jugendarbeit“ (S. 14) orientierte. Die Fokussierung auf Antiziganismus entwickelte sich erst im Verlauf des Forschungsprozesses. Überrascht und irritiert über wiederholt beobachtete antiziganistische Stereotypisierungen der Jugendlichen durch die sozialpädagogischen Fachkräfte verschob sich, so berichtet die Autorin, der „empirische und theoretische Aufmerksamkeitsfokus“.
Durch diese Themenverschiebung eröffnete sich der Forscherin eine äußerst „übersichtliche Forschungslandschaft“. Wird zu sozialarbeiterischem Antiziganismus generell wenig geforscht, so muss man Untersuchungen zum Antiziganismus in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit mit der Lupe suchen. Aber nicht nur der Forschungsgegenstand, auch die analytische Vorgehensweise von Schulze ist selten. In Anlehnung an Stuart Hall beschreibt sie diese mit der eher aus biblischen Kontexten bekannten Metapher eines „Ringens mit Engeln“. Schulze meint damit das „Störrische“ und Widerständige des empirisch Erfahrenen, mit dem die Forscherin wie Jakob am Jabbok zu ringen hatte. Theorien haben im ethnographischen Prozess die bescheidene Funktion von „Werkzeugen“, um die beobachteten Praktiken besser zu verstehen. Sie bieten Möglichkeiten der Übersetzung und Vermittlung des empirisch Erfahrenen, ohne dass dieses in ihnen je aufgeht. Da sich das Erfahrene der theoretisierenden Übersetzungsarbeit immer wieder entzieht, kommt die Interpretation an kein Ende: „Denn die Praktiken, die ich als antiziganistische Stereotypisierungen in den Blick genommen habe, erwiesen sich keineswegs als eindeutig, sondern als durchaus vieldeutige und in sich widersprüchliche ‚Phänomene‘, die sich immer wieder, gewissermaßen störrisch gegenüber den durch mich gesetzten Lesarten und Theoretisierungsversuchen verhielten und mich dahingehend herausforderten, kontinuierlich auf die Suche nach weiteren Möglichkeiten der theoretisierenden Übersetzung zu gehen“ (S. 77 f.).
In dieser Suchbewegung entfaltet Schulze eine zwar schmale, aber dafür umso tiefere empirische Analyse des – wie sie es formuliert – „‚Eigenen‘ im ‚Anderen‘“. Zum Beispiel, wenn sie die antiziganistischen Praktiken des Otherings an der Aussage einer Sozialpädagogin erläutert. Diese hält die von ihr als „Roma“ gelabelten Besucher:innen des Jugendzentrums für „so unzivilisiert, haben sich ihre Hände an den Gardinen abgewischt“. Die Gardine wird hier, so Schulzes luzide Interpretation, als historisch gewachsenes „Symbol der Ordnung und Reinheit des bürgerlichen Haushalts“ (S. 95) in Stellung gebracht, um die Überlegenheit der vermeintlich ‚eigenen Kultur‘ gegenüber der konstruierten ‚anderen Kultur‘ zu markieren, „die mit unserer“ – so das Urteil der Fachkraft – „nichts gemeinsam hat“.
Nicht minder hellsichtig sind Schulzes Interpretationen der von den Fachkräften artikulierten Bedrohungsszenarien, in denen „die Roma“ als identitätszerstörende Macht und Fetisch-Objekt inszeniert werden, das das im ‚Eigenen‘ tabuierte Begehren repräsentiert. Die hoch selbstreflexive Darstellung, dass und wie die Autorin im Prozess der Interaktion mit dem pädagogischen Fachpersonal und eines Besuchers des Jugendzentrums in die „Inszenierung der ‚Anderen‘ als Figuren des ‚Dritten‘“ involviert ist, gehört zu den spannendsten Passagen des Buches. Die Autorin zeigt hier ein feines Gespür für die Tücke des Subjekts. Um dem Unbewussten in den Kommunikationspraxen der Fachkräfte auf die Spur zu kommen, nutzt sie nicht nur das Konzept des „emotional reading of others“ von Sara Ahmed, sondern verknüpft in höchst origineller Weise die psychoanalytischen Fäden, die das rassismustheoretische Paradigma z.B. in den Schriften Stuart Halls durchziehen, mit Einsichten der analytischen Sozialpsychologie in der Tradition der Kritischen Theorie. Durch diese überaus innovative Theorie-Bricolage wird es möglich, die affektiven Tiefendimensionen rassistischer Differenzordnungen sichtbar zu machen, ohne die eine Analyse von Rassismus, und in diesem Fall des Antiziganismus, unvollständig bleibt. Indem Kathrin Schulze das Erklärungspotenzial einer, wie man ihr Verfahren tentativ nennen könnte, psychoanalytisch informierten Kulturanalyse am Gegenstand des Antiziganismus demonstriert, ist ihr Buch zugleich ein genuiner Beitrag zu einer – heute erst in Ansätzen vorhandenen – kritischen Antiziganismusforschung.
Fazit
Die Studie von Kathrin Schulze untersucht zum ersten Mal die Reproduktion antiziganistischer Differenzordnungen in den Kommunikationspraxen von Fachkräften der Offenen Kinder- und Jugendarbeit. Mit den Mitteln einer psychoanalytisch informierten Kulturanalyse wird die antiziganistische Projektion als ambivalente und in sich widersprüchliche Grundfigur rassifizierter ‚Andersheit‘ begriffen, die nichts mit den realen Lebensverhältnissen von Sinti:zze, Rom:nja und anderen antiziganistisch markierten Personen zu tun hat.
Rezension von
Prof. Dr. Wolfram Stender
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