Tünde Katona: Von Lebenden und Toten
Rezensiert von Dr. Alexander Brandenburg, 28.06.2023
Tünde Katona: Von Lebenden und Toten. Medien der Gedächtnisbewahrung in der Frühen Neuzeit in Ungarn.
Frank & Timme
(Berlin) 2023.
244 Seiten.
ISBN 978-3-7329-0803-5.
D: 39,80 EUR,
A: 39,80 EUR,
CH: 59,70 sFr.
Reihe: Geschichtswissenschaft - 39.
Thema
Gemeinsame Ansichten über die Ereignisse der Vergangenheit und über die Gestaltung der Zukunft sind für das Zusammenleben in einer Gemeinschaft bis heute wichtig. Solche eine Gesellschaft stärkenden Gemeinsamkeiten fallen aber nicht vom Himmel, sondern entwickeln sich auf den spezifischen Boden einer geteilten Geschichte und des Zusammenlebens in einer Gegenwart. Auch die Frage, wie die Zukunft gestaltet werden soll, kann letztendlich nur auf dem Boden von Gemeinsamkeiten beantwortet werden.
Die kulturellen Techniken, mit denen sich eine Gesellschaft ihrer Gemeinsamkeiten zu versichern weiß, unterliegen allerdings dem Wandel der Zeiten. Doch alle Zeiten haben sich wohl stets damit beschäftigt, wie Erinnerung als Quelle der Stärke genutzt werden kann.
Im frühneuzeitlichen Ungarn des 16. bis 18. Jahrhunderts spielt in den dortigen kleineren deutschen Gemeinschaften vor allem die Erinnerung an die Toten – memoria – eine ganz besondere, die Gesellschaft stärkende und insbesondere auch die Normen der Lebenden bestimmende Rolle.
Am Beispiel der Auswertung von Leichenpredigten, Stammbucheinträgen und Rechnungsbüchern, die von humanistisch gebildeten Christen aus verschiedenen sozialen Schichten abstammen und in schriftlicher Form vorliegen, werden das kulturelle und historische Selbstverständnis ihrer Verfasser sowie der Zweck ihrer gemeinschaftlichen Sinnstiftung deutlich. Aus der mit dem regelmäßigen Totengedenken verbundenen Vergegenwärtigung des Vergangenen gewinnen sie Kraft für ihr eigenen Zusammenhalt und Prägungen für ein gemeinsames Tun und Handeln.
Leichenpredigt, Stammbuch Rechnungsbücher
Zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert wurden im protestantischen Raum Leichenpredigten – im engeren historischen Sinn eine Trauerschrift für einen Verstorbenen – verfasst. 300.000 derartige Leichenpredigten sind für den deutschsprachigen Raum überliefert.
Die Geschichte des Stammbuches beginnt zurzeit der Reformation. Studenten legten ihrem Lehrer eines seiner gedruckten Werke vor und baten um einen Eintrag. Zur gleichen Zeit wurde es in Adelskreisen üblich Besucher um einen Eintrag in ein Buch aus dem Besitz des Adeligen zu bitten.
Rechnungsbücher gewähren einen Einblick in das Finanzaufkommen und die Ausgaben.
Autorin
Dr. phil. Tünde Katona hat Germanistik und Geschichte an der József-Attila-Universität in Szeged (Ungarn) studiert. Sie ist dort Dozentin am Institut für Germanistik. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Gebrauchs- und Gelegenheitsliteratur, Bildungsgeschichte sowie Literatur- und Kulturgeschichte der Deutschen im Karpatenbecken in der Frühen Neuzeit.
Wie aus dem Literatur- und Quellenverzeichnis hervorgeht, hat Tünde Katona zahlreiche Arbeiten zu der Thematik der Erinnerungskultur der Frühen Neuzeit in Ungarn verfasst.
Aufbau und Inhalt
In der Einleitung stellt die Autorin ihre Arbeit in den Zusammenhang des Konzepts der Erinnerungskultur, die schon seit langem Bestandteil der Kultur -und Mentalitätsgeschichte ist. Ihre Aufmerksamkeit richtet sie auf die Ausformungen der vis -der Kraft und Macht- von memoria- Erinnerung/Gedächtnis. Dabei ist es von besonderer Bedeutung, dass in der untersuchten Periode die Gedächtniskultur von ihren symbolischen Formen in die Schriftform übergeht und neue Gesellschaftsschichten erreicht. Mit Rechnungsbüchern, Leichenpredigten und Stammbucheinträgen liegen Dokumente vor, die befragt und ausgewertet werden können. Die Interpretation soll Einblick in die Art und Weise der „bewusst vollzogenen Vergegenwärtigung des Vergangenen“ geben.
In dem Kapitel Gemeinsame Geschichte wird kritisiert, dass das einschlägige Schrifttum maßgeblicher Ethnien wie die Siebenbürger Sachsen in einer grundlegenden Publikation über die ungarische Literaturgeschichte und dort in einem „Historie, Erinnerung, Selbstbekenntnis“ überschriebenen Teilabschnitt über das 16./17 Jahrhundert nicht angemessen beachtet wird. Ein weiterer Schwerpunkt liegt in der Darstellung des Wirkens von Michael Siegler, einem Hermannstädter Pfarrer und Notar (gestorben 1585), der zwei Arbeiten hinterließ: Tabulae und Chronologia.
Eine Stadt wird zum Mäzen ist der nächste Abschnitt überschrieben. Bei dieser Stadt handelt es sich um Leutschau- eine herausragende Repräsentantin der oberungarischen deutschen Städte. Alexius Thurzó (1490-1543) sorgte mit seinem Testament dafür, dass die Stadt über ein Jahrhundert in der Lage war, Hilfsbedürftige zu unterstützen, Gelehrte zu fördern und so das geistige Zentrum der Zips und eines der wichtigsten Zentren des Königreichs Ungarn zu werden. Das Testamentbuch, Grundschriften und Jahresabrechnungen zeugen von dem Erfolg der Stiftung. In einer ausführlichen Fallstudie über Stephanus Zylander wird sein Aufstieg vom einfachen mittellosen Bürgersohn zu einer der wichtigsten Persönlichkeiten der evangelischen Kirche in Oberungarn eindrucksvoll beschrieben und der Erfolg der Thurzó-Stiftung bewahrheitet.
Das folgende Teilstück Leichenpredigten-gesprochen, gedruckt, gelesen thematisiert folgende Predigten:
Untersucht wird u.a. eine auf ungarischem Gebiet entstandene deutschsprachige Leichenpredigt für eine Bürgersfrau aus dem 17. Jahrhundert. Dabei wird der Drang nach memoria, also das grundsätzliche menschliche Bedürfnis, nach dem Tode in der Erinnerung der Nachwelt zu bleiben, nicht nur für die Verstorbene, sondern auch für den Prediger nachgewiesen.
Der Leutschauer Prediger Peter Zabler (1578-1642) hat in seinem Nachlass zwei Predigten übermittelt: die Leichenpredigt auf Stephan Xylander und eine Leichenpredigt, die Zabler zur Erinnerung an Stanislaus Thurzó den Palatin von Ungarn verfasst und in Kaschau 1626 vorgetragen hat.
Es folgt ein Kapitel über die Spielarten der memoria-Praxis im Stammbuch:
In Zeiten, in denen die eigene Religion unter steten Angriffen stand, wird das ursprünglich leitende Mittel der persönlichen gegenseitigen Verehrung in frömmigkeitsstärkendem Sinne funktionalisiert. Alle Einträge entstehen auch unter dem Zeichen und im Bewusstsein, dass allen, die außer dem Halter noch ein Blick ins Stammbuch werfen, eine Botschaft vermittelt wird.
Von besonderer Bedeutung sind die Stammbücher von Johannes Simonides (1648-1708) und Tobias Masnicius (1640/49? - 1697). Die Laufzeit des Stammbuches von Simonides beträgt 30 Jahre, die von Masnicius 23 Jahre. Sie mussten wegen ihres Glaubens harte Restriktionen erleiden. Es wundert daher nicht, wenn beide Glaubensgenossen mit ihren Stammbüchern eine memoria der verfolgten Protestanten errichten wollten. Es entwickelte sich eine Diskursgemeinschaft, die sowohl synchron als auch diachron ihre Wirkung ausübte.
Die im Internet zugängliche Datenbank „Inscriptiones Alborum Amicorum“ (IAA) stellt repräsentative Ergebnisse der in Szeged tätigen Forschungsgruppe dar. Miklós Latzkovits initiierte dieses Projekt, das seit 2003 besteht und einen umfassenden Einblick in eine spezielle Gruppe von Stammbucheinträgen des 16./18. Jahrhunderts: Die von Ungarn aus ins Ausland ziehenden Studenten verschiedener Konfessionen hinterließen während ihrer peregrinatio academica Spuren formeller wie sehr lebhafter und langandauernder Kontakte.
In der Folge werden Beispiele aus dem als Zeit der studentischen Alben geltenden 18. Jahrhundert vorgestellt und ausgewertet.
Wie der Anhang des letzten Kapitels zeigt, handelt es sich um ein Arbeitsbuch. Wer sich für die in den Texten erwähnten Materialien interessiert, findet auf 85 Seiten dort die zentralen Texte -überwiegend in deutscher oder -vereinzelt- in lateinischer Sprache- wieder.
Das Literatur- und Quellenverzeichnis macht deutlich, wie produktiv und lebendig diese ungarische Erforschung der Gedächtnisbewahrung in der frühen Neuzeit ist.
Diskussion
Solche Forschungen dürften ein Kontrapunkt zu der immer mehr von Geld und Nützlichkeit redenden und von zuweisenden Gremien bestimmten Forschungen sein. Man darf die Wissenschaften nicht nur für einen pekuniären Zweck und der Machbarkeit instrumentalisieren. Forschungen wie die Suche nach dem Gespräch zwischen Toten und Lebenden als Akt der Wegweisung können uns viel über uns und unsere Gesellschaft erzählen. Warum zerfällt unsere Gesellschaft in voneinander weitgehend isolierte Personen, die von jeder Vergangenheit abgetrennt sind? Die Gegenwart frisst unser Gedächtnis auf und die Medien liefern die Leere.
Fazit
Unvergessen bleibt der, dem Erinnerung widerfährt. In der Zeitspanne der frühen Neuzeit in Ungarn sind der christliche Gott mächtig und Gemeinsamkeiten des Lebens notwendig. Beide gewährleisten eine enge Verzahnung der Toten mit den Lebenden, wie Tünde Katona nachweist. Unsere auf Jenseitsvorstellungen verzichtende und auf ein atomisiertes Leben ausgerichtete Gesellschaft braucht keine Gedächtnisbewahrung, sondern möglichst Tage des Gedächtnisses als Freizeit.
Rezension von
Dr. Alexander Brandenburg
Leiter der Abteilung Gesundheitsförderung und Gesundheitsplanung bei der Stadt Herne
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Zitiervorschlag
Alexander Brandenburg. Rezension vom 28.06.2023 zu:
Tünde Katona: Von Lebenden und Toten. Medien der Gedächtnisbewahrung in der Frühen Neuzeit in Ungarn. Frank & Timme
(Berlin) 2023.
ISBN 978-3-7329-0803-5.
Reihe: Geschichtswissenschaft - 39.
In: socialnet Rezensionen, ISSN 2190-9245, https://www.socialnet.de/rezensionen/30735.php, Datum des Zugriffs 19.09.2024.
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