Uwe Mylatz: Freier Wille – freie Wahl
Rezensiert von Prof. Dr. Stefan Godehardt-Bestmann, 25.10.2023

Uwe Mylatz: Freier Wille – freie Wahl. Eine Kritik neurowissenschaftlicher Zugänge zu Willensfreiheit und Determinismus.
Frank & Timme
(Berlin) 2023.
132 Seiten.
ISBN 978-3-7329-0927-8.
D: 24,80 EUR,
A: 24,80 EUR,
CH: 37,20 sFr.
Reihe: Philosophie, Naturwissenschaft und Technik - 14.
Thema
In der reflexiven Moderne (Beck u.a. 1996) wird gefordert, dass das Expert:innensystem in eine demokratisch organisierte öffentliche Sphäre umgewandelt wird, die durch Dialoge geprägt ist (Lash 1996:345). Dies spiegelt sich in der Sozialen Arbeit wider, in der seit bald vier Dekaden ein „Abschied vom Experten“ (vgl. Olk 1986) und der Abbau von Deutungsasymmetrien zwischen Sozialarbeiter:innen und Adressat:innen durch das alltagsweltliche Handlungskonzept (Olk 1986:241) gefordert wird. Wenn es im Kontext des gesamtgesellschaftlichen Individualisierungsprozesses immer schwieriger wird, eine normale Lebensbiografie eindeutig zu definieren und vorherzusagen, wird die Aufgabe der Normalisierung für die Soziale Arbeit äußerst komplex, und es entsteht ein Raum des „Nichtwissens und der Ungewissheit“ (Kade & Seitter 2005:56). Dies erfordert eine grundlegende Veränderung im Selbstverständnis der professionellen Rolle in der Beziehung zwischen Sozialarbeiter:innen und den Adressat:innen. Um die „Inklusionsvermittlung“ (Scherr 1999) für Menschen in benachteiligten Lebenslagen zu realisieren und sie in Richtung eines selbstbestimmteren und gelingenderen Alltags zu unterstützen (Thiersch 1986), ist es von entscheidender Bedeutung, die Stellung der jeweiligen Menschen als aktive Bürger:innen zu stärken. Es darf nicht versucht werden, sie durch vermeintliches Expert:innenwissen zu schwächen oder zu formen. Das eigene Interesse, die Selbstbestimmung und damit der „Wille“ (vgl. Hinte 2007:106ff; Hinte/Treeß 2007:46) der betroffenen Personen werden zu zentralen Faktoren in diesem Kontext. Felix Nuss hat dies im Kontext des Fachkonzeptes Sozialraumorientierung mehrfach herausgearbeitet (bspw. https://www.socialnet.de/lexikon/​Willensfreiheit; https://www.socialnet.de/rezensionen/​29339.php). Ob es einen freien Willen und folglich eine freie Wahl im Leben geben kann, damit befasst sich das von Uwe Mylatz vorgelegte Buch, wobei er jedoch weniger einen Bezug zur Sozialen Arbeit herstellt, als vielmehr eine Auseinandersetzung mit neurowissenschaftlichen Experimenten angeht, die in der Diskussion um Willensfreiheit durchaus einen Stellenwert in der Argumentation bekommen haben.
Autor
Uwe Mylatz hat nach Angaben des Verlags Philosophie, Informatik und Mathematik studiert, an der Leuphana Universität Lüneburg Informatik unterrichtet und an der Fernuniversität in Hagen 2007 über ein Thema der theoretischen Informatik promoviert. Neben der beruflichen Beschäftigung mit Funktionen in der Analysis hat ihn die Philosophie nie ganz losgelassen. Nach Abschluss des Master-Studiengangs „Philosophie im europäischen Kontext“ liegen seine Interessen u.a. bei der Freiheitsdebatte, der Philosophie des Geistes, den Qualia und bei Gedankenexperimenten.
Aufbau und Inhalt
Das eher kurz gehaltene Buch beginnt mit einer knappen Einleitung zu Thema, Motivation und Aufbau der Ausführungen und klärt dann zunächst die zwei zentralen Positionierungen zum Aspekt der Freiheit zwischen dem sogenannten Kompatibilismus, der Determinismus und Freiheit für vereinbar hält, und dem Inkompatibilismus, der dies als ein Vereinbarkeitsproblem beschreibt. Dem folgen kompakte Ausführungen zu ‚minimalistischen Freiheitsbegriffen‘ (S. 21) nach Walter bzw. Pauen. Daran anschließend werden die verschiedenen ‚neurowissenschaftlichen Experimente zur Willensfreiheit‘ (S. 27) nach Libet, Haggard & Eimer, Haynes sowie Herrmann skizzierend vorgestellt. Im 5. Kapitel folgen nun zunächst ‚freiheitsverneinde Interpretationen der neurowissenschaftlichen Experimente (S. 45) nach Roth, Prinz und folgend sehr kompakt nach Singer gebündelt, um folgend in Kapitel 6 zunächst die ‚Kritik an den Methoden der neurowissenschaftlichen Experimente‘ (S. 55) sowie anschließend die ‚Kritik an philosophischen Folgerungen aus den neurowissenschaftlichen Experimenten‘ (S. 65) auszuführen. In Kapitel 8 werden ‚kompatibilistische Deutungsalternativen der Experimente‘ (S. 77) durchaus etwas ausführlicher formuliert sowie um kurze Benennungen zu ‚weiteren Aspekten der Freiheitsdebatte‘ (S. 111) ergänzt. Abschließend wird ein Fazit formuliert, um die vorherigen kritischen Perspektiven auf einen formulierbaren Ausblick zum ‚freien Willen zu bringen: „Ein Fehler vieler Deutungen liegt darin, dass ein freier Wille ein bewusster Eingriff in deterministische Abläufe sein soll und dass durch einen Willensimpuls Handlungen initiiert werden sollen“ (S. 116). Nach Mylatz geht es hingegen mit Bezug auf Goschke eher darum, „verschiedene Aktivitäten, sowohl bewusste als auch unbewusste, zu modellieren“ (S. 116). Es werden im Weiteren dann zentrale Aspekte der ‚Gefährdung der Freiheit‘ (S. 117) diskutiert, um mit Bezug auf Walter und Pauen zu formulieren, „dass es nicht um die Frage geht, ob wir frei sind oder nicht, sondern wie frei wir sind“ (S. 120).
Das Buch abschließend gibt es einen kurzen, gleichwohl bedeutsamen Verweis auf Peter Bieri, um aus diesem Diskurs eine handlungspragmatische Ebene abzuleiten: „Die sprachliche Artikulierung meines Willens hilft, mir über meinen Willen klar zu werden und langfristige Ziele festzulegen. Das Verstehen sorgt dafür, dass ich erkenne, ob ich hinter meinen Wünschen und Entscheidungen stehe, oder ob sie eigentlich für anderes stehen, was ich mir nicht eingestehe. Schließlich muss ich den Willen, den ich entwickle, bewerten. Entspricht mein Wille wirklich meinem Selbstbild? Der freie Wille ist also etwas, woran man arbeiten muss“ (S. 121).
Diskussion
Wohl auf der Ausarbeitung einer erfolgreich abgeschlossenen Masterthesis ist dieses Büchlein erschienen. Es bietet aufgrund des kompakt gehaltenen Umfangs einen relativ schnell zu lesenden Zugang zu einer gerade auch für die Soziale Arbeit hoch relevanten Fragestellung, ob und inwieweit eine Willensfreiheit und damit auch eine freie Wahl im Leben von uns Menschen besteht. Sicherlich könnten die Verweise auf die neurowissenschaftlichen Experimente sowie die philosophischen Ableitungen daraus jeweils tiefergehender ausgeführt und breiter aufgestellt diskutiert sein. Ebenso besteht kein wirklich unmittelbarer Verweis in den Ausführungen zu konkreten Bezügen in der Alltagsbewältigung von Menschen, wenngleich der Autor bezogen auf die Formulierung des Freiheitsbegriffs an die Philosophie appelliert, sich „an einem alltagssprachlichen Gebrauch“ (S. 10) zu orientieren, was ihm durchaus selbst zumindest größtenteils zu gelingen scheint. Ebenso wären transdisziplinäre Bezüge und Reflexion ausgesprochen wünschenswert für eine tiefere Auseinandersetzung. All das schmälert aber nicht die anregenden Aspekte und Reflexionsmöglichkeiten der insbesondere im Fazit abgeleiteten Thesen des Autors: „Die neurowissenschaftlichen Experimente liefern keinen Beweis dafür, dass wir keine Willensfreiheit haben. Aber die sozial-psychologischen Experimente zeigen empirisch, dass unsere Freiheit gefährdet ist. Zum Glück haben wir die Fähigkeit, uns dieser Gefährdung bewusst zu sein und den Einschränkungen entgegenzusteuern“ (S. 120).
Fazit
Es handelt sich um ein durchweg lesenswertes, philosophisches Büchlein mit unkomplizierten Zugängen zu einer kritischen Betrachtung der benannten neurowissenschaftlichen Experimente, aus denen zumindest teilweise abgeleitet wurde, dass die Idee eines freien Willens aufgrund ihrer wissenschaftlichen Untersuchungen nicht vereinbar scheint. Durch die differenziert argumentierende Herleitung zur Klärung eines „kohärenten Begriff der Willensfreiheit“ (S. 115) gelingt es dem Autor durchaus, einen geerdeten und pragmatisch handbaren, wenngleich eben nicht naiven Bezug zur Freiheit und damit zur Willensfreiheit herzustellen als „ein graduelles Phänomen, eine Fähigkeit, an der wir arbeiten müssen“ (S. 120).
Literatur
Beck, Ulrich/​Giddens, Anthony/Lash, Scott: Reflexive Modernisierung – eine Kontroverse. Frankfurt a.M.
Hinte, W. (2007): Das Fachkonzept „Sozialraumorientierung“. In: HALLER,D./HINTE, W.; KUMMER,B. (Hg): Jenseits von Tradition und Postmoderne – Sozialraumorientierung in der Schweiz, Österreich und Deutschland, Weinheim, S. 98–115
Hinte, W./Treeß, H. (2007) Sozialraumorientierung in der Jugendhilfe, Weinheim.
Kade, Jochen/​Seitter, Wolfgang (2005): Jenseits des Goldstandards – Über Erziehung und Bildung unter den Bedingungen von Nicht-Wissen, Ungewissheit, Risiko und Vertrauen. In: Helsper, W./Hörster, R./Kade, J. (Hg): Ungewissheit – Pädagogische Felder im Modernisierungsprozess. 2. Aufl. Weilerswist. S. 50–72
Lash, Scott (1996): Expertenwissen oder Situationsdeutung? Kultur und Institutionen im desorganisierten Kapitalismus. In: Beck, Ulrich/​Giddens, Anthony/Lash, Scott: Reflexive Modernisierung – eine Kontroverse. Frankfurt a.M. S. 338–364
Mollenhauer, K. (1968) Erziehung und Emanzipation, München
Olk, Thomas (1986): Abschied vom Experten. Sozialarbeit auf dem Weg zu einer alternativen Professionalität. Weinheim-München
Schaarschuch, Andreas (2003): Die Privilegierung des Nutzers. In: Olk,Thomas/Otto, Hans-Uwe(Hg): Soziale Arbeit als Dienstleistung – Grundlegungen, Entwürfe und Modelle. München S. 150–169
Scherr, Albert (1999): Inklusion/​Exklusion – Soziale Ausgrenzung – Verändert sich die gesellschaftliche Funktion der Sozialen Arbeit? In:
Thiersch, Hans (1986): Die Erfahrung der Wirklichkeit. Perspektiven einer alltagsorientierten Sozialpädagogik. Weinheim und München
Rezension von
Prof. Dr. Stefan Godehardt-Bestmann
Professor für Soziale Arbeit im Fernstudium an der IU Internationale Hochschule und Studiengangleiter sowie seit 2000 in freier Praxis als Sozialarbeitsforscher, Praxisberater und Trainer tätig [www.eins-berlin.de].
Schwerpunkte: Sozialraumorientierte Soziale Arbeit, Inklusion, Partizipation, Gesundheitsförderung von Kindern und Jugendlichen, Lösungsfokussierter Beratungsansatz, Inklusion, Partizipation, Organisationsentwicklung, Personalentwicklungsmaßnahmen in Organisationen Sozialer Arbeit, Gestaltung von Qualitätsmanagementprozessen, partizipative Praxisforschungen und Evaluationen.
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Zitiervorschlag
Stefan Godehardt-Bestmann. Rezension vom 25.10.2023 zu:
Uwe Mylatz: Freier Wille – freie Wahl. Eine Kritik neurowissenschaftlicher Zugänge zu Willensfreiheit und Determinismus. Frank & Timme
(Berlin) 2023.
ISBN 978-3-7329-0927-8.
Reihe: Philosophie, Naturwissenschaft und Technik - 14.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30734.php, Datum des Zugriffs 11.12.2023.
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