David Fraissl: Psychologische Bildung
Rezensiert von Prof. Dr. Paul Walter, 08.06.2023

David Fraissl: Psychologische Bildung. Eine philosophische Annäherung.
Springer International Publishing AG
(Cham/Heidelberg/New York/Dordrecht/London) 2022.
281 Seiten.
ISBN 978-3-658-37695-6.
D: 60,74 EUR,
A: 66,81 EUR,
CH: 72,00 sFr.
Reihe: Research.
Thema
Die Publikation beschäftigt sich grundlegend mit Aufgaben des Psychologieunterrichts für allgemein- und berufsbildende Institutionen und behandelt dieses Thema unter dem Leitziel „Psychologische Bildung“, wobei auf einschlägige Literatur Bezug genommen wird.
Autor
David Fraissl hat die Publikation als Dissertation an der Universität Wien verfasst. Einer der Schwerpunkte seiner bisherigen Lehrtätigkeit an verschiedenen österreichischen Hochschulen lag auf der Psychologiedidaktik, wozu seine Dissertation aus philosophischer und psychologischer Perspektive einen profunden Beitrag liefert.
Entstehungshintergrund
Unter den Termini „Psychologische Bildung“ oder „Psychologiedidaktik“ firmiert in der Regel nicht die Ausbildung von Psychologie Studierenden im Hauptfach, sondern die Weitergabe psychologischer Erkenntnisse an andere Personengruppen (SchülerInnen, Auszubildende).
In Österreich ist Psychologie in Verbund mit Philosophie Pflichtfach in der Sekundarstufe II. Daher hat die „psychologische Bildung“ eine größere Bedeutung als in Deutschland, wo Psychologie nur als (beliebtes) Wahlfach in der Sekundarstufe II und auch nur in der Hälfte der Bundesländer angeboten wird. Psychologische Bildung ist jedoch generell bedeutsam, wenn man etwa an psychologische Ausbildungsinhalte und Aufgaben in vielen Berufen denkt.
Aufbau
Fraissl untergliedert seine Abhandlung in 5 Kapitel. In Kapitel 1 (Psychologisches Bilden) wird mit psychologischen und philosophischen Klassikern und aktuelleren Untersuchungen belegt, dass die Psychologie gesellschaftlich relevante Erkenntnisse beizusteuern vermag und dass von daher psychologischer Bildung Bedeutung zukommt. Die Kapitel 2 bis 4 enthalten Konkretisierungen der psychologischen Bildung (und stellen Richtziele für den Psychologieunterricht dar): Psychologisches Denken, Psychologische Kritik, Psychologische Autonomie. Im 5. Kapitel erfolgen „Psychologiedidaktische Überlegungen“, die eine Konkretisierung der in den Kapiteln zuvor entwickelten Vorstellungen darstellen.
Inhalt
In Kapitel 1 wird die Wichtigkeit psychologischer Bildung begründet. Präzisierend wird darauf verwiesen, dass „Spielarten der empirisch orientierten Psychologie“ (S. 11) und auch deren Methoden als Grundlage psychologischer Bildung fungieren. Allerdings könnten die Ergebnisse der empirischen Psychologie, so Fraissl, nicht unmittelbar in psychologische Allgemeinbildung umgesetzt werden. Das läge daran, dass die empirische Psychologie Objektivität anstrebe, essentialistische und normative Fragen weitestgehend ausklammere (etwa was der Mensch sei oder wie er handeln solle), die jedoch für die sich bildenden Individuen bedeutsam seien. Psychologische Bildung müsse daher über die Rezeption der Ergebnisse der Psychologie hinausgehen und benötige eine Reflexionswissenschaft, d.h. die Philosophie, „die die Grundzüge der empirischen Psychologie rekonstruiert und hieraus die Richtziele der Psychologischen Bildung bestimmt“ (S. 35).
In Kapitel 2 erfolgen Ausführungen zum ersten Richtziel, nämlich „Psychologisches Denken“ zu fördern. Individuen verfügen über eine „Alltagspsychologie“, mit der sie sich und die Welt zu erklären und zu verstehen versuchen. Diese Alltagspsychologie kann vorurteilsvoll sein, stimmt jedenfalls nicht immer mit den aus verschiedenen theoretischen Perspektiven gewonnenen Annahmen und Erkenntnissen der psychologischen Forschung überein. Diskrepanzerfahrungen zwischen Alltagspsychologie und psychologischer Forschung vermögen die Alltagspsychologie zu modifizieren, sofern es gelingt, die von der Alltagserfahrung abstrahierenden Aussagen der wissenschaftlichen Psychologie per Reflexion in die Lebenswelt zu transformieren.
Mit „Psychologische Kritik“ ist das weitere anspruchsvolle Ziel psychologischer Bildung in Kapitel 3 überschrieben. Gemeint ist „nicht nur eine Aufklärung mit den Einsichten der Psychologie, sondern darüber hinaus eine Aufklärung über die Möglichkeiten und Grenzen ihrer Verfahren und Aussagen“ (S. 109). U. a. ist eine Kritik an einem Menschenbild angezeigt, das Individuen – auch durch psychotechnische Interventionen – als manipulierbar betrachtet und deren Handlungsfähigkeit einschränkt. Fraissl geht davon aus, dass die empirische Psychologie dazu beitragen kann, Selbsttäuschungen und Täuschungen zu erkennen, auch die der wissenschaftlichen Psychologie selbst.
Das dritte Ziel psychologischer Bildung, „psychologische Autonomie“ wird im 4. Kapitel behandelt. Psychologische Autonomie bedeutet für Fraissl, dass Individuen „ihre Bedingungen reflektieren und beeinflussen können und weitere Bedingungen beginnen und schaffen“ (S. 163). Autonomie in diesem Sinne zielt nicht auf ein moralisches Sollen. Die psychologische Autonomie ist vielmehr als „ein pragmatisches Orientierungswissen zum Zweck der Lebensklugheit und des Glücks“ (S. 155) zu verstehen. Charakteristika psychologischer Autonomie versucht Fraissl durch vielfältige Referenzen zu bestimmen (u.a. Deci & Ryan, I. Kant, F. Nietzsche).
Mit der Psychologiedidaktik befasst sich das 5. Kapitel. An Beispielen (Framing-Forschung, Korrelation und Kausalität) für den Psychologieunterricht in allgemeinbildenden Schulen der Sekundarstufe II wird aufgezeigt, wie sich psychologische Ergebnisse, Theorien und Methoden für das Leitziel der psychologischen Bildung eignen könnten. Unterrichtsmethodisch gesehen, hält Fraissl die Fallstudie „als die Methode der Wahl für einen auf Psychologische Bildung zugeschnittenen Psychologieunterricht“ (S. 261). Diese Feststellung beruht auf den Annahmen, dass so sich empirische Ergebnisse der Psychologie auf die Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler transferieren lassen und dass sich aus Theorien und Resultaten der Psychologie mit Hilfe des abduktiven Schlussfolgerns neue fall- und lebensweltrelevante Hypothesen generieren lassen.
Diskussion
Die Publikation enthält eine umfassende Darstellung und Stellungnahme zu Ansätzen und Entwürfen, die für das Thema „Psychologische Bildung“ und Psychologiedidaktik von Bedeutung sind. Wer sich mit psychologischer Bildung beschäftigen möchte, kommt an dieser Veröffentlichung nicht vorbei.
Gleichwohl ist kritisch anzumerken, dass viele Autoren und Werke der Philosophie und Psychologie aus verschiedenen historischen Epochen, die Fraissl anführt, nur andiskutiert werden (können), um seine Argumentation zu stützen. Er selbst bezeichnet seinen methodischen Ansatz als eklektisch (S. 43). Bei dem von ihm weit aufgespannten Theorienhorizont erscheinen deshalb manche Texte zwar als gekonnt, aber letztlich als willkürlich ausgewählt und lassen eine eingehende Diskussion vermissen (hinsichtlich der Angemessenheit des Paradigmenbegriffes in der Psychologie, hinsichtlich der Schlussweise der Abduktion und ihre Abgrenzung zur Induktion sowie hinsichtlich manchem Anderem mehr).
Darüber hinaus vermag Fraissl nicht zu klären, wie viel psychologisches Wissen und wie viel Unterrichtszeit Lernende benötigen, damit das unterrichtliche Angebot, sich psychologisch zu bilden, nicht Halbbildung oder gar Dilettantismus erzeugt. Auch der Stellenwert psychologischer Bildung im Vergleich zu anderen Aspekten der Allgemeinbildung wie politische oder moralische Bildung wird in der Publikation nicht behandelt.
Fazit
Fraissl stellt einen umfassenden Entwurf „Psychologischer Bildung“ als zunehmend wichtigen Aspekt der Allgemeinbildung vor. Die anspruchsvolle Publikation wendet sich primär an Lehrende, deren Unterricht psychologische Themen einschließt. Selbstverständlich ist die Lektüre auch lesenswert für Personen, die neugierig sind, was unter psychologischer Bildung verstanden werden kann.
Rezension von
Prof. Dr. Paul Walter
Bildungsforscher
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Zitiervorschlag
Paul Walter. Rezension vom 08.06.2023 zu:
David Fraissl: Psychologische Bildung. Eine philosophische Annäherung. Springer International Publishing AG
(Cham/Heidelberg/New York/Dordrecht/London) 2022.
ISBN 978-3-658-37695-6.
Reihe: Research.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30724.php, Datum des Zugriffs 23.09.2023.
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