Beate Finis Siegler: Entwicklung einer Ökonomik Sozialer Arbeit aus der Retrospektive
Rezensiert von Prof. Dr. Georg Kortendieck, 29.06.2023

Beate Finis Siegler: Entwicklung einer Ökonomik Sozialer Arbeit aus der Retrospektive.
Springer VS
(Wiesbaden) 2021.
266 Seiten.
ISBN 978-3-658-33366-9.
D: 51,39 EUR,
A: 56,53 EUR,
CH: 61,00 sFr.
Reihe: Perspektiven Sozialwirtschaft und Sozialmanagement.
Thema
Dieses Buch ist eine in die Zukunft gewandte Retrospektive, weil es den Zeitraum seit Mitte der 1990er Jahre bis heute als eine Art Selbstvergewisserung des eigenen Standpunktes in der Debatte um die ‚Ökonomisierung‘ der Sozialen Arbeit beleuchtet. Es ist in die Zukunft gewandt, weil mit der Entwicklung eines alternativen Ökonomiemodells der Anstoß gegeben werden soll, den Diskurs zwischen Vertreterinnen und Vertretern der Sozialen Arbeit und der Sozialwirtschaft durch eine theoriegeleitete Analyse zum Verhältnis von Ökonomie und Sozialer Arbeit zu befördern. Das alternative Ökonomiemodell einer Autonomie fördernden Meritorik beansprucht mit seiner Mehr-Ebenen-Heuristik anschlussfähig zu sein an Lebenslagekonzepte und Capability-Ansätze, an Interventionskonzepte, an Agency- und Empowerment-Ansätze sowie an die ökonomische Prinzipal-Agent-Theorie und die Verhaltensökonomik sowie theoretische Ansätze zur Präferenzgenese aus anderen wissenschaftlichen Disziplinen.
Die Autorin
Dr. Beate Finis Siegler lehrte als Professorin für Ökonomie und Sozialpolitik an der Fachhochschule Frankfurt am Main, Frankfurt University of Applied Sciences. Sie arbeitet und publiziert zur Ökonomik Sozialer Arbeit und Entwicklung eines alternativen Ökonomiemodells im Kontext von Sozialer Arbeit, Wohlfahrtspflege und Sozialpolitik.
Aufbau und Inhalt des Buches
Das Buch lässt 30 Jahre Beschäftigung der Autorin mit der Ökonomik Sozialer Arbeit Revue passieren. Die Einführung in die Entwicklung einer Ökonomik Sozialer Arbeit aus der Retrospektive rahmt mit dem Schlusswort, das die Konstruktionsprinzipien einer Ökonomik Sozialer Arbeit zusammenfasst, die Auseinandersetzung der Autorin mit dem Verhältnis der Sozialen Arbeit und ökonomischen Ansätzen. In dieser Zeit hat die Autorin in der dritten Auflage mittlerweile ihr grundlegendes Fachbuch Ökonomik Sozialer Arbeit und zahlreiche Aufsätze zu diesem Thema veröffentlicht. Dabei geht es ihr um eine konstruktive Analyse der Ökonomik und ihrer Ansätze und nicht um eine einseitige Kritik der „Ökonomisierung“ oder Verbetriebswirtschaftlichung Sozialer Arbeit.
Mehrere Aspekte ziehen sich wie ein roter Faden durch ihre Forschung: Zunächst greift sie die Besonderheiten Sozialer Arbeit als Dienstleistung – die Immaterialität und die Integrativität – auf, die die neoklassische Grundannahme eines wohl informierten Kunden in Frage stellt und von Informationsasymmetrien und dem Problem der Vertrauensgüter ausgeht. Die ökonomische Analyse stellt darum keine ökonomische Normierung, sondern eine Analyse zum besseren Verstehen Sozialer Arbeit dar. Hinzu kommt die besondere Situation, in der sich das Klientel in der Regel befindet, sodass die klassische Annahme der Konsumentensouveränität nicht haltbar ist. Finis Siegler thematisiert deshalb die Präferenzbildung des Klientels als sozialen Lernprozess. Leistungen der sozialen Arbeit werden deswegen in der Regel nicht auf Märkten koordiniert, sondern als meritorische Güter bedarfsorientiert gesteuert. Im Mainstream der Ökonomik werden meritorische Eingriffe als paternalistische Eingriffe kritisch angesehen und auch Weiterentwicklungen in der Verhaltensökonomie insb. Ansätze von R. Thaler/C. Sunstein: Nudging kontrovers diskutiert. Folglich geht Finis Siegler in vielerlei Hinsicht im Rahmen ihres Konzepts der Meritorik als Baustein einer Ökonomik sozialer Arbeit umfassend darauf ein. Für sie kommt es in der konkreten Dienstleistungsbeziehung (bspw. im Beratungsprozess) uno actu zu Präferenzbildung und Bedarfsspezifizierung beim Klientel. Für sie stellt soziale Arbeit ein emanzipatorisches Projekt der Handlungsbefähigung und Wiederherstellung der Autonomie grundsätzlich entscheidungsfähiger Individuen dar. Meritorik trifft auf ressourcenorientierte, auf Befähigung angelegte Soziale Arbeit. Dieses Zusammenspiel zeigt Finis Siegler in vier Abschnitten auf:
- Fragen der Relevanz einer Ökonomik Sozialer Arbeit für Profession und Studium dargestellt an Aufsätzen zu Herausforderungen für die Soziale Arbeit der freien Wohlfahrtspflege (von 1999), Zielrichtung einer Ökonomik Sozialer Arbeit (1998), Masterstudiengänge zwischen Professionalisierungsgewinn, „Arbeitsmarktorientierung“ und „Mainstream“: Beispiel Sozialmanagement (2003) sowie Ökonomisches Denken in der Sozialen Arbeit (Entwicklungen der professionellen Handlungskompetenz und ihre Bedeutung für die Gestaltung des Studiums. 2000).
- Soziale Arbeit als Teil staatlicher Sozialpolitik fokussiert sich auf die Grundlagen der Sozialökonomie (2012), Soziale Arbeit als Teil bzw. Praxis der gesellschaftlichen Wohlfahrtsproduktion (2008, 2001) sowie in zwei verschiedenen Beiträgen zur (nicht sonderlich gelungenen) Umsetzung des Bildungs- und Teilhabepaketes, insbesondere auch aus steuerungstheoretischer Sicht (2012).
- Sektorspezifische Betrachtungen von Sozialer Arbeit und Sozialwirtschaft: Ein grundlegendes Strukturierungsprinzip für Finis Siegler ist eine Mehr-Ebenen-Analyse: Volkswirtschaft: gesellschaftliche Wohlfahrtsproduktion und kulturelle Wohlfahrtsvorstellungen, Institutionen: Allokation und Distribution privater, öffentlicher und meritorischer Güter zur Bedürfnisbefriedigung zwischen Markt, Staat, Drittem Sektor und Informellem Sektor; Betriebe/​Organisationen Sozialer Arbeit: privat-gewerblich, privat-gemeinnützig, öffentlich, genossenschaftlich; Interaktion: Ebene der Leistungserstellung zwischen Leistungserbringer und Leistungsempfänger; Individuum: Klient:in zwischen Bedürfnisgenese, -artikulation und -befriedigung sowie Präferenzbildung im Prozess sozialer Arbeit. Dieses Mehrebenmodell wendet die Autorin speziell bei ihrer Betrachtung von Nonprofit-Organisationen (NPO) (2001), Genossenschaften (2009) und den Grenzverschiebungen zwischen Markt, Staat und Drittem Sektor in der Sozialwirtschaft (2018) an.
- Die Entwicklungen eines alternativen Ökonomiemodells für Soziale Arbeit stellen die Quintessenz im Denken von Finis Siegler und ihrer alternativen Ökonomie Sozialer Arbeit dar. Die Ansätze zur Differenzierung des sozialwirtschaftlichen Geschehens nach Ebenen nutzt die Mehr-Ebenen Einteilung als sozialwirtschaftliche Heuristik, die Meritorik in der Sozialwirtschaft (2016) postuliert ein anderes Ökonomiemodell für die Soziale Arbeit, das aus dieser Sicht das leistungswirtschaftliche Dreieck interpretiert und die Rolle der Klient:innen als Prosument:innen begründet.
Diskussion
Die Entwicklung einer (alternativen) Ökonomik Sozialer Arbeit durchziehen mehrere grundlegende, sich auch wiederholend präsentierte Zusammenhänge: Das Mehrebenen-Modell, das für jede Ebene Fragen zum Arrangement der Wohlfahrtsproduktion und seiner jeweiligen Besonderheiten stellt, der sozialökonomische Zugang, der von der typisch ökonomischen Annahme der Eigennutzorientierung ausgeht, aber Macht und unterschiedliche Informationsstände (Principal-Agent-Problematik) thematisiert und einer durchaus auch normativ verankerten Meritorik, die Klient:innen helfen soll, ihre eigenen Bedürfnisse zu entdecken, zu artikulieren und bei der Befriedigung zu unterstützen. In sich ist das ein schlüssiges Gedanken- und Theoriegebäude, das helfen soll und kann, Soziale Probleme besser zu verstehen und Lösungen herbeizuführen, ohne grundlegende ökonomische Erkenntnisse einfach zu ignorieren und nachträglich zu wundern, warum bisherige Erklärungsansätze nicht greifen oder von der Sozialen Arbeit Außenstehenden abgelehnt werden.
Trotzdem seien aus ökonomischer Sicht kritische Anmerkungen gemacht: Das Principal-Agent – Problem geht von der Grundannahme aus, dass eigennutzorientierte Individuen und Organisationen (Agenten) Informationsvorteile zum möglichen Schaden ihrer Kundin:innen und Auftraggeber (Principal) ausnutzen. Das muss so nicht sein, kann in der Praxis aber sehr wohl beobachtet werden. In den siebziger Jahren hat bereits die Informationsökonomik der damals (sehr) optimistischen, vorherrschenden Sicht der Ökonomie auf die Macht des Marktmechanismus eine deutliche Absage erteilt. Märkte brechen zusammen bzw. müssen massiv staatlich reguliert werden, wenn Individuen getäuscht werden bzw. aus „falschem“ Verhalten nicht lernen können. Die Meritorik als Schutz kann hier nur bedingt greifen, weil sie ja von der durchaus von Finis Siegler geteilten und realistischen Annahme ausgeht, dass Menschen und Institutionen zuerst an ihren Nutzen denken. Hier stellt sich die Frage, warum die Akteure auf den verschiedenen Ebenen nicht ebenfalls dieses bessere Wissen zu ihrem Vorteil ausnutzen und statt Klient:innen zu helfen sie bspw. instrumentalisieren oder Lösungen aufzwingen, die vor allem anderen, aber weniger den Klienten nützen. Der meritorische Ansatz als normativer Ansatz kann damit durchaus in Frage gestellt werden. Im Rahmen der Ökonomie haben sich unter anderem zahlreiche institutionelle Arrangements entwickelt: Screening: Der Prinzipal „screent“ die Agenten: Bspw. im Personalmanagement durch das Vorlegenlassen eines polizeilichen Führungszeugnisses oder Signalling: Agenten „signalisieren“ ihre Qualität durch Transparenz, Zeugnisse und Fremdevaluation. Das kann man ausdehnen zu einer Forderung, dass Wohlfahrtsorganisationen grundsätzlich öffentlich über die Verwendung ihrer Gelder Rechenschaft ablegen sollten (signalling) oder staatliche Qualitätssiegel erfüllen müssen (screening). Zudem hat sich die Ökonomie ihrerseits
bspw. durch eine stärkere psychologische Fundierung im Rahmen der Verhaltensökonomie weiterentwickelt und mittels Experimente einen deutlich differenzierteren Blick auf Informationsprobleme und Verhaltensweisen geworfen. Dies könnte auch für die Soziale Arbeit weiter fruchtbar gemacht werden und ist mit Finis Sieglers Ansätzen kompatibel.
Fazit
Insgesamt erhält die Leserin/der Leser ein sehr spannendes und anregendes Buch mit vielen Diskussionsangeboten, welches weniger für das Studium als vielmehr für den professionellen Diskurs zur Weiterentwicklung geeignet. Die Aufsätze stammen aus unterschiedlichen Jahren und zeigen die Entwicklung der Diskussionen um eine theoretische Fundierung der Sozialwirtschaft, zu der Beate Finis Siegler maßgeblich beigetragen hat.
Rezension von
Prof. Dr. Georg Kortendieck
Diplom-Volkswirt, Dekan Fakultät Soziale Arbeit, Ostfalia Hochschule Braunschweig-Wolfenbüttel, Langjähriger Leiter mehrerer Bildungsträger, Professor für Betriebswirtschaftslehre im Sozialen Bereich
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Zitiervorschlag
Georg Kortendieck. Rezension vom 29.06.2023 zu:
Beate Finis Siegler: Entwicklung einer Ökonomik Sozialer Arbeit aus der Retrospektive. Springer VS
(Wiesbaden) 2021.
ISBN 978-3-658-33366-9.
Reihe: Perspektiven Sozialwirtschaft und Sozialmanagement.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30732.php, Datum des Zugriffs 23.09.2023.
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